Nr. 304.

Sonntag, den 29. Dezember 1889.

6. Jahrg.

Berliner Volksblatt

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner   Boltsblatt

29

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erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Postabonnement 4 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich unter Kreuzband durch unsere Expedition 3 Mart pro Monat.

Redaktion: Beuthstraße 2.

Abonnements- Einladung.

Arbeiter, Parteigenossen!

Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann angenommen werden, daß die Reichstagswahlen dicht vor der Thür stehen. Es sind das die ersten, welche für die Dauer von fünf Jahren vor­genommen werden. Rein einfichtiger Arbeiter wird sich der hohen Wichtigkeit verschließen, welche gerade diesen Wahlen

innewohnt.

Wir bitten daher unsere Gesinnungsaenoffen und Freunde, Alles aufzubieten, um das Berliner Volksblatt" durch Geroinnung neuer Abonnenten in immer weitere Volkskreise hineinzuführen. Der Wahlkampf wird diesmal ein ganz be­fonders heftiger werden, alle Parteien werden die größten Anstrengungen machen, ihre Preffe zu verbreiten; wir bürfen daher unter feinen Umständen zurückbleiben. Persönliche Empfehlung ist für die Verbreitung einer Zeitung am wirksamsten.

Für den Monat Januar eröffnen wir ein neues Abonne­ment auf das

Berliner Volksblatt"

nebst dem wöchentlich erscheinenden

Sonntagsblatt".

Der Abonnementspreis beträgt frei ins Haus für das ganze Vierteljahr 4 Mark, monatlich 1 Mark 35 Pf., wöchentlich 35 Pf. Bei Selbstabholung aus der Expedition, Simmerstraße 44,

1 Mark pro Monat.

Bestellungen werden von sämmtlichen Zeitungsspediteuren sowie von der Expedition unseres Blattes, Zimmerstraße 44, entgegengenommen.

Für außerhalb nehmen sämmtliche Poftanstalten Be stellungen für das Vierteljahr gegen Zahlung von 4 Mark an. Die Redaktion and Expedition des Berliner Volksblatt".

Ausgestopfte Arbeiter.

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Das Eine muß man den Nationalliberalen laffen, daß sie manchmal einen gewissen Galgenhumor haben, wenn er auch nicht ganz freiwillig ist. Dahin ge­national hört der neueste ult, die Erfindung der national­Mit liberalen Arbeiterkandidaturen". dieser finnreichen Einrichtung hofft man dem Kartell einige gefährdete Wahlkreise, namentlich in den Industries centren von Rheinland   und Westfalen  , zu retten.

Wär' die Idee nicht so verdammt gescheidt, man wär' versucht, sie herzlich dumm zu nennen!"

Aber sie tommt auch nicht von ungefähr. Die National­liberalen haben schon lange über dem herrlichen Projekt ge=

Feuilleton.

Rachbruc verboten.]

Germinal.

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Sozialer Roman von Emile Bola. Einzig autorifirte Ueberlegung von Era Sieglex. Die Brulé gab das Signal. Auf ihren sehnigen Knien zerbrach fie einen Biegel; dann schnellte fie mit beiden Händen die zwei Hälften auf das Militär. Die Levaque verrenkte sich fast die Schultern; ihre schwammigen, kraftlosen Muskeln vermochte die Steine nicht zu werfen, sie mußte dicht an die Soldaten herantreten. Die Mouquette aber, deren fleischiges Knie von dem Brechen der Steine zu bluten begann, schleuderte mit wilder Kraft die Steine, wie sie sie fand. Selbst die Kinder blieben nicht müßig und lernten von Bébert, wie man werfen müsse.

Es hagelte polternd an das Haus. Und plößlich stand mitten unter den Andern auch Katharina, beide Arme er­hoben, in jeder Hand einen halben Backstein schwenkend, dem fie mit aller Kraft ihrer mageren Arme in die Luft warf. Sie wußte nicht, warum sie dies that; sie hatte ge­meint, ersticken zu müssen, und jählings war die Lust, alles zu massafriren, über sie gekommen. Wird diese verfluchte Sie hatte es fatt, gemiß­Existenz nicht bald aufhören? handelt, geschlagen, von ihrem Mann auf die Straße ge­worfen zu werden, wie ein verlorener Hund durch die Pfüßen zu waten und nicht einmal ihren Vater um eine Suppe anbetteln zu können, weil er selbst nichts zu essen. hatte. Seit fie lebt, seit sie denken fann, geht's immer Genug! Das soll ein Ende schlechter, immer bergab.

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Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und Versammlungs­Anzeigen 20 Pf. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin   SW., Zimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Die Expedition ist an Wochentagen bis 1 Uhr Mittags und von 3-7 Uhr Nachmittags, an Sonn- und Festtagen bis 10 Uhr Vormittags geöffnet. Fernsprecher: Amt VI. Nr. 4106.

Expedition: Bimmerffrake 44.

brütet, eine besondere nationalliberale, Ar­beiterbewegung" zu schaffen. Sie haben sich das kläg: liche Fiasko der Hirsch- Dunder'schen Gewerkvereine nicht zum warnenden Erempel dienen lassen; vielleicht auch sind sie durch die großen Arbeiterorganisationen, die unter christlich- sozialem Banner dem Centrum folgen, zu ihrem utopischen Versuch angespornt worden, vielleicht auch durch die Versuche der Junker, konservative Arbeitervereine durch die Versuche der Junker, konservative Arbeitervereine zu gründen. Der vielumworbene arme Mann läßt sich indessen zu solchen Experimenten nicht gerne gebrauchen, und sogar die ziemlich festgefügten Arbeiterorganisationen im Ge­folge des Centrums leisten nur noch ungerne den Befehlen der Führer dieser Partei Gehorsam.

Die von den Nationalliberalen gegründete famose ,, Arbeiterzeitung" deutete schon an, daß man neue Sozialpolitische   Bahnen einschlagen wolle. Diese 3eitung bewies gleich, wie wenig Geschick die National liberalen für solche Dinge befizen. Sie fonnte als wohl sehr ein Frühstücksblatt für national­liberale Rentiers dienen, die sich zur Beruhigung ihres Ge­wissens, namentlich wenn sie ihr Vermögen durch Grün­bungen und Spekulationen erworben haben, gerne von ihren Lohnschreibern fagen lassen, daß der Sozialismus in jeglicher Form ein Unsinn sei. Die Arbeiter selbst mögen ein solches Blatt einmal lesen, wenn sie es gratis bekommen.

Der Mißerfolg dieses Blattes, das dem allgemeinen Gespött schon nach seinen ersten Nummern verfiel, fonnte die nationalliberalen Sozialpolitiker in ihrem unverwüftlichen Optimismus nicht stören. Man sah verschiedene Versuche, die Arbeiter in das nationalliberale Fahrwasser zu bringen. In Mannheim   versuchte man es mit einem nationalliberalen Arbeiterverein; in Stuttgart   nehmen die Nationalliberalen bei den Kommunalwahlen einen ausgestopften Arbeiter auf den Wahlzettel, in der edlen, aber vergeblichen Absicht, dadurch die Stimmen der Arbeiter für sich zu ergattern, und nun schlägt sogar die Kölnische Zeitung  " eine Arbeiter= Reform Partei vor, die im Gefolge des Kartells marschiren soll. Die famosen nationalliberalen Arbeiter­kandidaten sollen die Krönung des Gebäudes sein.

Was die Aufgabe solcher ausgestopften Arbeiter sein würde, liegt sehr klar vor Augen.

Sie hätten sich als Arbeiterkandidaten" aufzuspielen und wenn sie gewählt würden, so hätten sie genau dasselbe zu thun, was die Herren Kartellbrüder selbst machen.

Anderes sind, als was sie sich unter denselben vorgestellt haben.

Die Natur der modernen Arbeiterbewegung zeigt sich gerade in dem einmüthigen Bestreben aller vorgeschrittenen Elemente der Arbeiterklasse, die Vormundschaft der alten und abgelebten Parteien von sich abzuschütteln. Die Arbeiter wollen nicht mehr das stumme und unterthänige Gefolge irgend einer Partei bilden, bei der man sie im aller­besten Fall als Parteigenossen zweiten Ranges ansieht und wo sich die Arbeiter schon glücklich schätzen sollen, wenn irgend eine abgestandene politische Größe" ihnen einmal herablassend die Hand drückt, oder gar ihnen die Ehre erweist, sich zu ihnen an den Biertisch zu setzen. Für solche Gnadenbezeugungen sind die Arbeiter sehr schwer zugänglich geworden, seitdem sie die sozialökonomische Stellung und Bedeutung ihrer Klasse so völlig begriffen haben, daß sie wissen, wie wichtig ihre Rolle in der Gesell­schaft ist.

Wir sehen in diesen krampfhaften und lächerlichen Ver­suchen der Kartellbrüder, das 1887 errungene Gebiet Бе= zu haupten, die Gewißheit, daß sie selbst fühlen, wie wenig das Kartell auf eine Zukunft rechnen kann.

Die Arbeiter fennen die Sünden des Kartells sehr genau und werden sich nicht den Bären aufbinden lassen, die öffentlichen Lasten seien weniger hoch und die Lebens­mittel weniger theuer geworden, wenn die Kölnische 3tg." sich herbeiläßt, eine Arbeiter- Reformpartei zu befürworten.

Man möge die nationalliberalen Arbeiterkandidaten nur bringen; wir wollen sie dann unter die Lupe nehmen und zeigen, daß sie ausgestopft sind.

Im Uebrigen ist es ganz interessant, wenn der Wahl­tampf eine gewisse Abwechslung erhält dadurch, daß die Wählerfänger wieder in einer neuen Maske auftreten.

Ob die Kartellbrüder selbst an einen Erfolg der ganzen Komödie glauben?

Wir glauben an einen solchen. Die Massen der Ar­beiter werden sich mit Widerwillen von solchen Manövern abwenden und werden einen gewiffen Stolz darein sezen, durch ihre Abstimmung zu beweisen, daß sie mit den Aus­gestopften absolut nichts zu schaffen haben.

Bei dieſer ganzen Geſchichte ist nur Eines erstaunlich, Politische Uebersicht.

nämlich die ungeheure Naivetät- um fein anderes Wort zu gebrauchen mit welcher die Kartellbrüder diesen neuesten neuesten ult inszeniren und mit welcher sie den eigentlichen 3weck dieser ganzen Mache ausplaudern. Um ein paar Wahlkreise dem Kartell zu erhalten, soll die neue Reform- Partei" gebildet werden. Ein 3wed, fürwahr des Schweißes der Edlen werth! Die Herren mögen nur tommen und ihre ausgestopften Arbeiter präsentiren. Ein ungeheures Hohngelächter wird sich auf der ganzen Linie der Arbeiterbewegung erheben. Die Herren werden dann endlich einmal einsehen lernen, daß die Arbeiter etwas ganz

haben! Und wild zerbrach sie die Steine und schleuderte fie blind von sich, ohne zu sehen wohin, nur von dem einen Gedanken beseelt, alles zu vernichten.

Stephan, der neben den Soldaten stand, war von einem Stein am Kopfe getroffen worden; sein Ohr schwoll schmerzhaft an; er wandte sich um und erkannte, daß Katharina's fiebernde Hand den Wurf gethan. Doch auf die Gefahr, getödtet zu werden, blieb er an feinem Plaze und blickte auf das Mädchen. Auch andere Mädchen neben ihm schauten dem Kampfe zu, und weiter entfernt stand Mouquet   und gab sein Urtheil über die Würfe ab, als wenn es sich um eine Partie Kugelwerfen gehandelt habe;

Der fitt! Gefehlt! Bravo!" Dabei lachte er und stieß Bacharias freundschaftlich in die Seite. Doch dieser stritt sich mit seiner Frau. Die Kinder hatten verlangt, er solle sie auf den Arm nehmen, damit sie zusehen könnten, er wollte nicht; sie weinten, und als er sie schließlich gezüchtigt, war Philomene auf ihn böse geworden. Hinter ihnen drängten sich andere Zuschauer bis auf die Straße, und ganz drüben auf einem Hügel überblickte der alte Bonnemort, der sich mit einem Krückstock hierhergeschleppt, unbeweglich von seinem erhöhten Plage den Kampf.

Sobald die ersten Seine geflogen, hatte sich der alte Richomme von Neuem zwischen die Soldaten und die Arbeiter gestellt, unbekümmert um die Gefehr und so verzweifelt, daß große Thränen aus seinen Augen rollten. Niemand ver= stand seine Worte in dem Tumult, man sah nur, wie sein großer weißer Schnurrbart sich zitternd bewegte.

Doch der Steinregen wurde dichter. Jetzt begannen auch die Männer sich an dem Kampfe zu berheiligen.

Die Maheude bemerkte, daß ihr Mann im Hintergrunde blieb und mit leeren Händen zuschaute.

Was?" fragte sie ,,, bist Du feig? Willst Du zugeben,

Mannesseelen. Der sozialdemokratische Theil des Leipziger Tageblattes", welcher den Reichs feinden schon so viel Spaß und den Reichs freunden so viel Ver­druß bereitet hat, ist seit einiger Zeit spurlos ver­schwunden. Und zwar hat man ausgerechnet, daß dieses Phänomen genau von dem Augenblicke datirt, wo das säch fische Vaterland", das Digan der tonservativen Kartell­brüber, dem Tageblatt" ein fräftiges quos ego! zugerufen wegen der rollenwidrigen Seitensprünge in Sachen der Ge­treidezölle.

Daß das Leipziger Tageblatt  " nicht so tapfer war, einem Angriffe aus tonservativen, das heißt Ah,

daß man die Kameraden ins Gefängniß bringt? wenn ich nicht das Kind auf den Armen hätte, bei Gott, Du solltest mich sehen!"

Estelle hatte sich heulend an ihren Hals gehängt, sie mußte sie mit beiden Händen halten; aber mit den Füßen stieß sie Steine bis zu ihrem Manne hin und rief:

Wirst Du nehmen! Soll ich Dir vor aller Welt in's Geficht speien, damit Du Muth bekommst?"

Er war roth geworden, ergriff einen Biegel, zerbrach ihn auf seinem rechten Knie und that wie die Ändern. Seine Frau hinter ihm feuerte ihn an, schrie ihm bluts dürftige Worte ins Ohr, ihr Kind unbewußt drückend, daß ihm der Athem ausging. So trieb sie ihn weiter und weiter vor, bis er sich dicht vor den Gewehren befand.

Die kleine Truppe verschwand unter dem Hagel der Steine. Glücklicherweise flogen die meisten zu hoch und

prallten an die Mauer. Der Gedanke ins Haus zu flüchten, übergoß einen Augenblick das bleiche Gesicht des Haupt­manns mit Purpurröthe; aber dies war nicht einmal mehr möglich, denn bei der geringsten Schwenkung hätte man sie von hinten massakrirt. Ein Stein brach den Schirm seines Räppi, Blut träufelte ihm von der Stirn. Auch mehrere von seinen Leuten waren verwundet; er fühlte, sie waren außer sich der Instinkt der Selbstvertheidigung drohte dem Chef den Gehorsam zu versagen. Dem Sergeant entschlüpfte ein lauter Fluch, als ein ganzer Biegel seine linke Schulter so heftig traf, daß es klatschte, wie wenn die Weiber nasse Wäsche flopften. Den Refruten hatten schon drei Würfe gestreift, feine rechte Hand blutete, sein Knie brannte schmerzhaft. Ein von der Wand zurückprallender Stein traf den alten Soldaten; seine Wangen wurden grün vor Born; ein Gewehr zitterte und schob sich langsam in seinem magern Arme vor.