Mr. 292.

Dienstag, den 14. Dezember 1886.

3. Jahrs

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)

Redaktion: Beuthstraße 2. 2.­

Aus einem Musterstaat. Bekanntlich wurde Belgien stets mit Vorliebe als das Muster eines Industriestaats bezeichnet, ein Ausdruck, den wir nur insofern ernst nehmen können, als in diesem Lande in der That am deutlichsten sich gezeigt bat, zu welchen Konsequenzen der moderne Privatindustria lismus führt, dessen Tendenz eine möglichst weitgehende und billige Ausnußung der menschlichen Arbeitskraft ist. Die von der bekannten Arbeitskommission angestellten Unter­suchungen haben diesen Musterstaat" von einer Seite gezeigt, wo er niemand mehr angenehm erscheinen konnte und mancher belgische Staatsmann, der seine Thatkraft und sein Leben in dem öden Kampfe zwischen Liberalismus und Ultramontanismus verzehrt hat, mag vielleicht doch nach und nach zu der Einsicht kommen, daß dem Lande weder ein liberales noch ein ultramontanes Partei­regiment, sondern eine Regierung noth thut, welche ihr Augenmerk endlich auf die ökonomischen Verhältnisse richtet. Der inhaltslose Ronstitutionalismus, dessen sich die belgischen Liberalen so sehr rühmten, war ein Spielzeug der belgischen Bourgeoisie; die Arbeiter empfanden nichts von feinen angeblichen Wohlthaten, und innerhalb dieser geprie­fenen Verfassung sah man Zustände sich heranbilden, die bei fühlenden Menschen Schauder erregen mußten. Die herr­schenden Klassen, welche allein die Frucht der Revolution von 1830 gepflückt hatten, verschlossen ihre Ohren gegen den Sturm von Klagen, Beschwerden und Verwünschungen, der aus den Arbeiterkreisen kam; sie hielten den Arbeiter nicht für ein vollberechtigtes Glied des Staatskörpers. Seit den letzten Ereignissen hat sich dies einigermaßen geändert und die Aufmerksamkeit der Regierung und der Gesetzgebung hat sich etwas auf die ökonomischen Verhältnisse gelenkt. Von da bis zu wirklichen, positiven Maßregeln ist freilich noch ein weiter Weg. Wir haben früher schon an dieser Stelle uns dahin ausgesprochen, daß von wirklicher ,, Sozialreform" von oben herab in Belgien wenig zu erwarten sei. Die Thatsachen haben unsere Anschauung vollauf bestätigt.

Die Enthüllungen der Arbeitskommission fonnten nur den überraschen, der von den modernen Arbeiterverhältnissen nichts wußte. Wenn man bei uns ähnliche Untersuchungen anzustellen sich entschließen könnte, so würden die Resultate nicht sehr verschieden sein. Die herrschenden Klassen stellten fich, als ob sie von den Zuständen in den Industriebezirken Belgiens nichts gewußt hätten. Nun können sie zwar nicht mehr leugnen, daß sie dieselben kennen, aber zur Abhilfe ist bisher nichts, gar nichts geschehen.

Der berühmte Professor Laveleye hatte zwar ein Programm aufgestellt, nach dem er den ökonomischen Miß­ständen zu Leibe gehen wollte, aber es blieb auch bei dem

Rachbruck verboten.]

Feuilleton.

Die Verführerin.

Novelle von D. Colonius.

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Die eigenthümliche Lage, in der ich mich hier be­finde," sprach die Dame im Tone würdevoller Sicherheit, muß mein etwas auffallendes Benehmen Ihnen gegenüber rechtfertigen. Ich hätte auch nicht gewartet, bis der Bufall Sie mir zugeführt, sondern Sie schriftlich um eine Unter­redung gebeten, wenn mir Ihre Wohnung oder auch Ihr Name bekannt gewesen wäre." Nach einer fleinen Pause fügte sie hinzu: Ich bin Baronesse von Danow und wenn ich nicht irre, gehören wir einer Heimath an."

" Ich nenne mich Nudolph Schwarz und bin ein Desterreicher," erwiderte der junge Mann mit gesteigerter Verlegenheit.

Die Baronesse lud ihn mit einer leichten Handbewegung ein, sich ihr gegenüber niederzulassen, und sagte mit freund lichem Lächeln: Ich hätte Sie schon während unseres flüch tigen Beifammenseins auf der Bahnstrede nach Dresden er­fucht, mich, wenn es Ihre Verhältnisse erlauben, hierher zu begleiten, doch schienen Sie mir absichtlich auszuweichen, und doch wußte ich es, Herr Schwarz," das Weitere sprach sie etwas gedehnt und mit vielbedeutendem Tone ,, daß wir mit demselben Buge hier oder, wenn ich noch weiter gereift wäre, auch an einem anderen Orte angelangt

wären."

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Gnädige Frau, ich kann mir Ihre Worte nicht er­Hären," stotterte ber junge Mann.

Ich weiß, daß das Biel meiner Reise auch das Ihre gewesen ist," fügte die Baronesse, ihren vorigen Sah er­gänzend hinzu, und Sie thäten gut daran, wenn Sie sich nicht weiter verstellen und mir eine sehr peinliche Einleitung ersparen wollten."

Und darf ich fragen, was Sie, meine Gnädige, ver­anlaßt, mich hierher zu berufen?" fragte Rudolph halb aus­weichend, halb zugestehend.

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Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Naum 40 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bel größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Zimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen.

Expedition: Zimmerstraße 44.

Programm. Dieser so bedeutende Gelehrte fam in seinem Programm auch nicht weiter, als zu einem peinlich ärmlichen Abklatsch der in Deutschland von oben herab eingeleiteten Sozialreform. Wenn sich, wie es den Anschein hat, die Weisheit der europäischen Regierungen in dieser in dieser Sozialreform" erschöpft hat, dann sieht es schlimm aus.

"

Nun haben die treisenden Berge in Belgien endlich die Maus geboren, die mit so viel Spannung erwartet worden ist, es fommt ein Gesetz gegen das Trucksystem. Das industrielle Musterland hatte nämlich allen jenen Praktiken, durch die dem Arbeiter der Lohn verkürzt werden kann, bisher freien Lauf gelassen und die Auszahlung des Lohnes in Waaren hatte einen Umfang angenommen, der uns in Deutschland fabelhaft erscheinen mußte. Aus den Aus­sagen, die vor der Kommission gemacht wurden, ergab sich, daß Unternehmer, die ihre Arbeiter statt mit baarem Geld mit Lebensmitteln auszahlten, diese Lebens­mittel zu doppelten Preisen anrechneten; der Arbeiter mußte bei ihnen um 100 Prozent theurer kaufen, als auf dem Markte. In jedem anständigen Gemeinwesen wäre man gegen diesen Unfug längst eingeschritten; im industriellen Musterland" unterließ man es. Das ist be zeichnend genug.

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Die herrschenden Klassen in Belgien werden, das ist unsere Ueberzeugung, eine wirksame Sozialgefeßgebung um jeden Preis verhindern. Sie haben sich auf ein Niveau hinabkonkurrirt, wo sie untergehen müssen, sobald man ihnen die freie Konkurrenz" beschränkt; darum mehren sie sich so sehr. Die Aufhebung des Trucksystems Die Aufhebung des Trucksystems wird von ihnen schon als ein ungeheures Opfer betrachtet werden.

Man sieht aus diesen Dingen ganz klar, wer die eigentliche staatszerstörende und unterwühlende Gewalt in unseren Tagen ist. Es ist nicht der politische Radikalismus, es ist der Industrialismus, der ohne alle Rücksicht auf das Ganze nur seine eigenen Interessen wahrt und für den der Begriff des Gemeinwohls gar nicht eristirt. Um den Profit höher zu schrauben, werden große Völker entnervt und ihre Lebenshaltung so hinabgedrückt, daß sie nur eine schwächliche und ungesunde Nachkommenschaft er­zeugen fönnen. Die tolle Jagd nach Profit tritt Alles meder, Bildung, Kunst, Familienleben und Gesundheit. Dieser Industrialismus hat es bisher sehr gut verstanden, seine Schuld auf den Radikalismus abzuwälzen; nachgerade aber fängt man an zu begreifen, wer es ist, der jedes Ge­meinwesen untergräbt und alle gesunden Grundlagen ver­nichtet. Das Musterland" zeigt dies zur Evidenz; möge man seine Lehren daraus ziehen!

Beantworten Sie mir zuerst eine Frage, und wenn Sie es unumwunden thun, so erkläre ich mich bereit, Ihnen Rede zu stehen. Nicht wahr, Sie sind hier, um mich zu beobachten und über mein Thun und Lassen Ihrem Freunde zu berichten?"

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Ja, gnädige Frau."

" Nun gut, ich wollte nichts anderes, als Ihnen viele Mühe ersparen, und stelle es Ihnen frei, über jede meiner Handlungen mich selbst zu befragen, wenn Ihnen eine oder Es ist Ihre Aufgabe, mich die andere unerklärlich wäre. zu beobachten, gut, thun Sie dies, aber nicht aus der Ferne, Sie könnten durch Nebelgestalten betrogen werden; besuchen Sie mich, so oft es Ihnen gefällt, Sie werden immer will kommen fein und überdies dadurch einen doppelten 3weck erreichen, indem Sie erstens im Sinne Antonio's handeln und zweitens mir die Zeit verkürzen helfen.

oder

zu

Diese Worte sprach die Baronesse in so freimüthigem ihr zu zu mißtrauen Tone, daß es unmöglich war, Rudolph, widersprechen. der kaum das Jünglingsalter überschritten hatte er mochte etwa 22 Jahre zählen sah in dem Anfinnen der Klugen Dame nichts als ein 3eichen des höchsten Seelenadels; dennoch aber war er unschlüssig, was er thun sollte, und fragte nach kurzem Ueberlegen, ob er auch mit seinem Freunde über diesen Punkt berathen dürfe, bevor er zu handeln beginne.

-

Wenn Sie Antonio zu Rathe ziehen wollten," er­widerte die Baronesse mit ernstem Lächeln, so hätten Sie eigentlich nichts anderes gethan, als eine indirekte Korespon­benz zwischen mir und ihm vermittelt, und Sie werden, falls Sie durch ihn von unserem Verhältnisse unterrichtet sind, leicht einsehen, daß dies weder in meiner noch in seiner Absicht liegen könnte."

Ich weiß, daß Sie mit einander gebrochen haben; mein Freund aber hat mir nur seine Entschlüsse, nicht aber die Motive derselben mitgetheilt und-"

,, Sie wollen dieselben jetzt aus meinem Munde kennen lernen, nicht wahr? Ich meinestheils würde meinem Freunde sagen, warum ich so und nicht anders handle, weil ich meine Entschlüsse nur einem solchen Menschen mittheilen würde, zu dem ich Vertrauen haben kann, den ich mir ebenbürtig

Aus der Militärkommiffion.

Die vierte Sigung der Reichstagskommission zur Berathung der Militärvorlage wurde gestern Vormittag 10 Uhr eröffnet.

Abg. Windthorst sprach sein lebhaftes Bedauern darüber aus daß trop des von vielen Seiten ausgesprochenen dringen den Wunsches die verbündeten Regierungen feinerlei Auskunft gegeben haben über die politische Lage in Europa . Das zeige Mangel an Vertrauen zum Parlament. Ueberhaupt habe in den konstitutionellen Staaten feine andere parlamentarische Körperschaft in auswärtigen Angelegenheiten eine so eigenthüm­liche und gering gefchäßte Stellung wie der Deutsche Reichstag. Von diesem Gesichtspunkte aus werde er zur Regierungsvorlage Stellung nehmen.

Kriegsminister Bronsart von Schellendorff erwiderte hierauf( ungefähr wörtlich) folgendes: Erklärungen der verbün­deten Regierungen in Bezug auf unsere auswärtigen Beziehun gen fönnen nur in verantwortlich festgestelltem Wortlaut abge­geben werden und nichts enthalten, was nicht auch in öffent­licher Sigung amtlich erklärt werden könnte. Auch wenn der Reichskanzler in Berlin anwesend wäre, würde er nicht in der Lage sein, Dor der Kommission Erklärungen über die Beziehungen anderer Staaten zu und unter einander abzugeben, welche nicht schon bekannt wären, weil weitergehende Dar legungen über intimere Beziehungen und die mögliche Politik Friedenspolitit, welche wir treiben, zu erschweren und zu der einzelnen Mächte nicht gegeben werden können, ohne die schädigen. Die Situation ist nicht soweit gereift, um von deutscher Seite amtlich und öffentlich besprochen zu werden. Wenn die öffentlich bekannten, von den verbündeten Re­gierungen als zwingend angegebenen Gründe für die Militär­vorlage, sowohl nach der militärischen als nach der politischen Seite hin, der Kommission nicht genügen sollten, so könne gleichwohl der Herr Reichskanzler ihnen aus dem Gebiete der bisher nicht öffentlich bekannten diplomatischen Situation nichts hinzufügen, was gegenwärtig ohne Schaden für unsere aus­wärtigen Beziehungen und für den allgemeinen Frieden gesagt werden könnte.

Abg. Dr. Bamberger hält die Gefahr, melche von außen droht, für eine permanente. Gleichwohl habe diese Gefahr auf ihn niemals einen besonderen Eindruck gemacht, soweit fie von Man überschäße die chauvinistischen Er­Westen drohe. Scheinungen, die in Frankreich zu Tage treten. Aus Deroulède mache man unberechtigterweise einen einfluß­reichen Mann, ebenso wie die Franzosen gleichfalls viel zu viel Ge wicht legen auf Aeußerungen, die im öffentlichen Leben in Berlin fielen. Abg. Dr. Bamberger desavouirte sodann den Ausdruck, den er angeblich nach Berichten von Beitungen gemacht habe; er habe nicht von Abrüstung gesprochen, das sei ein Mißver ständniß. Er habe vielmehr gesagt, daß eine Aufrüstung fich nicht weiter empfehle, und daß, wenn Deutschland jett weiter aufrüste. die Folge davon sein würde, daß die anderen Staaten gleichfalls weiter rüsten, und darin müsse, wie ja auch aus der Aeußerung des Grafen Moltke zu entnehmen fei, eine Kriegsgefahr erblickt werden.

halte. Toni hingegen ist ein schroffer, verschlossener Charakter, der für seine Handlungsweise keinen anderen Grund hat als seinen Willen."

,, Verzeihung, gnädige Frau! Sie haben meine vorigen Worte vielleicht unrichtig gedeutet. Ich weiß es, daß mir Antonio in allen Stücken weit überlegen ist, und ich habe volles Vertrauen zu seiner Rechtlichkeit sowohl wie zu seiner Tüchtigkeit, deshalb auch ist er der einzige Mann, dem ich gehorchen könnte; andererseits aber bin ich überzeugt, daß er mir jede seiner Handlungen offen darlegen, die Richtigkeit Daß er mir bisher jede seiner Anfichten beweisen könnte. keinen tieferen Blick in sein Verhältniß zu Ihnen gestattete, erkläre ich mir durch den Umstand, weil es nicht sein Ge­heimniß allein, weil auch das Ihrige mit verflochten war, welches letztere ich zu erfahren kein Recht hatte. Wenn ich jetzt die näheren Umstände dieses Verhältnisses und seiner plöglichen Lösung zu wissen wünschte, so wäre es nur, um mir erklären zu erklären zu können, warum Sie, gnädige Frau, meinem Freunde noch immer so hohes Recht über fich einräumen."

" Hohes Recht?"

" Sa, indem Sie mir, dessen Aufgabe es ist, Sie zu beobachten, gestatten, dies in Ihrer unmittelbaren Nähe thun zu dürfen."

Vergessen Sie nicht, Herr Schwarz, daß ich Ihrem Freunde gar kein Recht einzuräumen gesonnen war und daß ich hierin eine scharfe Grenze zwischen Ihrer Persönlichkeit und Ihren persönlichen Beziehungen zog. Thun Sie, was Sie für recht finden, und wenn Sie Marrschalet schreiben, daß ich Sie einlud, mir in meiner traurigen Einsamkeit Ge sellschaft zu leisten, wird er flug genug sein, einzusehen, daß ich in Ihnen nicht ihn in meiner Nähe zu haben wünschte, sondern

Die Baronesse hielt plößlich inne, als fürchte fie, schon zu viel gefagt zu haben. Sie sah den jungen Mann, der niedergeschlagenen Blickes vor ihr saß, forschend an, als fuchte sie ihm seine Gedanken von der Stirn abzulesen. Ein halb zufriedenes, halb mitleidiges Lächeln war für einen Moment auf ihren Lippen sichtbar, aber auch nur für einen Moment; denn als Rudolph die Augen erhob und dem.