Nr. 301.

Dienstag, den 24. Dezember 1889.

6. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Boltsblatt"

erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Postabonnement 4 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich unter Kreuzband durch unsere Expedition 3 Mark pro Monat. Redaktion: Beuthffrahe 2.

Gewährsmänner" und Beugen.

Wir empfinden kein besonderes Vertrauen zu der wissen­schaftlichen Jurisprudenz, denn wir vermissen an derselben, was in unserer Beit bei allen Faktoren von öffentlicher Bes deutung verlangt werden muß, den Geist des Fortschritts und der Aufklärung. Die Rechtswissenschaft schleppt eine Menge von veralteten Krimskrams mit sich und ist für ein­schneidende Neuerungen nur schwer zugänglich zu machen. Wenn sich auf den Juristentagen einzelne Priester der blin­den Göttin der Gerechtigkeit mit den Fortschritten ihrer Wissenschaft zu rühmen pflegen, so haben wir uns darnach umzusehen, wie und wo diese angeblichen Fortschritte fich praktisch geltend machen. Da muß man auf die neueste Leistung unserer juristischen Autoritäten, auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs blicken, und man wird von dem so oft gerühmten Fortschritt sehr wenig oder Nichts entdecken.

Dennoch aber schließen wir uns jenen Blättern an, welche bestrebt sind, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Juristenwelt auf die Erscheinungen im großen Geheim bundsprozeß zu Elberfeld   hinzulenken. Es sind Blätter schier aller Parteien, welche verlangen, daß die in diesem Prozesse zu Tage getretenen Mängel unserer Straf­rechtspflege beseitigt werden.

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Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und Versammlungs­Anzeigen 20 Pf. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin   SW., Simmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Die Expedition ist an Wochentagen bis 1 Uhr Mittags und von 3-7 Uhr Nachmittags, an Sonn- und Festtagen bis 10 Uhr Vormittags geöffnet. Fernsprecher: Amt VI. Nr. 4106.

Expedition: Bimmerffraße 44.

eher erschweren, ſo ſei auch noch auf eine andere Erscheinung Politische Uebersicht.

in diesem Prozesse aufmerksam gemacht, die der Staatsan­walt in seinem Plaidoyer behandelt hat.

Er meinte, die Vertheidigung habe betont, ein Theil der Beugen habe sich durch Ha ß und Rachsucht zu ihren Aussagen bewegen lassen. Er gebe auch zu, daß dies bei einem Theil der 3eugen der Fall sei.

Die Betrachtung, die der Staatsanwalt an diese von ihm konstatirte Thatsache knüpfte, verdient die weiteste Auf­merksamkeit.

Er meinte, das komme fast in jedem Prozesse vor, man müsse bei den meisten Beugen gleiche Motive voraus­seßen; wenn das nicht wäre, so würde die Anklagebehörde Der Haß verleite zu but wenig ermitteln. Denunziationen; aber das sei eine Erscheinung des täglichen Lebens und die Strafrechtspflege sei thatsächlich darauf angewiesen.

Das ist eine Beleuchtung der Strafrechtspflege, wie man fie offenherziger von einem Staatsanwalt nicht erwarten fann.

Wenn es mit ungerechtfertigten polizeilichen Auf­lösungen von Versammlungen so fortgeht," flagte die Freis. 3tg." vor einigen Tagen, so werden den neuen Reichstag sehr unerquickliche Wahlprüfungen beschäftigen. In Templin  ift eine Versammlung polizeilich aufgelöst worden, in der Herr Wilbrandt Pisede fprechen sollte, Und warum? Weil ein Ronfervativer störte und das Publikum dem Störenfried: Raus! raus! zurief.

Als die Freifinnigen noch Mit- Hammer waren, fanden fie für ungerechtfertigte Auflösungen sozialdemokratischer Versamm­lungen nicht nur fein Wort des Tabels, fondern billigten fie unter allen Zeichen des Beifalls; iegt aber, wo sie Ambos geworden, schreien fie auf bei jedem Schlage, der fie trifft. Wir wollen damit nicht sagen, daß fie Unrecht haben, sich zu mehren, wohl aber, daß fie immer eingedent fein mögen des umftandes, daß, wer heute im Recht ist, morgen im Unrecht

sein kann.

Adelige und Bürgerliche. In der preußischen Verwal­tung sind zwar 74 pet. bürgerliche und 26 pCt. adelige Affefforen. Aber je höher die Charge ist, desto mehr schwinden die Bürgerlichen   und machen den Adeligen Plak, bis endlich von den Oberpräsidenten nur 8 pt. bürgerlich, aber 92 pet. adelig find. Man erkennt hieraus klar und deutlich, daß die Abdeligen gescheiter sind als die Bürgerlichen  . Von den preußischen Landräthen find 56 pet. adelig. Wenn man nun so ergiebt sich aus dem vorstehenden Verhältniß eine 560fache

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Bevorzugung des Adels.

Aber Haß und Rachsucht als Motiv einer 3eugen­aussage geben der letzteren ein ganz besonderes Gepräge. Der objektiv denkende 3euge wird vor allen Dingen bestrebt sein, die Wahrheit zu konstatiren, unbekümmert darum, ob er Jemanden damit nützt oder schadet. Wo aber die schlimmen, vielleicht schlimmsten Leidenschaften als Triebfedern vor herrschen, da wird die Aussage immer bemüht sein, ein mög­lichst schlimmes und nachtheiliges Bild von den Handlungen folgt. Wenn ein solcher 3euge beeidigt wird, wird er des­Die Polizeikommissäre haben die Weigerung, ihre Gebeffen zu gestalten, den der Beuge mit seinem Haſſe ver­währsmänner" zu nennen, während der Dauer des Pro- halb noch feinen Weineid schwören; aber er soll objektiv zeffes auf Anweisung ihrer vorgefeßten Behörden aufrecht und nicht subjektiv aussagen und die Leidenschaft schließt nach wie vor in privaten Räumlichkeiten berauſchen oder per

Den Prozeß als Ganzes werden wir noch eingehend bes sprechen, heute heben wir nur einen Punkt hervor. Wir meinen die Gewährsmänner"-3eugen.

erhalten, so daß einmal sogar der Präsident des Gerichts ermahnte, man solle von dem Spruch:" Ich verweigere die Auskunft!" Gebrauch einen sparsameren machen. Es ist so ziemlich einstimmig in der Presse ver­langt worden, daß die Institution der anonymen Gewährs männer", wo sie an der Deffentlichkeit getreten sind, keines­männer" abgeschafft werde, um so mehr, als die ,, Gewährs­

"

wegs das Vertrauen haben erwecken können, daß man es mit objektiven Berichten zu thun habe. Wir brauchen nur an den Fall Weber zu erinnern, bei dem das Gegentheil heraus tam und wobei der famose Gewährsmann" selber eingeftand, die Polizei belogen zu haben.

Man bedenke einmal die Konsequenzen dieser Praxis! Die Presse hat Recht, wenn sie davon für die Zukunft fürchtet, denn wohin sollten wir kommen, wenn die anonymen Gewährsmänner" zu einer stehenden Einrichtung werden? Sie werden bald nicht mehr bei den politischen Prozessen stehen bleiben, sondern sich in andere Formen des Rechts­

ftreits eindrängen.

Wenn sonach die Ueberzeugung Plaz greift, daß solche anonymen Gewährsmänner die Feststellung der Thatsachen

Feuilleton.

[ Rachbruck verboten.]

Germinal.

[ 62

Sozialer Roman von Emile Bola. Einzig autorifirte Uebersehung von Era Siegler. ,, Weißt Du wenigstens, wohin Du gehst?" fragte er wieder, ich kann Dich doch nicht in solch einer Nacht auf der Straße laffen!"

"

Sie antwortete:

die Objektivität aus.

Ueber Denunziationen aus Rachsucht brauchen wir uns kaum näher auszulassen; sie sind allge­mein verurtheilt und mit Recht messen alle Gerichte den Denunziationen, bei denen man Haß und Nachsucht als haben in solchen Fällen schon Bestrafungen wegen wiffent Motiv erkennt, nur ganz geringen Werth bei. Tausendmal lich falscher Denunziation eintreten müssen und wir sind im Gegensatz zum Elberfelder   Staatsanwalt der Meinung, die Rechtspflege fönnte ohne Denunziationen aus Haß und Nachsucht nicht nur sehr gut auskommen, sondern es würde auch manches widerwärtige Vorkommniß erspart werden.

Auf diese Dinge zu achten, möchten wir die offizielle Juristenwelt ersuchen. Anonyme zweifelhafte Gewährs­männer" und eine Anzahl Beugen, die, wie der Staats­männer" und eine Anzahl 3eugen, die, wie der Staats­anwalt selbst zugiebt, von Haß und Nachsucht geleitet sind sind das die richtigen Leute, um in einem großen und bedeutungsvollen Rechts streit die Wahrheit festzustellen?

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so

Die Herren Juristen mögen uns antworten!

Fünfzig Meter vor dem Café Piquette bat sie: Begleite mich nicht weiter! Wenn er Dich sähe, würde er wieder von vorne anfangen."

Es schlug elf Uhr am Kirchthurm. Das Café war schon geschlossen; aber unter der Thür blickte ein Lichtstreif

hervor.

Adieu," flüsterte sie.

Sie reichte ihm die Hand; er hielt dieselbe fest in der seinen; sie zog sie langsam zwischen den engumschließen­den Fingern hervor; dann, ohne sich umzubliceu, ging fie auf's Haus zu, öffnete die kleine Seitenthüre mit der Klinke, welche sie bet sich trug, und verschwand. Im ersten Stock erhellte sich ein Fenster, und als es sich öffnete und er die ausneigte, trat er näher hinan.

Ich geh zu Chaval! Alles in Allem ist er mein Mann schmächtige Gestalt erkannte, welche sich auf die Straße her­und ich fann nirgends schlafen, wie bei ihm."

Aber er wird Dich todtschlagen."

Sie zudte refignirt die Achseln: er wird sie schlagen; aber, wenn er dessen müde ist, läßt er's sein. Ist das nicht beffer, als sich wie ein lüderliches Mädchen herumtreiben? Und dann gewöhnt man sich auch an Schläge und tröstet fich mit dem Gedanken, daß unter zehn Mädchen acht es nicht beffer haben. Wenn er sie eines Tages heirathet, wird das immerhin sehr schön von ihm sein.

Sie hatten fich mechanisch nach Montsou gewendet, und je näher fie dem Städtchen kamen, desto seltener sprachen sie. Es war, als wenn sie schon nicht mehr zu einander gehörten. Er fand keine Worte, um sie zu überreden, und doch schmerzte es ihn, daß sie wieder zu Chaval zurückkehrte.

traurig зи

Er ist noch nicht zu Haus," rief sie leise herunter. Ich leg mich nieder; bitte, geh jetzt fort!"

Stephan entfernte sich. Das Thauwetter nahm zu. Es floß plätschernd von allen Dächern; von den Wänden, Mauern, Bäunen rann es tropfend herab. Er richtete zu erst seine Schritte nach Réquillart, müde, traurig, von dem Verlangen gepackt, unter die Erde zu verschwinden und zu

ruhen, been aber bite of an die belgischen Arbeiter, welche diese Nacht einfahren sollten und an die Kameraden, welche diese Nacht einfahren sollten und an die Kameraden, welche entschlossen waren, die Fremden nicht in der Grube zu bulden. Und von Neuem ging er längs des Kanales burch die Tümpel geschmolzenen Schnees. Ihm war Muthe, denn er hätte ihr nichts bieten können,

feine sichere Buflucht, ein Leben voll Entbehrung und Noth, ohne Heimath, ohne Zukunft; wer weiß, wie bald ihm die Rugel eines Soldaten den Schädel zerschmettert?! Vielleicht ist es beffer für sie, ihr gewisses Leid geduldig tragen, als Und er führte ein ungewisses, vielleicht bittereres suchen? fie zu ihrem Liebhaber zurück.

Als er sich unterhalb der Halde befand, schien wieder der Mond. Er hob die Augen und betrachtete den Himmel, an dem die Wolken vorbeijagten, von dem Sturm­wind gepeitscht, der bort oben wehte. Sie tamen schwarz und dicht heran, erbleichten, löften sich in flockige Fasern und zogen mit blaffem Schleier wie trübes Wasser vorüber, so eilig eine die andere drängend, daß die runde glänzende

Verschärfte Geseke   gegen die Trunksucht sind in Vorbereitung. Gegen gewohnheitsmäßige Trinker soll die Maß­regel der Entmündigung eingeführt werden. Diese mora lischen Abfichten sind sehr schön, werden aber in der Praxis doch nur den armen Teufel treffen, der vom Wirthshaus durch die Straßen nach Haufe taumelt, während der Bemittelte sich

Droschte nach Hause gebracht werden wird. Fürst Bismard hat diesfalls im März 1886 im Reichstage gefagt: Ich habe einmal einen Offisierburschen sagen gehört: Ja, wenn es ben Herren' mal passirt, dann heißt es, fie find heiter gewefen"; und trifft es unser einen, dann heißt es: Das Schwein ist be­fammlung die Gründung einer Arbeiterzeitung, die den Namen foffen!" Die Frankfurter beschlossen in einer öffentlichen Ver­" Frankfurter Volksstimme" führen foll.

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Unser tägliches Brot wird immer gesalzener. Wie man aus der Pfalz   berichtet, haben dort die Brotpreise in jüngster Zeit fast überall in den Landorten wie in den Städten wieder eine Steigerung erfahren. Wenn wir die Brotpreise vom De­zember v. 3. in Betracht ziehen, so beträgt die Preissteigerung allerwärts burchschnittlich 12 bis 15 pot. Aus Karlsruhe  schreibt der Landesbote":" Die Brotpreise in unserer Stadt haben seit heute einen nicht unbedeutenden Aufschlag erhalten, ber für den fleinen Mann eine empfindliche Mehrausgabe pro Woche bedeutet. Sämmtliche von der Bädergenossenschaft an gemeldeten acht Sorten von Brot find von der Preiserhöhung betroffen worden, zum Theil macht es einen, zum Thell zwei Pfennige am Laibe aus. Was ein solcher Aufschlag bedeutet, weiß nur derjenige, welcher zahlreiche Familie befißt. Der

Scheibe in stetem Wechsel hastig verschwand und wieder hervorlugte.

Den Blick noch geblendet von der Helle, neigte Stephan das Haupt zur Halde. Die Schildwache marschirte dort oben auf und nieder, bald fünfundzwanzig Schritt nach der Seite von Marchiennes, bald wieder zurückkehrend, das Ge­ficht Montsou zugewendet. Das Bajonett bliste hell über dem schwarzen Schatten des Soldaten, der deutlich aus dem blassen Himmel hervorbrach.

Doch hinter der Hütte, in welcher sich Bonnemort in Sturmnächten versteckt hatte, bewegte sich etwas. Mit langem geschmeidigen Rücken sich windend und wendend, schien es zu lauern; Stephan erkannte Jeanlin. Die Wache konnte den Burschen nicht sehen, der ihr wahrscheinlich irgend einen Poffen spielen wollte, denn er haßte das Militär, welches mit seinen Flinten die Menschen umbringt, wie er fagte.

Wolken verdunkelten die Halde. Stephan wollte Jeanlin anrufen, der wie zum Sprunge bereit, sich zusammengebucht hatte; doch der Mond glitt wieder hell leuchtend hervor, und der Knabe blieb unbeweglich in seinem Versteck. Bei jedem Marsch kam der Posten bis unmittelbar an das Wachhaus, machte Kehrt und entfernte sich wieder. Plöglich, als gerade wieder eine Wolke den Hügel beschattete, sprang der Knabe wie eine wilde Raße mit mächtigem Say von hinter auf den Nacken des Soldaten, krallte sich dort fest und stürzte ihm ein Messer in die Gurgel. Der Kragen der Uniform leistete Widerstand; der Bursche hielt die Klinge mit beiden Händen und hing sich mit der ganzen Wucht seines Körpers daran; er hatte oft die Hühner so geschlachtet, welche er den Bauern stahl. Es ging schnell; nur ein erstickter Schrei; das Gewehr fiel flirrend zu Boden, wie altes Eisen. Schon leuchtete der Mond wieder hell und weiß.

Stephan hatte rufen wollen; der Schreck erstarrte den Schrei in seiner Brust. Die Halde war leer. Er rannte