Nr. 304.
Mittwoch, den 29. Dezember 1886.
B. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
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Das Berliner Volksblatt" sucht seine Aufgabe durch fachliche Behandlung der politischen als auch der Tagesfragen zu erfüllen. Die gleichen Grundsäße leiten uns bei Besprechung unserer städtischen Angelegenheiten.
In unserm täglichen Feuilleton haben wir mit der Ver öffentlichung des berühmten sozialpolitischen Romans
„ Sybil“
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der für unsere Leser von
Don
Disraeli,
Natalie Liebknecht
überfest worden ist, bereits begonnen.
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von Nordamerika und Belgien ; es sind dies auch diejenigen Länder, in denen sich die gegenwärtig immer noch herrschende ökonomische Krisis am stärksten fühlbar gemacht hat. Das Arbeitsamt der Vereinigten Staaten hat fürzlich eine vergleichende Untersuchung über die Verhältnisse dieser fünf Länder veröffentlicht, die sehr interessante Dinge enthält. Wir erfahren zunächst, daß, was Ar= beitereinkommen und 2ohnhöhe anbelangt, die Vereinigten Staaten den ersten Rang einnehmen, dann kommt Großbritannien , dann Frankreich , dann Belgien und zuletzt Deutschland . Uns ist das nicht neu; wir legen nur Werth darauf, daß es wieder einmal amtlich konstatirt wird. Bekanntlich ist ein Hauptargument der deutschen Industriellen gegen eine kräftige Arbeiterschutzgesetzgebung die Behauptung, daß die deutsche Industrie konkurrenzunfähig würde, wenn sie höhere Löhne zahlen und die Arbeitszeit verkürzen müßte. Sogar bei den Schutzöllen wurde seinerzeit behauptet, sie seien deshalb nothwendig, weil in den fonfurrirenden Staaten billiger gearbeitet würde. Nach den Aufstellungen des amerikanischen Arbeitsamtes, das kein Interesse hat, die Unwahrheit zu sagen, ist dies Alles eitel Flunkerei gewesen. Es ist im Gegentheil ausdrücklich konstatirt, daß in Deutschland die Produktionskosten die geringsten sind. Wenn es in Deutschland Industrielle giebt, die nur konkurrenzfähig sind, wenn sie chinesische Löhne zahlen, so ist es unserer Ansicht nach gar kein Unglück, wenn diese verschwinden, um einer solideren Produktion Platz zu machen. Denn eine Industrie mit so niedrigen Löhnen ist kein Vortheil mehr für ein Land, sondern ein Unheil, dessen Wirkungen in ökonomischer wie in sanitärer Beziehung geradezu unberechenbar sind.
Unsere sozialpolitischen Geheimräthe haben es immer sehr ernst genommen, wenn ihnen die Industriellen vorrede ten, diese oder jene Maßregel zum Schuße der Arbeiter würde die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie ver ringern. Es gab aber auch Kommerzienräthe, die sich geberbeten, als müßten sie Bankerott machen, wenn sie nur fünf Pfennige pro Woche mehr an Lohn für den Mann zahlen sollten. Wer die Arbeiterverhältnisse in Sachsen , Schlesien , Thüringen , Franken, Hessen und in einem Theil von Württemberg kennt, der weiß, daß man im Ausland unmöglich weniger Lohn zahlen kann, als dort gezahlt wird. Wurde doch erst vor einiger 3eit hervorgehoben, daß die
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Industrien, die durch ihre wohl dressirten Handelskammersekretäre der Welt verkünden lassen, die deutsche Konkurrenzfähigkeit sei schon gefährdet, weil man in Deutschland jetzt zu hohe Löhne zahle!!
Dazu kommt, wie das amerikanische Arbeitsamt fest= stellt, daß auch die Anwendung von Maschinen in Deutschland verhältnißmäßig die geringste ist. Groß britannien und Amerika stehen hierin obenan. Man weiß, daß unsere Industriellen, soweit sie immer nur können, die Hausarbeit ausnuten. Dort ist die behördliche Aufsicht eine schwierige Sache; die Kinderarbeit und die Heranziehung der ganzen Familie kann bis ins Ungeheuerliche ausgedehnt werden und so sinken die Löhne in der Hausarbeit schon ganz von selbst auf ein chinesisches Niveau. Man denke an die Handweberei, an die Konfektionen, an die Schuhmacherarbeit für große Schuhwaarengeschäfte u. f. w. Aus diesen Dingen ergiebt sich ganz von selbst, daß beim deutschen Arbeiter die Kosten für den Lebensunterhalt am geringsten sind, seine Lebenshaltung die niedrigste ist, obschon in Bezug auf den Volksunterricht Deutschland unter den fünf Industriestaaten den dritten Platz einnimmt. Die Intelligenz und das Wissen allein können aber nicht gegen unerbittliche und eiserne ökonomische Gesetze aufkommen.
Dann aber kommt noch eine Hauptsache: in Bezug auf Intensivität und Produktivität der Arbeit nimmt Deutschland wiederum den letzten Platz ein; Groß britannien und die Vereinigten Staaten , welche die höchsten Löhne zahlen, stehen auch hier an der Spitze. Das ist ganz natürlich, und ein industrielles System, das auf möglichst geringe Löhne hinarbeitet, trägt die Strafe dafür in sich selbst. Es ist bekannt, daß die bestbezahlten Arbeiter, die ohnehin die gesündesten und fräftigsten sind, auch am eifrigsten und willigsten arbeiten und das Beste und Meiste leisten, selbst wenn ihre Arbeitszeit eine verhältnißmäßig kurze ist. Das haben die praktischen Amerikaner und Engländer längst be= griffen. Unsere deutschen Industriellen erscheinen dem gegenüber als die reinen Spießbürger, melche die Eierschalen des Kleinbetriebs noch nicht abgeschüttelt haben; was Engländer und Amerikaner auf ihrem Wege erreichen, glauben sie durch möglichste Verminderung der Produktionskosten, durch niedrige Löhne und lange Arbeitszeit zu erzielen. Nun, diese Herrlichkeit" wird nicht lange mehr dauern, aber sie mögen uns auch nicht mehr mit ihrer gefährdeten
Deutschland als Industriestaat. Sächsische Textilindustrie durch die massenhafte Heranziehung Konkurrenzfähigkeit" kommen.
Wie sehr auch auf den Ausstellungen und bei ähnlichen Gelegenheiten die deutsche Industrie verherrlicht zu werden pflegt, so ist es doch eine Thatsache, daß die deutsche Industrie in vielen Beziehungen hinter der Industrie anderer Staaten, resp. Nationen zurückgeblieben ist. Man betrachtet als die fünf Industriestaaten, die am weitesten vorgeschritten sind, England, Frankreich , Deutschland , die Vereinigten Staaten
abend verboten.]
Feuilleton.
Sybil.
Erstes Rapitel.
böhmischer Mädchen, die fast umsonst arbeiten, Erfolge über die englische errungen habe, weil die lettere durch die alten und mächtigen Arbeiterverbindungen Englands ges hindert sei, ohne weiteres die Löhne herabzusetzen. Und doch erhebt sich in Deutschland , sowie vom Normalarbeitstag und dergleichen die Rede ist, sofort das Geschrei von der gefährdeten Konkurrenzfähigkeit. Ohnehin giebt es noch
Greymounts das blaueste Normannenblut und den Familiens namen Egremont verlieh, war bald hergestellt und in [ 3 den Bürgerkriegen kämpften die Egremonts als Ravaliere auf Seiten des Königs. Als aber die wiedereingesetzten Stuarts später Neigung verriethen, die geraubten Kirchengüter zurückzuerstatten, wurden die Egremonts von großer Begeisterung für die bürgerliche und religiöse Freiheit erfaßt, und gingen zu den Whigs über, was das vorsichtige Haupt der Familie jedoch nicht verhinderte, mit den ent fernten Stuarts insgeheim zu forrespondiren.
Charles Egremont war der jüngere Bruder eines englischen Grafen, dessen Adel, obgleich erst drei Jahrhunderte alt, ihm doch einen Platz unter unseren höchsten und ältesten Pairs sicherte. Der Gründer der Familie war bei einem Günſtlinge Heinrichs VIII. Kammerdiener gewesen und hatte das Amt eines Rommissärs zur Bestzergreifung verschiedener religiösen Häuser und Anstalten erlangt. Der Königliche Kommissär arbeitete so eifrig und gewissenhaft, daß mehrere dieser religiösen Häuser und Anstalten in den Privatbesitz des sehr ehrenwerthen Baldwin Greymount übergingen. Der König war von dem Eifer und der Gewissenhaftigkeit seines Rommissärs entzückt, der den gelehrten Monarchen gelegentlich durch Uebersendung seltener Pergamente und künstlerisch vollendeter und alterthümlicher Becher, Ninge, Kreuze u. f. w. erfreute. Baldwin Greymont kam in Gunst bei dem König, er wurde in den Adelstand erhoben und hätte Miniſter werden können, wenn er es nicht für gut gehalten hätte, sich vor solchen gefährlichen Ehren zu hüten. Er sammelte in aller Stille Reichthümer auf Reichthümer und brachte es fertig, in jenen unruhigen Zeiten sowohl seine Reichthümer als seinen Kopf zu retten.
Die Greymount's verblieben auch unter der mehr geordneten Regierung Elisabeths in fluger Burückgezogenheit, immerfort Schäße ansammelnd, bis ungefähr 70 Jahre nach Gründung der Familie, zu Anfang des 17. Jahrhunderts, ein Greymont, der für eine Grafschaft im Parlamente saß, unter dem Titel eines Barons von Marney zur Pairschaft erhoben wurde. Ein echter Stammbaum, der den
3ur 3eit, wo unsere Geschichte beginnt, nach dem Regierungsantritt der jungen Königin Vittoria( 20. Juni 1837) mar England noch mitten in den Erschütterungen der Reform billbewegung, welche die alten Parteiverhältnisse aufgelöst und die Volksmassen auf den politischen Schauplatz gebracht hatte.
Der Erbe des Hauses Marney, der junge Lord Marney, war 5 Jahre älter als Charles Egremont, der nach dem Tode des Vaters mit der Summe von 15 000 2ftr. abgefunden worden war, während dem älteren Bruder der un geheure Familienbesiz zufiel.
In allem Lurus erzogen, der Sparsamkeit nicht gewöhnt, hatte Charles Egremont ein gutes Drittel seines Erbtheils schon im Voraus verzehrt, und würde sich standesgemäß gar nicht haben erhalten können, wenn seine ihn zärtlich liebende Mutter, der er mit gleicher Liebe zugethan war, ihm nicht auf jede Weise das bittere Loos, ein jüngerer Sohn zu sein, versüßt hätte. In Eton und Orford herangebildet, fog Charles Egremont zwar die Vorurtheile seiner Klasse ein, er hatte sich aber einen offenen, flaren Blick bewahrt, dessen Gesichtskreis durch Reisen ins Ausland er
weitert wurden.
Mit 24 Jahren verliebte sich Egremont in eine reiche Erbin, die den männlich schönen jungen Mann, den Liebling zugleich der Frauen und seines eigenen Geschlechts, auch vor anderen Bewerbern sichtlich auszeichnete. Allein eines Tags zeigte die reiche Erbin sich plößlich sehr fühl, und 24 Stunden später war sie mit einem der reichsten Erben des Königreichs verlobt. Der jüngere Sohn hatte
Politische Uebersicht.
Zwei überraschende und doch durchaus nicht unglaubliche Nachrichten bringen heute die Blätter. Laut einer in der luxemburgischen Kammer nach dem Frankf. Journ." abs gegebenen offiziellen Erklärung der Regierung unterhandeln
das Nachsehn; er starb nicht an gebrochenem Herzen, ging aber wieder auf Reisen und kehrte erst nach zweijähriger Abwesenheit ernster und gereifter nach England zurück.
Seine Mutter, die ihrem Liebling eine glänzende Zufunft prophezeite, hatte ihn für die politische Laufbahn be= stimmt. Und sie hatte sich mit dem älteren Bruder, dem Haupt der Familie, dahin geeinigt, daß Charles Egremont bei den Neuwahlen, die der Thronbesteigung Viktoria's folgten, als Kandidat für eins der Familien- Borough's*) auftreten sollte. Es gelang ihm auch, den Gegenkandidaten, einen radikalen schottischen Krämer, aus dem Feld zu schlagen. Nach fiegreich beendigtem Wahlkampf, bei dem seine Mutter ihn in jeder Weise, auch durch persönliche Agitation unterstützt hatte, besuchte er seinen älteren Bruder, den er seit seiner Rückkehr noch nicht gesehen, auf dem Familienschlosse, welches auf den Besitzungen der alten Abtei von Marney errichtet war und auch den Namen Marneys Abtei trug.
Das Wiedersehn der beiden Brüder nach so langer Trennung war so herzlich, als es die kühle, nüchterne Natur Lord Marney's zuließ. Von sehr ungleichem Temperament und Denken, hatten die zwei Brüder sich eigentlich nie näher gestanden, indeß war ihr gegenseitiges Verhältniß doch im Ganzen ein recht gutes was hauptsächtlich dem Einflusse der Mutter und, in vielleicht noch höherem Grade, dem der jungen Gattin Lord Marney's, einer Frau von wunderbarer Sanftmuth und Herzensgüte, zu verdanken war.
3weites Rapitel.
Die Lage des Landstädtchens Marney war eine der entzückendsten, die man sich denken kann. In einem aus gebreiteten Thal, an dem Ufer eines flaren, lebendigen Stroms gelegen, umgeben von Wiesen und Gärten, im Hintergrund reich bewaldete Hügel, bezauberte es den Wanderer, der die gegenüberliegenden Höhen durchstreift, so daß er oftmals stille stehen mußte, um den lieblich heiteren
*) Wahlflecken, wo die Familie kraft ihres Grundbefizes dominirenden Einfluß hatte.