Nr. 302.
Mittwoch, den 25. Dezember 1889.
6. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
Das„ Berliner Wolfsblatt"
erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Poftabonnement 4 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich unter Kreuzband durch unfere Expedition 3 Mart pro Monat.
Redaktion: Beuthstraße 2.
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Arbeiter, Parteigenossen!
Mit hoher Wahrscheinlichkeit tann angenommen werden, daß die Reichstagswahlen dicht vor der Thür stehen. Es sind das die ersten, welche für die Dauer von fünf Jahren vorgenommen werden. Kein einfichtiger Arbeiter wird sich der hohen Wichtigkeit verschließen, welche gerade diesen Wahlen innewohnt.
Wir bitten daher unfere Gefinnungsgenoffen und Freunde, Alles aufzubieten, um das Berliner Volksblatt" durch Gewinnung neuer Abonnenten in immer weitere Boltskreise hineinzuführen. Der Wahlkampf wird diesmal ein ganz befonders heftiger werden, alle Barteien werden die größten Anstrengungen machen, ihre Preffe zu verbreiten; wir bürfen daher unter feinen Umständen zurückbleiben. Persönliche Empfehlung ft für die Verbreitung einer Zeitung am wirksamsten.
Für den Monat Januar eröffnen wir ein neues Abonnement auf das
„ Berliner Volksblatt"
nebst dem wöchentlich erscheinenden
„ Sonntagsblatt".
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Weihnachtsfelt.
Als einst das jüdische Volk unter schweren Drangfalen seufzte und zu verzweifeln begann an der Lehre seiner Erzväter, daß es das auserwählte Volt Gottes sei", da traten es ,, das feine Propheten auf, es zu trösten mit der angeblich ihnen von Gott geoffenbarten frohen Verheißung:„ Ich will mein Volt erlösen und ihm einen Messias senden."
Das Volk glaubte dieser Verheißung; es hoffte und harrte in seiner Noth zuversichtlich auf den Messias und die Erlösung.
Ist dieser Glaube, dieses Hoffen und Harren belohnt worden? Die chriftliche Theologie behauptet es; fie lehrt
Feuilleton.
[ Radbrud verboten.]
Germinal.
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Sozialer Roman von Emile Bola. Einzig autorifirte Ueberfegung von Er** Siegler. Der Junge hatte früher alle Wege dieser verlassenen Grube durchstöbert und wußte überall Bescheid. Als er mit dem Licht zurück fam, fragte Stephan ihn aus, in welche Streden die Bergleute nicht mehr drangen, und dorthin machten fie fich auf den Weg. Fast einen Kilometer weit zogen sie den Körper durch das Gewirr verfallener Gallerien hinter sich her; endlich gelangten sie zu einer ganz niebrigen Stelle, wo der Fels, sich fast bis auf den Boden Es war eine sentend, die meisten Pfosten gebrochen hatte. Art länglicher Raften. Sie schoben den kleinen Soldaten dort hinein, legten ihm das Gewehr an die Seite; dann hieben sie mit den Abfäßen die letzten Stüßen hinweg. Der morsche Fels barst; sie sprangen zurück, frochen auf allen Vieren hervor; als Stephan sich umblickte, er brückte die sinkende Decke den todten Mann; noch einen Moment, und es blieb nichts, als eine unergründliche Steinmasse.
Sie gingen in ihre Höhle. Jeanlin warf sich todtmüde in's Heu und erklärte er wolle schlafen, Bébert und Lydia fönnten warten. Stephan sette fich, lehnte den Rücken an die Verzimmerung und löschte das Licht, von dem nur ein leines Stückchen übrig geblieben. Auch er war an allen Gliedern gelähmt, aber er konnte nicht schlafen; schmerzhafte Gedanken polterten wie Hammerschläge in seinem Ropf. Und besonders einer, auf den er keine Antwort wußte, ermüdete ihn mit unaufhörlicher Frage: Warum
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Expedition: Bimmerffrahje 44.
nun schon bald 1900 Jahre hindurch: Jesus von Nazareth, zu Ehren dessen Geburt das Weihnachtsfest in allen christlichen Landen begangen wird, sei von Gott " als dessen ,, eingeborener Sohn" und Messias gesandt worden.
Das war um dieselbe Seit, als die alte Kulturwelt, in Laster und Frevel aller Art versunken, ihrer Auflösung mit Riesenschritten entgegen eilte; als das weltbeherrschende Rom, einst so mächtig und so glänzend, unter der Herrschaft grenzenlofefter Selbstfucht nur noch groß war in Hochmuth, Unfittlichkeit und Ungerechtigkeit,-da wurde Jesus , der arme Zimmermannssohn, geboren, der dann später die Lande durchzog und verkündete:" Ermannet Euch, denn das Himmelreich ist herbeigekommen. Wahrlich, ich sage Euch: Ihr Alle seid Kinder eines Vaters; Ihr Alle seid Brüder; im Himmel wird es weder Große noch Kleine, weder Arme noch Reiche geben. Liebet also Euren Nächsten, wie Euch selbst."
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Wir wissen, daß Jesus unter seinem Himmelreich" nicht jenes bessere Jenseits" verstand, wie die Theologen es uns anpreisen, sondern ein Reich des Friedens und des Glückes auf Erden, ein weltlich Reich unter der Herrschaft der Gerechtigkeit und Liebe. Und des halb mußte der Messias als Hochverräther den Verbrechertod am Kreuze erleiden. Aber alsbald erklang seine Lehre über die Grenzen Judäas hinaus in alle Welt, ein Evangelium für die Armen und Elenden. Zuerst zwar Widerstand und aller Verfolgung zum Troy, breiteten die still und bescheiden, aber doch verhältnißmäßig schnell, allem Chriftusbekenner sich aus; ein weit verzweigter Bund erstand in jugendlicher Kraft und Frische auf den Trümmern der alten Gesellschaft.
Wer will es schildern, das Maß von Hoffnungen, dem die Anhänger der neuen Religion in Bezug auf die Zukunft ihrer Sache sich hingaben? Sie hofften so fest, auch noch nach des Meisters Tode, auf die baldige Erscheinung des Reiches, der tausendjährigen Herrlichkeit", wo sie hundertfältig wieder erhalten sollten, was sie in seinem Dienste eingebüßt. Raftlos eilten sie von Ort zu Ort, von Land zu Lande, des Meisters Lehre von Gleichheit und Bruderthum zu vers tünden. Dafür erlitten die meisten von ihnen mit jenem erhabenen Muthe, den das Bewußtsein, einer guten Sache zu dienen, verleiht, einen qualvollen Märtyrertod. Aber vor dem Glanz der Scheiterhaufen, worauf sie das Leben für ihre Ueberzeugung ließen, erlosch die Glorie der Götter des Heidenthums; ihre Statuen santen und an deren Stelle erschien Vielen das Bild des Gekreuzigten, als das Bild der Gottheit und als Symbol der Erlösung und der hingebenden Liebe.
Ift fie gekommen, die Erlösung, und ist die Liebe Wohl singt man in allen zur Herrschaft gelangt? Wohl singt man in allen christlichen Kirchen dem„ Erlöser" Ruhm und hohen Preis der Liebe, und jubelnd tönt es brausenden Orgelflängen hinaus in die feierlich stillen Lande:" Friede auf Erden und den Menschen
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hatte er nicht Chaval getödtet, und warum hatte dieses Kind den Soldaten, von dem es nichts, nicht einmal den Namen wußte, umgebracht? Dies verwirrte seine revolutionären Ideen; was hatte es mit dem Muth zu tödten und mit dem Recht zu tödten für eine Bewandniß? War er feig, daß er solch einen Schrecken vor dem Blutvergießen empfand?
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Jeaulin schnarchte in seinem Heu wie ein Trunkener, gleichsam als schlafe er den Rausch seines Mordes aus. Dieses Schnarchen erfüllte Stephan mit Widerwillen und ward ihm unerträglich. Plößlich erzitterte er das Gespenst der Furcht war ihm erschienen. Ein Geräusch, ein Schluchzen schien aus den Tiefen des Berges zu bringen; das Bild des fleinen Soldaten, den sie dort mit seinem Gewehr im Arm im Fels begraben hatten, blickte aus dem Dunkel und sträubte ihm jedes Haar auf dem Kopfe. Die ganze Grube schien von allerhand Stimmen zu wiederhallen; er zündete das Licht an und beruhigte sich erst wieder, als er die leere Gallerie überschauen konnte.
Eine Viertelstunde lang blickte Stephan auf das brennende Licht; dann plöglich schrumpfte der Docht zusammen, verglimmte, und wieder umhüllte ihn schwarze Nacht. Er verglimmte, und wieder umhüllte ihn schwarze Nacht. Er schauderte zusammen. Er hätte den schnarchenden Jungen prügeln mögen; es wurde unerträglich; er konnte nicht bleiben, ihn verlangte nach Luft. Er rannte den Weg entlang, fletterte die Fahrten hinauf, mit fiebernder Haft, wie von einem Gespenst verfolgt.
Endlich, oben zwischen den Ruinen von Réquillart, athmete er frei. Und wieder begann er zu grübeln: Weil er nicht tödten konnte, so mußte er selbst also sterben? Dieser Gedanke an den Tod befestigte sich wie eine letzte Hoffnung in seinem Hirn. Sterben, fühn sterben für die Revolution, das würde Allen ein Biel segen, würde seine Rechnung ausgleichen, ob gut oder schlecht; es wäre vorüber, er brauchte nicht mehr zu sorgen. Ja, wenn die Kameraden die Belgier
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ein Wohlgefallen". Aber zugleich auch ertönt allüberall der Mahnruf des Elends und der Noth, und aus so vielen, vielen matten thränenschweren Augen spricht stumm die Bitte: Gieb uns unser täglich Brot und erlöse uns von dem Uebel". Und uns ist's, als müßten die Thränen des Jammers, gesammelt zu einer einzigen Fluth, den hehren Weihnachts- Lichterglanz verlöschen und als müßte das Ehre sei Gott in der Höhe" verstummen vor den Angst- und Schmerzenslauten aus den Tiefen des Elends.
Erlösung, wo bist du? Friede, wo weilst du? Gerechtigkeit und Liebe, wo herrscht ihr?
Ja gepredigt hat die christliche Theologie die chriftliche Liebe" sattfam, aber die wahre Menschenliebe hat nichts dabei gewonnen! Diese Theologie, die fich selbst als die von Gott berufene" Verkündigerin und Trägerin der christlichen Liebe" ausgiebt, hat Jahrhunderte hindurch die Vernichtung des Menschenrechts in Millionen Individuen gutgeheißen oder selbst betrieben; sie hat Jahrhunderte lang in allen menschlichen Angelegenheiten geherrscht als eine beispiellos harte, despotische und heuchlerische Autorität, voll Fanatismus, nach Willkür befehlend über des Menschen Denken und Handeln, Freiheit und Leben, Gut und Blut; die Rechte der Vernunft grimmig in den Staub tretend, die ärgfte Feindin der Humanität. Die„ Diener Gottes" schliffen Beil und Degen Und schrieben wilde Gräuel Buch um Buch, Und tödteten voll Grimm, und statt zum Segen, Ward so der Welt das Christenthum zum Fluch!-
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3war ist die Nacht des blutigen Pfaffenübermuthes ver nichtet. Aber, ist da die Erlösung, wo Millionen ehrlich arbeitender Menschen im unverschuldeten Joche der Noth und des Elends seufzen? Ist da der Friede, wo im wilden, grausamen Daseins- und Interessenkampfe, hier um die Lebensnothdurft, dort um den Mammon, der Mensch dem Menschen feindlich gegenübersteht? Herrscht da Ges rechtigkeit und Liebe, wo schnöde Gewinnsucht unausgesett frevelt am heiligsten Gute der Menschheit, an der Arbeit; wo rücksichtsloser Egoismus das Glück so vieler Millionen zerstört und die Drachensaat der 3wietracht und des Hasses ausstreut?!
Nein! Wohl haben wir es zu gewaltigen Siegen der Kultur gebracht; auf allen Gebieten des menschlichen Wirfens entstehen großartige Werke; mehr und mehr zwingen wir die Kräfte der Natur unter unsere Botmäßigkeit an Siegen der Humanität aber, des Menschenrechts, der Menschenwürde und Menschenliebe sind wir verhältnißmäßig noch recht weit zurück. Was wir als Humanität in allen gesellschaftlichen Verhältnissen und Lagen wirksam sehen, das ist noch lange nicht die wahre und echte Humanität, die das Gute um des Guten willen thut und die Gerechtig=
feit um ihrer selbst willen üben heißt. Da gilt es, noch
unendlich viel zu erringen! Da gilt es, ausharren im heiligen Streite, bis jene Verheißung der Vernunft sich
angreifen, wird er sich in die erste Reihe stellen, und wird den befreienden Todesstoß finden.
Mit festem Schritt fehrte er zum Voreug zurück. Es war zwei Uhr; ein Stimmengewirr drang aus dem 3immer der Aufseher, wo dii Soldaten kampirten. Das Verschwin den des Posten regte die Leute auf; sie hatten den Hauptmann geweckt; die Kohlen öschhalde war besichtigt worden; sie fanden keine Spur eines Verbrechens und meinten, der Mann sei desertirt.
Draußen aber stand Stephan und dachte an den republikanischen Hauptmann, von dem ihm die Schildwache gesprochen. Wer weiß, ob man ihn nicht bewegen könnte, fich auf die Seite des Volkes zu schlagen? Die Soldaten würden die Kolben ihrer Gewehre emporhalten, und das Signal zur Niedermegelung der Bürger wäre gegeben! Dieser neue Traum riß ihn hin. Er dachte nicht mehr an's Sterben; er blieb stundenlang in dem schneeigen Schmutzwaffer stehen; vom Dache träufelte es talt auf seine Schultern; ihn aber erwärmte die fieberhafte Hoffnung eines noch möglichen Sieges.
Bis fünf Uhr wartete er auf die Ankunft der belgischen Arbeiter. Dann merkte er, daß die Kompagnie die Vorsicht gebraucht hatte, die Fremden im Voreur selbst übernachten zu laffen. Die Einfahrt begann, der Tag graute. Die von den Kameraden hier aufgestellten Wachen zögerten; Stephan theilte ihnen mit, was die Kompagnie gethan, und sie stürmten schnellen Lauf's in's Dorf, während er fich hinter der Halde versteckte. Es war sechs Uhr, der Himmel röthete sich. Der Abbé Ranvier, der jeden Montag in einem jenseits der Grube gelegenen Kloster die Frühmesse las, ging vorbei, seine Soutane über den dürren Beinen
emporraffend.
Guten Tag, mein Freund!" rief er mit starker Stimme, nachdem er Stephan mit seinen flammenden Augen fixiri hatte.