Auffaffungen und Wünschen der Unternehmer- Verbände, der Berufsgenoffenschaften. Unzählige Male haben lettere be­rechtigte Ansprüche verunglückter Arbeiter abgewiefen und dem Reichsversicherungsamte Gelegenheit gegeben, die Rechte der Arbeiter zu wahren und das Unfallversicherungsgefeg als legte und maßgebende Instanz so auszulegen, wie es der dem Geseze zu Grunde liegende Gedanke erheischt. Und den Dank, den fich das Reichsversicherungsamt hierdurch verdient hat, hat es auch bei den Arbeitern gefunden. Aber verhehlen darf man fich trotzdem nicht, daß es trotz dieses guten Willens des Reichs­versicherungsamtes, in jedem einzelnen Falle dem verunglüdten Arbeiter die ihm durch das Gesetz gewährleistete Fürsorge zu Theil werden zu lassen, mit dieser Fürsorge dennoch noch sehr oft recht schlecht bestellt ist.

Sozialreformern" Anlaß gegeben hat. Db auch zu dem Zwecke, diefe Voltsbeglüder zu einer gründlichen Reform des Unfall­gefeßes anzuspornen, ist allerdings zweifelhaft. Denn wer in feinen Gedanken so überaus mit Plänen beschäftigt ist, wie man dem Koalitionsrechte der Arbeiter hinterrücs ein Bein stellen könne, dem bleibt nicht viel Zeit übrig, sich mit ernst­haften arbeiterfreundlichen Reformen zu befaffen.

Dem Vernehmen der Berl. Pol. Nachr." zufolge, foll am Mittwoch, den 25. September, eine Plenarsizung des Bundesraths stattfinden, welche sich mit Anträgen wegen Ber­längerung des fleinen Belagerungszustandes für Berlin , Ham­ burg- Altona 2c. beschäftigen dürfte. Der Ausgang ist nicht zweifelhaft.

Nach füddeutschen Blättern hat sich ein württembergi­scher Reichstagsabgeordneter an maßgebender und unterrichteter Stelle über die Begründung des Schweineeinfuhrverbotes er­fundigt und die Antwort erhalten, daß dasselbe zur Erhaltung des deutschen Viehstandes und seiner Ausfuhrfähigkeit unbe dingt nothwendig sei. Dem Frff. Journal" zufolge war es der Abgeordnete für Stuttgart , Geheimer Kommerzienrath Siegle, welcher nach Harzburg zum Minister von Boetticher gereift ist, um sich Aufklärung zu holen und womöglich eine Milderung des Verbots zu ermirten. Wie im Merkur " an­gedeutet wird, beabsichtigt Siegle in der nächsten Reichstags­zung einen Antrag einzubringen, daß, so lange die Einfuhr von Osten her stoden muß, die Fleischzölle an den anderen Grenzen aufgehoben oder doch herabgesetzt werden sollen. Kürzlich wurde mitgetheilt, die Reichsregierung beabsichtige selbst, einen solchen Antrag zu stellen. Natürlich war das er­funden.

Ueber russische Grenzplackereien berichtet der Grau­

Aufwiegelung zu Gewaltthätigkeiten und sonstiger Gesezwidrig feiten angeklagt war, und deshalb zu drei Monaten Gefängniß verurtheilt wurde. Die Zeugen waren ausschließlich Polizei beamte, welche den Versammlungen Redmond's als Bericht­erstatter für die Polizei beigewohnt hatten. Der Vertheidiger des Angeklagten, der Abgeordnete Healy, einer der schlauesten Irländer, hat zwar die Freisprechung feines Auftraggebers nicht durchzusehen vermocht, ober menigstens dafür Sorge ge­tragen, daß die Unzuverlässigkeit der Beugen ins rechte Licht gefeßt worden ist. gefeßt worden ist. Aus der Verhandlung fei folgendes 3wiegespräch zwischen Healy und dem Schuhmann Brennan mitgetheilt:

Es wird genügen, aus der Fülle von Belegen für diese leider nicht von der Hand zu weisende Thatsache nur einige wenige herauszugreifen. Erinnert sei da zunächst an die äußerste Peinlichkeit, mit welcher die Rechtsprechung in Unfall­Streitfachen den Begriff des Betriebsunfalles abzuwägen pflegt. Mit welch übergroßer Gewissenhaftigkeit wird nicht das Vor­liegen eines Betriebsunfalles verneint, falls ein Zusammenhang des Unfalles unmittelbar mit dem Betriebe nicht streng nach­weisbar ist! Wie oft ist es nicht vorgekommen, daß ein ver­unglückter Arbeiter seiner Ansprüche verlustig ging, wenn seine, ihm von dem Unternehmer selbst unmittelbar aufgetragene Dienstleistung, die ihm den Unfall auzog, als eine Thätigkeit im privaten Intereffe des Unternehmers gelten mußte! Gleich als ob ein von einem Unternehmer dauernd engagirter Arbeiter in der Lage wäre, bei jeder ihm abgeforderten Dienstleistung pornweg zu untersuchen, ob diefelbe auch zum eigentlichen Be triebe" gehöre oder nicht, versicherungspflichtig sei oder nicht! Und als ob der Arbeiter ohne Gefahr für seine Eristenz es wagen dürfte, das Verlangen nach einer Leiftung im privaten" Intereſſe benzer Gesellige" wie folgt: Nach einer neuen Verordnung Ich habe nichts geschrieben, ich fonnte mich an nichts des Unternehmers rundweg abzuschlagen! Nicht minder bedenk­lich und den ursprünglichen Abfichten des Unfallgefeges nicht minder zuwiderlaufend ist die Rechtsprechung da, wo sie ledig­lich aus Gründen der Fristverfäumniß" die Rechtansprüche eines verunglückten Arbeiters verneint, und zwar selbst dann perneint, wenn die Berufsgenossenschaft selber bie Ansprüche des Arbeiters anzuertenuen bereit ist. Ist es doch vorgekommen, daß ein Arbeiter seine Ansprüche wegen Friftversäumniß abge­wiesen sehen mußte, blos weil er sich darin geirrt hatte, an welche von zweien, möglicherweise zur Entschädigung ver pflichteten Berufsgenossenschaften er sich zu halten habe. Wie leicht fann ein solcher Irrthum einem Arbeiter begegnen! Und wie hart ist es, eines folchen Irrthums halber aller Ansprüche verlustig gehen zu müffen! Und wie wenig harmonirt es ferner mit der dem Unfallgefeße zu Grunde liegenden Idee, wenn arbeits- und erwerbsunfähigen Eltern, die in ihrem verun­glückten Sohne den bis dahin einzigen Ernährer verlieren, alle Rechtsansprüche aberkannt werden, blos weil der, der sie bis bahin unterstügt hat, nicht in Wirklichkeit der einzige Er nährer ist.

der russischen Behörde dürfen jett Fuhrwerte nicht mehr frei über die Grenzbrüde Dobrczyn- Gollub passiren. Jedes herr­schaftliche Fuhrwert muß 80 Rop., ein einspänniges Fuhrwerk gewöhnlicher Art 15 Kop. und Frachtfuhrwerke, wie Getreide­und Kastenwagen, müssen Rubel Uebergangszoll entrichten. Ebenso wird auf der russischen Kammer Einfuhrzoll für Säcke erhoben. Seit Anfang dieses Jahres ist es auf dem preußischen Bollamte gestattet, Getreide in Säden, nicht wie früher in Raften, über die Grenze zu bringen. Um nun den Sackein­fuhrzoll zu umgehen, führen die Geschäftsleute das Getreide aus Polen in Raften aus und fahren es über die Brücke auf preußisches Gebiet, hier schütten sie das Korn in Säde und bringen es dann auf solche Weise auf das Zollamt zur Ver­zollung. So lange das trockene Wetter anhält, geht dieses Verfahren, bei anhaltend nassem Herbstwetter, wie es bei uns bereits eingetreten ist, wird der Sackzoll den Russen doch ge­zahlt werden müssen. Auch müssen jezt wieder Passagiere beim Rückgange von Polen nach Preußen auf der russischen Zoll­fammer ihre Legitimationstarten abstempeln laffen, früher ge nügte die Abstempelung bei dem Uebergange nach Rußland . Die Bestimmung hemmt namentlich den geschäftlichen Grenz­verkehr."

Bezüglich des Sozialistengefehes will die, Berl. Börs. Beitung" wiffen, daß ein Vorschlag Preußens zur Umgestaltung des Sozialistengefeßes den Bundesregierungen zur Meinungs­äußerung unterbreitet wurde. Der in der letzten Seffion des Bundesraths gescheiterte Versuch mit der Straf- und Preß­gefeßnovelle solle nicht wiederholt werden. Es solle nur scharfe Unterscheidung zwischen den sozialistischen und anderen Beftre gemacht werden. In welcher Weise jedoch diese Unter­scheidungen zur Durchführung gelangen sollen, weiß das Börsen­blatt nicht zu sagen.

Zu wenn möglich noch größeren Bedenken giebt eine grundsäglich überaus wichtige Entscheidung des Reichsversiche rungsamts Anlaß, welche, obwohl am 1. Juni gefällt, erst vor wenigen Tagen befannt wurde. Es handelt sich bei derfelben darum, ob bei Feststellung des einer Wittwenrente zu Grunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes der Betrag einer Unfallrente mit in Anrechnung zu bringen ist, welche der verstorbene Ehemann infolge eines früheren Unfalls bezog. Das Reichsversicherungsamt hat diese Frage dahin beantwortet, daß es weder dem Wortlaut noch dem Sinne des Unfallver- bungen ficherungsgefeßes entspricht, eine Unfallrente als einen Theil des Arbeitsverdienstes zu betrachten. Man mache fich einmal die Konsequenz dieser Entscheidung flar! Die Wittwe eines Verunglüdten, der vielleicht 1000 M. an Lohn verdient haben mag, erhält auf Grund des Unfallgefeges 200 M.( 20 pŒt. des Arbeitsverdienstes) an Rente. Ueberlebt der Mann dagegen den Unfall, wird er sogar nicht ganz erwerbsunfähig, wird sein Ver­luft anErwerbsfähigkeit vielleicht auf 80p@ t.abgeschäßt, fucht er seinen Rest an Arbeitskraft weiter zu verwerthen und

verunglückt

er dann zum zweiten Male, um dabei seinen Tod zu finden, so steht die Wittwe gemäß jener Entscheidung des Reichs­versicherungsamtes wie verrathen und verkauft da. Während ihr Mann nach dem ersten Unfall eine Rente von 80 pCt. der Marimalrente, also in Höhe von 533 M. bezog, und vielleicht noch 300 m. hinzuverdiente, soll die Wittme jezt nicht 20 pCt. von 833% M. erhalten, sondern nur 20 pet. von 300 M., also jährlich 60 M.! Dem Wort­laut" des Gefeßes mag das entsprechen, aber nicht und darin irrt fich das Reichsversicherungsamt ganz sicherlich- dem » Sinne" des Unfallgefezes. Der Wittwe eines einmal Ver­unglückten 200 m. der Wittwe eines zweimal Verunglückten 60 M.! Das fann wohl schwerlich der Sinn" des Unfall­gefeßes fein.

Es ist überflüffig, die Mängel des Unfallgefeges und der Rechtsprechung, die daffelbe gefunden hat, noch an weiteren Beispielen darzulegen; die angeführten dürften bereits genügen. Auch zu dem Zwede genügen, dem Eigenlobe ein Ende zu machen, zu welchem das Unfallversicherungsgefeß gewissen

bedient. Es ist Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewski, dem der Gnadenspruch des Baren die Kette des Erils abgestreift hat. Einst war er der Abgott der revolutionären Jugend Rußlands , ihr Weisheitsquell und ihr Dratel. Das ist lange her, denn fünfundzwanzig von den neundundfünfzig Jahren feines Lebens hat er in der Peter- Pauls- Feftung, in den Bergwerken von Nerischinst und in Archangelst verbracht. Aber noch heute bedeutet sein Name in der sozialrevolutionären Propaganda Rußlands ein Programm und von der Erinne rung an fein einstiges publizistisches und literarisches Wirken mird das Andenken an Bakunin , an Alexander Herzen und Dgarem weit überstrahlt.

Der weftlichen Anschauung der Dinge will es, wenn fie die einstige Thätigkeit Tschernischewski's überblickt, faft räthfelhaft erscheinen, woher der unwiderstehliche Bauber entstammt, ben er einft auf die russische Jugend ausübte und der in den Augen derselben noch heute seinen Namen umgiebt. Denn kaum zehn Jahre publizistischer Arbeit waren ihm vergönnt gewesen, als er, von Ratkom denunzirt, in das Gefängniß geworfen wurde. Ihm hatte, damit er feine An­fichten entwidele und vertrete, der reiche Dichter Netrasom im Jahre 1854 das Journal Sowremennit"( der Zeitgenoffe) übergeben und im Jahre 1864 faß er bereits hinter Schloß und Riegel. Den Roman Was thun?" der die russische Jugend in einen wahren Taumel fanatischer Begeisterung verfekte, hat er schon in der Peter Pauls- Festung geschrieben, und die Sage geht, er habe ein Exemplar des Manuskripts einem Manne, der es zaghaft verbrannte, und ein anderes einer Frau übergeben, die allen Hindernissen zum Troy den Abdruck bewirkte. Wie geschah es, daß Nikolaus Gawrilowitsch so rasch und leuchtend wie ein Meteor an dem revolutionären Himmel Rußlands auf­stieg, daß sein Name der jungen Generation zu einer Lofung im Rampfe wurde und die Petersburger Regierung mit bangem Grauen erfüllte? Man hat von dem furchtbaren Stoße, ben Rußland und das autokratische Regiment durch den Ausgang des Krimkrieges und den Bankerott der niko­laitischen Periode empfing, noch heute kaum eine rechte Vor Stellung; es war, als bätte ein plögliches Erdbeben das Stück Welt vom Schwarzen bis zum Weißen Meere aus den Fugen

geschleudert.

Der Ruf: Land und Freiheit!" tauchte auf und pflanzte fich reißend fort. Ihn nahm Tschernischewski publizistisch auf und bald hatte er sich das Präditat eines russischen Nobes­pierre erworben. Seine Briefe ohne Adresse", an den Bar gerichtet, begehrten die Befreiung der Bauern und sie machten

Bochum , 22. September. Der westfälische Industriebezirk wird demnächst auch seinen Geheimbundsprozeß haben. Der Staatsanwalt, Herr Dr. Schulze- Bellinghausen, theilte dies in dem Prozesse gegen den Vorsitzenden des Zentral- Streiffomitee's, den Bergmann Johann Weber, mit. Es wird sich namentlich um die Entsendung des Bergmanns Dieckmann zu dem Pariser Arbeiterkongreß handeln. Eine Liste von etwa 30 Personen liegt vor, die den Dieckmann zur Reise beauftragt haben sollen. Ein Theil der Unterzeichneten bestreitet, die Unterschrift gegeben zu haben.

Bielefeld , 22. September. Die Fleischpreise am hiesigen Drte, welche schon bisher verhältnißmäßig hohe waren, sind in legter Zeit um 10-20 Pf. per Kilogramm in die Höhe ge­gangen. Wenig Freude hierüber empfinden nicht nur unsere über 10000 Stöpfe starte Arbeiterbevölkerung, sondern auch die beffer bemittelten Stände unserer Bürgerschaft. Die Roft- und Logiswirthe in unserer Stadt find zum Theil mit den Preisen der Beköftigung erheblich in die Höhe gegangen. In einem mittleren Gasthofe beträgt diese Preissteigerung beispielsweise 12 pet. des bisherigen Entgelts und wird allein mit der Preissteigerung des Fleisches begründet.

Großbritannien .

London , 21. September. Vor einem Ausnahmegerichts­hof in Arthurstown in Irland spielte sich gestern ein Prozeß gegen den irischen Abgeordneten W. Redmond ab, welcher ber

auf Alerander II. einen tiefen Eindruck. Dann, als die Aufhebung der Leibeigenschaft erfolgt war, spannte Tschernischewski feine For derungen höher, er verlangte die Vernichtung alles persönlichen Eigenthums von Grund und Boden zu Gunsten des Gemeinde­befizes, die bedingungslose Einfegung des Bauernstandes in das volle Eigenthum der Dorfmarken, die Beseitigung des Adels, die Auflösung der Armee und die Umgebung des Thrones mit demokratischen Institutionen. Und als er die un­geheure Wirkung seiner aufreizenden Pamphlete wahrnahm, da that diefer mittelrussische Popensohn den letzten Schritt: er re­volutionirte die russische Frauenwelt, indem er deren Emanzi pation auf seine Fahne schrieb. Nun hatte seine Popularität feine Grenzen mehr; eine förmliche Anbetung ward mit ihm von Frauen und Mädchen aus allen Schichten der Gesellschaft getrieben. Das Heer der Nihilistinnen war geschaffen.

Dann tauchte, von der rauhen Hand der dritten Ab­theilung ergriffen, Nikolaus Gawrilowitsch in Gefängniß und Verbannung unter. Doch die Saat, die er gelegt hatte, gedieh ihrer Reife entgegen, und der Roman: Was thun?", aus dem Kerker heraus unter das russische Volk verbreitet, befruchtete fie wie ein Regen nach brennender Sonnenbike. Nie im gesammten Bereiche der Weltliteratur hat ein Roman eine größere Wirkung geübt, als diese Tendenz gefchichte eines sozialistischen Agitators. Die Gattin des Mediziners Lopuchow liebt deffen Freund Kirsanow, der Gatte will den beiden nicht im Wege stehen und erschießt sich- zum Scheine, nachdem er sie in's Vertrauen gezogen hat. Dann geht er nach Amerika . Wjera Pawlowna heirathet Kirsanow, und nach einigen Jahren fehrt auch Lopuchom heim, nimmt eine andere Frau, und die beiden Ehepaare leben miteinander im trautesten Verkehr. Das ist der Inhalt der Erzählung. Aber so dürftig er ist, er fiel auf einen vorbereitenden Boden. Die weibliche Jugend erblickte in Wiera Bowlowna ein Ideal, in der Befreiung von dem Zwange der Familie und Sagungen der bürgerlichen Ordnung ein Evangelium, die männliche Jugend berauschte sich an der Gestalt Rachmetoms, des Bukunftsmenschen", der unaufhörlich arbeitet, ohne der Er­holung zu bedürfen, der alle Fakultäten, wie Provinzen durch wandert, der außer nach einer starken Zigarre feine Bedürf nisse hat, zweiundachtzig Stunden ununterbrochen lieft und als Bwanzigjähriger eine Barte über eine weite Strede landwärts fchleppt.

Wie unheimlich aufgewühlt muß das Rußland jener Tage gewesen, wie furchtbar muß der Druck des autokratischen Regi ments verspürt worden sein, wie muß die Sehnsucht nach Be­

Vertheidiger: Wann hielt Redmond seine Rede?" Am Abend." Und wann haben Sie Ihren Bericht geschrieben?" Nächsten Morgen."" Hatten Sie stenographische Notizen?" Nein, ich schrieb aus dem Gedächtniß." Wi. lange hat Red­mond's Rede gedauert und wie viel Seiten umfaßt Ihr Be­richt?" Die Rede dauerte eine halbe Stunde und mein Be richt besteht aus zwanzig geschriebenen Zeilen." Und Sie haben die Vermessenheit gehabt, Ihren Bericht in erster Person abzufassen und zu schwören, daß das der genaue Wortlaut der Rede wäre!" Zeuge schweigt. Healy fuhr dann fort: Wenn ich Ihnen eine Rede Chamberlain's vorlese, fönnten Sie uns dann den Hauptinhalt aus dem Gedächtniß niederschreiben?" Ja." Hierauf verlas Healy dreiviertel Spalten der legten Rede Chamberlain's und nach dessen Beendigung begab sich der Konstabler in das angrenzende Zimmer, um seine Er­innerungen niederzuschreiben. Nach 1 stündiger Abwesenheit wurde er in den Saal zurückgerufen und sein unbeholfenes verwirrtes Aussehen erregte lebhaftes Gelächter. Nun, geben Sie zum Besten, was Sie geschrieben haben", sagte Healy. erinnern."( Großes Gelächter.) Also erzählen Sie uns mündlich, wessen Sie aus der Chamberlain'schen Rede fich erinnern." Ich kann nicht." Wie denn? Erinnern Sie fich feines einzigen Wortes?"" So ist es, feines einzigen Wortes."( Erneutes Gelächter.) Also was machten Sie anderthalb Stunden im andern Zimmer?"" Ich habe ruhig gefeffen." Haben Sie geraucht?" Ja, ich habe auch ge= raucht."( Verlängertes Lachen.) Wozu sind Sie denn über­haupt ins andere Zimmer gegangen?"" Weil mich der Ge­richtshof geschickt hat."( Gelächter.) Glauben Sie, daß, wenn ich Ihnen die Rede noch einmal ruhig vorlese, Sie sich dann an etwas erinnern merden?"" Wahrlich, ich glaube nicht!"( Gelächter.) Ein anderer Zeuge, der Konstabler Gil­martin, wurde befragt, ob er folgenden Ausdruck Redmond's hörte: Ich hoffe, das Volk wird sich nicht durch den seinem Briefter gewordenen Insult zu Gewaltthätigkeiten hinreißen laffen." Gilmartin meinte, er hätte den Ausdruck gehört. Also warum steht es nicht in Ihrem Bericht?"" Ich dachte, es hatte keine Wichtigkeit." Glauben Sie, daß, wenn der Redner im Gegentheil zu Gewaltthätigkeiten angereist hätte, das Wichtigkeit gehabt haben würde?" Ja." Also furz, von Gewaltthätigkeiten abzurathen hat keine Wichtigkeit, zu denfelben anzureizen hingegen hat Wichtigkeit?" Ja, so glaube ich." Ach", rief Mr. Healy aus, das glauben auch Eure Meister."

Frankreid.

Paris , 24. September. Die republikanischen Zeitungen er­blicken in dem Ergebniß der Wahlen einen Sieg der Re publikaner und sprechen die Hoffnung aus, daß die neue Majorität nicht wieder in die früheren Uneinigkeiten verfallen werde. Das Journal des Débats " giebt seiner Genugthuung über den Niedergang des Boulangismus Ausdruck, hat aber fein Vertrauen zu der Weisheit der neuen Majorität.

Holland.

Das

Während der dieser Tage veröffentlichte offizielle Bericht des Generals van Tyn, des Höchstkommandirenden in Atjeh, von dem wir bereits gesprochen haben, über das Gefecht bei Bohama ziemlich flau und nichtssagend ist, übt die unab­hängige Presse in Indien eine um so schärfere Kritik. allgemeine Urtheil ist kurz dahin zusammenzufaffen: Die Kompagnien, welche an dem Gefecht theilgenommen haben, haben einen unvergleichlichen Muth und eine bewunderungs­würdige Todesverachtung an den Tag gelegt, aber man ist wieder in den alten Fehler verfallen, den Feind, der in Tapfer­feit uns gleich steht, mit stets befferen und vollkommneren Waffen uns gegenübertritt und in der Taktik große Fortschritte gemacht hat, zu unterschäßen, man hat wieder das alte Rezept hervor geholt: zuerst wird ein Korporal mit sechs Mann ausgeschickt, dann ein Sergeant mit einer Sektion, dann eine Kompagnie, und wenn diese theils niedergemacht, theils zurückgeschlagen worden sind, dann tritt ein ganzes Bataillon in Aktion dem der Feind endlich weichen muß. Von den Todten, die wir auf den Atjeh'schen Schlachtfeldern verloren haben, ist weitaus die größere Hälfte als das Opfer dieser unseligen Taktik zu be trachten." Wie man weiß, dauert der Krieg mit Atjeh bereits 16 Jahre!

freiung in den Gemüthern gewurzelt haben, daß der Roman Was thun?" als eine erlösende Offenbarung erscheinen konnte! Doch der damaligen Stimmung in Rußland war jede Lehre recht, wenn sie nur eine Lockerung der vorhandenen unerträglichen Zu­ftände predigte. Und so zog Tschernischewski's ungeheure Ge meinde, seine Schriften wie Amulette am Bufen bergend, aus, um an der Autokratie zu rütteln; unbärtige Knaben und zarte Mädchen, zu jeder That entschlossen, stellten ihr Leben der revolutionären Propaganda zur Verfügung, um sich das Recht zu erkämpfen, wie Ntachmetom, der Bukunftsmensch", in Ge nügsamkeit, wie Wiera Pawlowna in Freiheit des Daseins in Staat und Gesellschaft sich zu erfreuen.

Der Nihilismus ist nicht ausgerottet und die Autokratie besteht fort. Aber der Nihilismus ist müde, und ungefährlich scheint es für den Augenblick, Gnade zu üben an dem alten, gebrochenen Nikolaus Gawrilowitsch, dessen Feuerseele in den 25 Jahren des fibirischen Erils zum Krater ausgebrannt ist. Aber die Entwicklung der Völker hat ihre Analogien, und aus der Logik der Dinge ist zu lernen, daß noch niemals eine Wir kung ausblieb, wenn nicht die entsprechende Ursache hinwegge räumt war. Nach einem großen Kriege war es, in dem Rußland unterliegend seine Kräfte mit dem Westen maß. da erhob die Revolution ihr Haupt, und Prediger wie Tschernischewski ftreuten ihre Lehren umber, aus welchen die Saat des Nihi­lismus aufgeht. Feindselig steht abermals Rußland dem Westen gegenüber, die Hand am Schwertknauf haltend, und der Nihi­lismus lauert auf die Stunde, um auf seine Weise die Konse quenzen eines russischen Zusammenstoßes mit dem Westen zu ziehen. Der Nihilismus fragt nicht: Was thun?", denn er hat seine bestimmten Ziele; er schreibt auch nicht mehr Briefe ohne Adresse", denn sein Blick ist auf einen festen Punkt ge richtet. Er steht im Rücken der Bataillone, welche der Wille des Bars an die Grenzen dirigirt bat, und durch patriotische Regungen würde er fich, wenn die Würfel des Krieges rollen, ficherlich nicht abhalten lassen, den Revolutionsbrand anzu fachen, den er feit zwei Jahrzehnten unablässig schürt. Es war bie hilflose, bie jugendliche Revolution, welche Tschernischewski predigte; seitdem ist sie gefährlicher geworden, denn sie arbeitet nicht mehr mit Romanen, und sie wird ihre Stunde zu wählen

wiffen."