Nr. 299.

Mittwoch, den 22. Dezember 1886.

3. Jahrs.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 f. Bostabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)

Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Naum 40 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bet größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin   SW., Bimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaur, ohne Erhöhung des Preises, angenommen.

Redaktion: Benthstraße 2.

-

Expedition: Bimmerstraße 44.

Abonnements- Einladung.

Bum bevorstehenden Quartalswechsel erlauben wir uns, zum Abonnement auf das

Berliner Volksblatt"

nebst der wöchentlich erscheinenden Gratisbeilage Illustrirtes Sonntagsblatt"

einzuladen.

Der Standpunkt unseres Blattes ist bekannt. Es steht auf dem Boden des unbeugsamen Rechtes. Die Erforschung und Darlegung der Wahrheit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens ist seine einzige Aufgabe. Als treuer Berather und Streiter für die Aufhebung und Ausgleichung der Klaffengegen fäße ist das Berliner Volksblatt" ein entschiedener Gegner jeder Politik, die ihre Endziele in der Bevorzugung einzelner, heute schon bevorzugter Gesellschaftsklassen findet.

59

Das Berliner Volksblatt" sucht seine Aufgabe durch fachliche Behandlung der politischen als auch der Tagesfragen zu erfüllen. Die gleichen Grundsäge leiten uns bei Besprechung unserer städtischen Angelegenheiten.

In unserm täglichen Feuilleton werden wir bereits vom ersten Weihnachtsfeiertage an mit der Veröffent lichung des berühmten sozialpolitischen Romans

Sybil

der für unsere Leser von

Don

Disraeli,

Natalie Liebknecht

übersetzt worden ist, beginnen.

Wäre Disraeli   nie in das englische Parlament gekommen," sagt Wilhelm Liebknecht  , so würde er sich durch seine Romane einen dauernden Namen gemacht haben."

Daß Disraeli   in allen Klaffen und Ständen den Menschen zu finden wußte, das hat er namentlich durch seine Sybil" gezeigt, welche die englische Arbeiterbewegung zu Ende der breißiger und Anfang der vierziger Jahre behandelt. Er giebt von der Lage der Fabritarbeiter in den großen Industriezentren und von den Bestrebungen der Gewerkschaften und der Chartisten die treuefte und doch glänzendste Schilderung, welche die Lites ratur fennt.

Bur offiziellen Kriminalstatistik. sittlichen Gehalt viel besser find, als die Konservativen

und die Mucker dem Volfe glauben machen möchten.

Die Herren Mucker und Konservativen haben bekannt­lich die Gewohnheit, mit großem Geschrei auf die große An­zahl der alljährlich stattfindenden Vergehen und Veröffentliche Ordnung und Religion Verurtheilte in brechen hinzuweisen und darin einen Beweis für die allenthalben herrschende Verdorbenheit" zu erblicken, die nach ihrer Ansicht natürlich nur mit den härtesten Polizei­maßregeln aus der Welt geschafft werden kann.

Im Jahre 1884 famen 10.000 über 12 Jahre alte Einwohner wegen Verbrechen und Vergehen gegen Staat,

Da sind wir anderer Ansicht.

-

Wenn es einerseits feststeht, daß nicht die Verderbt­heit" des Charakters und der Gesinnung, sondern im Allge­meinen die sozialen Zustände die Ursache sind von der großen Zahl der alljährlich vorkommenden Verbrechen und Bergehen, so ist andererseits momentan sogar ein Rüdgang der gemeinen nicht der politischen - Vergehen und Verbrechen zu konstatiren. Eine rapide Steigerung war nach den Kriegs- und Milliardenjahren zu verzeichnen und es liegt auf der Hand, daß die Jahre der ,, Krachs", die auf die Gründer- Aera folgten, ungleich mehr Verstöße gegen das Strafgesetz aufweisen mußten, als die ,, mageren" Jahre vor 1870.

Die offizielle Kriminalstatistik, welche alljährlich von dem kaiserlichen statistischen Amt der Oeffentlichkeit über­geben wird, enthält eine Menge interessanter Thatsachen, von denen wir einige unsern Lesern vorführen wollen.

Unsere Konservativen und vor Allen unsere Mucker sind heute noch eifrig dabei, dem Volke die Fabel von der ,, ländlichen Unschuld" zu erzählen. Man weiß zwar, wie es mit den Tagelöhnern auf dem Lande steht, man weiß, wie sie leben müssen und man weiß, daß nur wenige ihrer Kinder eine Schule sehen würden, wenn der Staat nicht seinen in diesem Punkte gewiß wohlthätigen 3wang ausübte. Dennoch pflegen uns gerade die Landjunker das Land als eine Art Paradies zu schildern, wo Verbrechen und Vergehen nur ganz wenig vorkommen und die Menschen noch in patriarchalischer Zufriedenheit und Unschuld dahin­leben. Dagegen schildern sie die großen Städte als Sammelpunkte der schlechten Gesinnung", als Sümpfe von Unfittlichkeit und Verdorbenheit, als die Heim­

Thue nun Jedermann, der sich mit unseren Bielen in Ueberstätten aller Laster und Verbrechen. Den Beweis einstimmung befindet, an seinem Plaze seine Schuldigkeit. Das Berliner Volksblatt muß in immer weiteren Kreisen Eingang finden, für das werkthätige Volk darf in Berlin   fein anderes Organ eristiren.

Der Abonnementspreis beträgt für das ganze Viertel jahr 4 M., monatlich 1,35 M., wöchentlich 35 Pf.

Bestellungen werden von sämmtlichen Zeitungsspediteuren, sowie von der Erpedition unseres Blattes, Zimmerstraße 44, entgegengenommen.

Für außerhalb nehmen sämmtliche Postanstalten Be­Stellungen an.

Die Redaktion und Expedition des Berliner Volksblatt".

Ragbrud verboten.]

Feuilleton.

Die Verführerin.

Novelle von D. Colonius.

( Schluß.)

[ 15

Die Baronin, welche schon früher ihren Sig verlassen hatte, stand jetzt dicht neben dem Ungar. Indem sie das Wort Gewalt" aussprach, neigte sie sich nachlässig gegen den Kopf des jungen Mannes herab, so zwar, daß ihre Büfte flüchtig seine Stirn berührte. Der Ungar legte seinen Arm um den schlanken Leib der schönen jungen Frau; doch diese entwand sich ihm mit graziöser Leichtigkeit durch eine einzige rasche Bewegung.

Gewalt?" wiederholte der Ungar mit leise bewegter Stimme und ärgerlichem Tone, ich weiß nicht, ob ich dessen fähig bin, und wenn ich es wäre, ob auch diesem Mädchen gegenüber; ich gestehe es Ihnen offen, daß ich zu sehr ver­wöhnt bin. Ein sprödes, zurückhaltendes Wesen hat keinen Reiz für mich, und es ist mir bisher keine Frau begegnet, die mit Ertheilung ihrer Gunstbezeigungen so sparsam ge­wesen wäre, meine Geduld so hart geprüft hätte, wie Sie, gnädige Frau; feit jener Stunde auf der Redoute bin ich nicht um eine Spanne vorwärts gekommen, und hätten Sie damals meiner Hilfe nicht bedurft, vielleicht hätten Sie es gar nicht der Mühe werth gehalten, mich soweit kommen zu laffen, als ich fam. Ich habe mir nichts an Ihnen er­obert, als Ihr Vertrauen; dies hätte auch Ihr Diener er­langen können und ist mir niemals Beweis einer vorhan­denen Neigung."

Die Baronin war jetzt wieder ganz nahe an den Ungar herangetreten, und indem sie versöhnend ihre Hand auf seine Schulter legte, fagte fie:" Sie wollen Beweise einer Leiden­schaft haben, die Sie nicht zu erhalten verstehen? Ich ver­

machen sie sich sehr leicht. In Berlin  , sagen sie, tommen wöchentlich vielleicht hundert Diebstähle vor, in Hinterhausen, das 500 Einwohner zählt, vielleicht alle Viertel­oder gar alle halben Jahre einer. Folglich lebt man in Hinterhausen sittlicher und unschuldiger als in Berlin  . Quod

crat demonstrandum!

Nun, so liegt die Sache nicht und die Statistik ist eben dazu da, den Phrasennebel unbarmherzig zu zerstreuen, den fromme und konservative Leute über das Gehirn der Volksmasse breiten möchten.

Die offizielle Kriminalstatistik beweist, daß Berlin   und die anderen großen Städte Deutschlands   in Bezug auf ihren

lange von dem Manne meiner Liebe, daß er mich verstehe und mir blindlings gehorche."

Wieder schlang der Ungar seinen Arm um die Hüfte der jungen Frau. Diesmal duldete fie es, gleichsam ohne es zu bemerken.

,, Und wenn ich dieses Mädchen mein nenne" Dann bin ich es auch!" flüsterte sie mit herabge­beugtem Kopf und brachte dabei ihre Lippen so nahe an das Ohr des jungen Mannes, daß fie flüchtig seine Wangen be­rührten.

Ich schwöre Dir, sie soll mein werden, und müßte ich sie tausend Dämonen entreißen!" rief der Ungar, die Ba­ronin leidenschaftlich an sich ziehend. Sie machte einen Versuch, sich ihm zu entwinden; aber er hielt sie fest, und sie fonnte es nicht verhindern, daß er einen glühend heißen Kuß auf ihre unverhüllte Schulter preßte. Er zog sie mit fräftigen Armen auf seine Knie herab, schlang seinen Arm um ihren Hals, und alles Sträubens ungeachtet fanden - Die Baronesse verstand es, dem seine Lippen die ihrigen. Umgar den thatsächlichen Beweis zu geben, daß er Gewalt

brauchen könne.

Plötzlich wurde die Thür aufgerissen

Wir aber ersuchen unsern freundlichen Leser, uns einen Augenblid ins Hotel de Russe" zu folgen, wo wir Antonio und Rudolph in der Wohnung des letteren ver­ließen.

Es ist eine wunderbare, unerklärliche Macht, die in dem Auge des Menschen wohnt; ein einziger Blick kann beleben und entkräften, zum wüthenden Kampfe aufreizen und entwaffnen; er fann Liebe und Haß, Gehorsam und Widerstand gebieten; das Auge und seine Kraft allein ist es, welches den Menschen zum Abbilde der Gottheit macht.

Antonio stand eine geraume Zeit schweigend dem unglücklichen, durch seine Schwärmerei geblendeten Jüng­linge gegenüber, der bestürzt, ohne Faffung ohne Willens­kraft den strengen, mitleidsvollen Blick des starken, ernst­

Posen

Westpreußeu 39,5 pŒt. 36,1" Pommern 26,0" 1 Schlesien 21,2 Berlin  19,2" 1

.

" 1

Berlin   und Hamburg   kommen dabei erst an achter

Stelle.

Bei Verbrechen und Vergehen gegen die Person tamen im selben Verhältniß auf

Posen Bayern

58,4 pCt. 57,9"

Rheinpfalz. 89,2

11

Ostpreußen. 51,4" Westpreußen   49,5" Schlesien   48,5 Berlin  Pommern   38,1

" 1

40,0

"

Bei den schweren Verbrechen speziell, also Mord und Todtschlag, vertheilen sich die Fälle wie folgt: 0,14 pt.

.

Posen Schlesien 0,14

Ostpreußen. 0,11 Westpreußen   0,07

Pommern Berlin  

9

0,04

0,02

Bei Diebstahl kommen Fälle auf Posen

=====

" 1

70,9 pCt. Ostpreußen. 65,6 Westpreußen   63,8 Schlesien  

Berlin  .

"

41,9"

35,3"

Pommern   26,6 H

Bei Raub kommen Fälle auf

0,44

11

Westpreußen 0,44 pбt. Posen Schlesien   0,24 Ostpreußen  . 0,15

Berlin  

·

.

"

0,15"

Pommern   0,13

Bei den Fällen von Betrug und Unterschlagung stehen die großen Städte obenan, was sich von selbst erklärt, da sie ja Hauptsite des Handels sind und innerhalb des Handels Betrug und Unterschlagung naturgemäß am meisten vorkommen. In einem Falle hat Berlin   am meisten auf­zuweisen, nämlich in der Bahl von Beleidigungsprozessen.

Wir sehen, wie in den scharfen Lichtstrahlen der Statistit das Märchen von der ländlichen Unschuld" völlig dahin schwindet. Nicht als ob wir ein Vorurtheil gegen die ländliche Be­

ruhigen Mannes nicht zu ertragen vermochte. Kein Vor­wurf kam über die Lippen Antonio's, fein mißbilligendes Wort verrieth irgend welchen Groll, zu welchem Rudolph's Be­nehmen ihm Veranlassung gab; es war ein feierliches, ein furchtbar brückendes Schweigen.

" Folge mir, Rudolph!" waren die einzigen Worte, welche Antonio sprach, aber in einem Tone, der jeden Widers spruch, jebe Entgegnung unmöglich machte.

Rudolph erhob sich mechanisch, Antonio reichte ihm Hut und Mantel und die beiden Männer schritten schweigend dahin durch die schweigsame Nacht.

Vor einem, dem ehemaligen Kirchhose in St. Georg gegenüberliegenden Hause blieb Antonio stehen, zog die Glocke und nach mehreren Minuten wurde die Thür ge­öffnet.

Die Frau, welche die vorgelegte Schloßkette zurück­gezogen hatte, fuhr beim Anblick der beiden Män­ner mit dem Rufe: Jesus  , Marie, Joseph!" zurück und war, schnell gefaßt, schnell gefaßt, im Begriff, die Haus­thür wieder zu schließen, wenn nicht Antonio sie an der Ausführung ihres Vorhabens gehindert hätte.

Er hatte die Hand der alten Frau, welche den Schlüffel umdrehen wollte, schnell erfaßt und preßte sie so heftig, daß der Schmerz sie um Hilfe zu rufen verhinderte.

Nachdem Rudolph, der jetzt erst zur Besinnung ge fommen zu sein schien, eingetreten war, verschloß Antonio, mit der einen Hand noch immer die Frau fest­haltend, die Thür.

Wenn Du nicht willst, daß ich Dich erdrossele, alte Sündenseele, dann verhalte Dich ruhig," sprach Antonio zu ber bebenden Marie gewandt. Hierauf nahm er die Dielens lampe mit sich und stieg die Treppe hinauf. Oben ange langt, drängte er die alte Dienerin der Baronesse zur offen­stehenden Küchenthür hinein, zog ohne Geräusch die Schlüssel ab, und Rudolph mit sich ziehend, trat er plößlich in das dunkle Wohnzimmer der Baronin, in welchem wir diese in Gesellschaft des Ungars   verließen.