Nr. 297 splitilat
Sonntag, den 19. Dezember 1886.
3. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen
Das„ Berliner Volksblatt"
erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Bostabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)
Redaktion: Beuthstraße 2.
Abonnements- Einladung.
Bum bevorstehenden Quartalswechsel erlauben wir uns, zum Abonnement auf das
nebst der wöchentlich erscheinenden Gratisbeilage ,, Illustrirtes Sonntagsblatt"
einzuladen.
Der Standpunkt unseres Blattes ist bekannt. Es steht auf dem Boden des unbeugsamen Rechtes. Die Erforschung und Darlegung der Wahrheit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens ist seine einzige Aufgabe. Als treuer Berather und Streiter für die Aufhebung und Ausgleichung der Klaffengegen fäße ist das Berliner Volksblatt" ein entschiedener Gegner jeder Politit, die ihre Endziele in der Bevorzugung einzelner,
heute schon bevorzugter Gesellschaftsklaffen findet.
Das Berliner Volksblatt" sucht seine Aufgabe durch fachliche Behandlung der politischen als auch der Tagesfragen zu erfüllen. Die gleichen Grundfäße leiten uns bei Besprechung unserer städtischen Angelegenheiten.
In unserm täglichen Feuilleton werden wir bereits vom ersten Weihnachtsfeiertage an mit der Veröffentlichung des berühmten sozialpolitischen Romans
99
der für unsere Leser von silo
Natalie Liebknecht
übersetzt worden ist, beginnen.
Wäre Disraeli nie in das englische Parlament gekommen," fagt Wilhelm Liebknecht , so würde er sich durch seine Romane einen dauernden Namen gemacht haben."
Daß Disraeli in allen Klaffen und Ständen den Menschen zu finden wußte, das hat er namentlich durch seine„ Sybil" gezeigt, welche die englische Arbeiterbewegung zu Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre behandelt. Er giebt von der Klage der Fabritarbeiter in den großen Industriezentren und von den Bestrebungen der Gewerkschaften und der Chartisten die treueste und doch glänzendste Schilderung, welche die Literatur tennt.
Thue nun Jedermann, der sich mit unseren Zielen in Uebereinstimmung befindet, an seinem Blaze seine Schuldigkeit. Das Berliner Volksblatt" muß in immer weiteren Rreifen Eingang finden, für das werkthätige Bolt darf in Berlin fein anderes Drgan eristiren.
Der Abonnementspreis beträgt für das ganze Vierteljahr 4 M., monatlich 1,35 M., wöchentlich 35 Pf.
Bestellungen werden von sämmtlichen Zeitungsspediteuren, sowie von der Erpedition unseres Blattes, Zimmerstraße 44, entgegengenommer.
Für außerhalb nehmen sämmtliche Postanstalten Be ftellungen an.
Die Redaktion und Expedition No aptades ,, Berliner Volksblatt".
dan
Feuilleton.
( Rafbrudt verboten.] 0
Die Verführerin.
[ 13
Novelle von D. Colonius. Rofarta erfuhr durch ihre mütterliche Freundin, daß die Baronin von der Frau Thomas die Wohnung gemiethet habe, die diese bis dahin mit ihrer Familie inne gehabt, daß diese ihr auch nicht nur nähere Auskunft über die Baronin geben, sondern sogar später ihr manches mittheilen könne, was ihr( Rosarka) zu wissen noth thue.
Frau Friedrich konnte indeß nicht umhin, ihre große Verwunderung darüber auszusprechen, daß diese fremde Frau, von welcher Frau Thomas mit solcher Begeisterung gesprochen, einen so schlechten Charakter haben könne, und versprach Rofarta, bei nächster Gelegenheit mit der franken Frau Thomas darüber zu sprechen. Nur die dringende Bitte Rofarta's hielt sie davon zurück; um so angelegent licher aber beschäftigte sich diese seitdem mit der kranken Frau und wich fast nicht von ihrem Bette
Eines Tages Rosarka war ganz allein bei Frau Thomas und hatte ihr eben eine Arznei dargereicht hob diese den Ropf aus den Rissen empor und sah lange und verwundert um sich. Sie war aus einem Fieber erwacht, das sie zwei Tage lang in bewußtlosem Zustande gehalten hatte. 3hr Auge, matt und unftät, als müsse es sich erst wieder an das Tageslicht gewöhnen, irrte von den bekannten Gegenständen, die ihr fremd geworden zu sein schienen, auf das Wesen, das ihr in der That fremd war, auf Rofarta, und tehrte, so oft es sich auch abwandte, doch immer wieder zu ihr zurüd. Es war, als müsse sie das Gewöhnliche und was ihr sonst so geläufig war, erst aufs neue wiederfinden, auch die Sprache, und erst nach einer ziemlich langen Pause, während welcher Nosarka ihr das Bettlissen
dus
-
der Arbeiter.
Insertionsgebühr
med
beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Raum 40 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bei größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Bimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaur, ohne Erhöhung des Preises, angenommen.
Expedition: Bimmerstraße 44.
Die schweizerische Arbeiterschutzgesetzgebung.
Bei der unlängst stattgehabten demokratischen Dezemberfeier im Ranton 3ürich warf Herr Professor Vögelin in seiner Feftrede einen Rückblick auf die schweizerische Arbeitergesetzgebung und deren Wirkungen. Er denkt über diese Sache genau so wie wir; die Resultate sind nicht übermäßig groß. Wir haben immer betont, daß das schweizerische Fabrikgesetz nicht weit genug geht und daß beshalb seine Wirkungen auch nur beschränkte sein können. In Desterreich geht es ebenso. Die segensreichen Wirkungen eines Normalarbeitstages werden erst dann ganz und allgemein zu verspüren sein wenn derselbe auf acht Stunden täglich firirt ist. Vorher schwerlich, wenn auch sicher ist, daß bei einem höheren Marimalarbeitstag auch schon ganz wesentliche Erleichterungen für die Arbeiter zu Tage treten werden.
Wenn wir fonach auf der einen Seite uns von Ueberschätzung des Normalarbeitstags frei fühlen, so war es anderer feits für uns doch von höchster Wichtigkeit, daß zwei Staaten die Bertigung der Forderung des Normalarbeitstages anerkannten und ihn im Prinzip dekretiren ließen, wenn auch der Umfang dieses Marimalarbeitstages noch zu weit gespannt ist.
"
Herr Vögelin meinte, das Gesetz sei von beschränkter Wirkung, weil durch dasselbe nur ein Theil der Arbeiter geschüßt sei. Das mag an sich richtig sein; allein es stünde genau genommen nichts im Wege, das Gesetz auf weitere Arbeiterkategorien auszudehnen. Was uns das Gesetz unwirksam zu machen scheint, ist die mangelnde Strenge in seiner Ausführung. Der schönste Normalarbeitstag, der auf dem Papier steht, ist ganz und gar unnüß, wenn er nicht strenge und gewissenhaft ausgeführt, wenn nicht alle Betriebe mit peinlicher Sorgfalt kontrolirt werden. Die Mantriebe mit peinlicher Sorgfalt tontrolirt werden. Die Manchestermänner werden nicht verfehlen, wo eine solche Rontrole eingeführt wird, über Polizeistaat" zu schreien. Da= durch kann man sich nicht irre machen lassen. Energische Aufsichtsbehörden zur Durchführung der Fabrikgesetzgebung mögen manchem Unternehmer unangenehm sein, niemals aber können fie dem Arbeiter etwas schaden, fie können ihm nur nügen. Man denke an die englischen Fabriken- Inspektoren der breißiger, vierziger und fünfziger Jahre. Diese Männer hatten den ganzen Haß jener Unternehmer auf sich geladen, die lieber ihre fämmtlichen politischen Grundsäße nachlassen, als eine halbe Stunde Arbeitszeit. Man nannte die Inspektoren Schnüffler, Schleicher und Aufheter, welch letterer Titel leicht einem Jeden zu Theil wird, der sich um die Geheimnisse der Fabriken bekümmert. Aber die englischen Fabriken- Inspektoren ließen sich nicht einschüchtern und enthüllten der oftmals schaudernden Welt die Zustände unter
zurecht schob, erhob sie sich wieder und fragte:„ Wer bist Du, Mädchen, und was willst Du?"
"
Rosaria wollte antworten, aber Frau Thomas fuhr mit steigender Bewegung fort: Gewiß, gewiß, Dich hat auch die fremde Dame geschickto die fremde Dame!" Bei diesen Worten begann sie laut zu schluchzen, und ehe noch Rosarka 3eit hatte, sie zu fragen oder zu trösten, war sie schon unter heftig strömmenden Thränen wieder in's Rissen zurückgesunken.dk ind
Rosarka fühlte, daß sie der kranken Frau nichts zu sagen hatte, was sie beruhigen könne. Sie schwieg. Bald darauf aber erhob sich Frau Thomas wieder, und inBald darauf aber erhob sich Frau Thomas wieder, und indem sie mit dem feuchten Auge zu Rosarka emporsah, ergriff sie die auf der Bettlehne ruhenden Hände des Mädchens und füßte sie. Sie ahnte, was dies Mädchen für sie gethan habe. Dann sagte sie lächelnd: Nein, nein, Dich hat die fremde Dame nicht geschickt! Du siehst zu gut aus und zu sanft. O, sie war auch gut gegen mich so her zensgut; aber ach! sie ist an meinem Unglück schuld, sie iſt ſchuld daran, daß ich so elend und so trostlos bin, fie hat mein Kind getödtet?" Das arme Weib fing von Neuem an heftig zu schluchzen.
-
-
Rofarta wußte fie fanft zu trösten. Das Trostreiche lag mehr in dem weichen, herzgewinnenden Klang ihrer Stimme, als in dem Sinne ihrer Worte. Sie wußte ja gar nicht, um welche Schuld die Kranke jammerte!- Dankbar sah diese das unbekannte Mädchen an und sagte: " Nein, Dich hat der Himmel geschickt! Du kannst nicht unglücklich, Du kannst nur glücklich machen. Wie heißt
Du denn?" smin
,, Rosarka," erwiderte die Gefragte.
510
dem englischen Fabrikproletariat. Daß die schweizerische Fa brifgefeßgebung in diesem Geiste gehandhabt wird, scheint uns so wenig der Fall zu sein, wie in Desterreich. Es ist eine Schwäche der Fabrikgesetzgebung unserer Zeit, daß sie die Haus- und Akkordarbeit nicht zu treffen vermag. Die dort herrschenden Uebelſtände können nur durch das einmüthige Busammenstehen der Arbeiter beseitigt resp. gemildert werden, und in vielen Arbeiterkreisen ist das dazu erforderliche klare Verständniß noch keineswegs vorhanden.
Herr Vögelin hat auch Recht, wenn er meint, die Arbeiterschutzgesetzgebung könne nur dann recht wirksam werden, wenn sie einen internationalen Charakter trägt. Der Versuch der schweizerischen Bundesregierung, auf diplomatischem Wege eine internationale Fabrikgesetzgebung herbeizuführen, ist mißlungen, und Herr Dr. Vögelin meinte, die schweize= rische Arbeiterschaft müsse durch energische Propaganda das herbeizuführen suchen, was die Bundesregierung nicht er= reichen konnte.
Dies ist in der That eine Aufgabe der Arbeiterschaft nicht nur der Schweiz , sondern aller Kulturstaaten. Einer internationalen Fabrikgesetzgebung gegenüber können die Manchestermänner nicht den Einwurf erheben, daß sie kon= kurrenzunfähig mache.
Daß die Regierungen ungerne an diese Materie heran treten, ist augenscheinlich. Viel lieber beschäftigen sie sich mti internationalen Auslieferungsverträgen bezüglich der Verschwörer und Anarchisten. Sie wollen es nicht mit den Unternehmern verderben, die eine zahlreiche und mächtige Klasse bilden und, wenn in die Opposition gedrängt, namentlich in den fonstitutionellen Staaten den Regierungen leicht unbequem und gefährlich werden können.
So find die Aussichten vorläufig noch gering, aber das darf nicht entmuthigen. Die Arbeiter müssen sich doch leicht darüber verständigen können, in allen Kultur- und Industriestaaten gleichzeitig eine wirksame Propaganda für internationale Arbeitergesetzgebung zu unternehmen.
Es ist bezeichnend genug, daß in dieser Frage unter den Staaten die kleine Schweiz an der Spitze marschirt. Wenn eine Großmacht sich entschließen könnte, ihr beizustehen, so würde sich die Sache schon ganz anders nehmen.
Aber nicht einmal Frankreich hat sich gerührt und doch besteht dort der Normalarbeitstag schon seit 1848- auf dem Papier, allerdings der zwölfftündige.
An den Arbeitern selbst wird es liegen, dafür zu sorger, daß die große Strömung, welche auf eine neue Sozialgeset gebung gerichtet ist und welche eine der interessantesten Erscheinungen unserer Zeit darstellt, nicht wieder erlahmt und stehen bleibt. Der Verwirklichung und Lebendigmachung neuer Gedanken geht immer erst eine große Diskussion voraus. So auch bei der neuen Arbeitergesetzgebung.
Der Normalarbeitstag ist noch nicht da, aber er kommt; er kommt bald, und eines Tages, wenn die Verwüstungen
nicht einmal aufgeschlagen, nicht einmal nach mir, nach seiner Mutter verlangt hat daß es todt zur Welt gekommen ist, das ist die Strafe des Himmels. Ich will Dir's gestehn, Rosarka, denn Du bist gut und darum wirst Du mir vergeben. Ich hatte es verkauft, noch ehe es am Leben war, und darum ist es gestorben, ehe es gelebt hat. Ich hatte es an die fremde Frau verkauft."
Rosarka sah nicht, wie Frau Thomas erschöpft und fast bewußtlos ihr Haupt gegen das Kissen zurückgelehnt hatte; denn diese arme, diese unbekannte Person hatte ein Wort ausgesprochen, das wie ein Blitz in die tiefe Seelennacht des böhmischen Mädchens gefahren war. Mit einem Worte war nun alles hell geworden, was noch vor Minuten in so grausem Dunkel gelegen hatte, die Gegenwart und die Bukunft, die Zukunft! jubelte es laut in dem entzückten Herzen Rosarka's. Als Frau Thomas die Augen öffnete, fab sie Rosarka, welche sich vor Haft zitternd über sie geneigt hatte.
"
Bittre nicht mehr für mich, gutes Mädchen", sagte sie ja Du haft!
mit leiser Stimme;„ Du hast mir vergeben
Und nun glaube ich, daß auch die Menschen und der Himmel mir verziehen haben, und darum bin ich glücklich und still in mir, wie ich seit vielen, vielen Tagen nicht gewesen."
-
Rosarka lächelte. Sie schien ruhig, oder vielmehr sie wollte es scheinen, um die Kranke nicht aufzuregen. Aber in ihr wogte eine Fülle von Hoffnung und Sehnsucht. Sie sette mehrere Male an, um Gleichgiltiges oder für den Augenblick Passendes zu sprechen. Endlich aber mußte es doch heraus, und plöglich fragte fie: War die Baronesse - ich wollte fagen, die fremde Dame nicht auch in der HoffRofarta?" wiederholte die Frau im Tone des Nachnung, Mutter zu werden?" Sie war zu sehr bewegt, um benkens. Diesen Namen habe ich nie von ihr gehört," auf diese Wendung Klug hinüberleiten zu können. fagte fie für sich und fuhr dann laut fort: O, Rofarta, Frau Thomas erwiderte: ,, Nein, sonst hätte sie ja mein hätte ich Dich früher tennen gelernt, so wäre das Kind nicht verlangt." Unglück gewiß nicht geschehn! Sieh, daß mein Kind nicht geweint und das Licht nicht gesehn, daß es seine Augen
Die Antwort flang so unverdächtig und war so harmlos gemeint, daß sich Frau Thomas nicht wenig über den Ein