Nr. 76.
Sonntag, den 30. März 1890.
7. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
Das Berliner Volksblatt"
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Schuldebatten und kein
Ende.
sich bei jeder wichtigen Frage im Landtag auszuschweigen, spielender Leichtigkeit die Null so abfertigte, wie sie es hat der Deutschfreisinn in der Landrathskammer nichts verdiente.
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mehr zu thun. So sehr Richter Bourgeois, so ist er doch Was will denn auch der Herr Stöcker? Eine Klei ein Mann, der wenigstens den Schwindelanfall der Rickert und nigkeit, ein Nichts, etwas was kaum der Rede werth ist, anderer Staatsmänner" nicht bekommen hat und deshalb blos ein allerliebstes, niedliches Bischen Ghetto , ein weiß, daß die Regierungsfähigkeit des Fortschritts eine eitle modernes Judenviertel, darinnen die Fremdlinge aus dem Träumerei ist. Er hat denn doch die politischen Osten hinter Mauern und Thoren hausen, ohne das GerFragen mit Schärfe und Geist behandelt, so wenig er den manenthum attakiren zu können. wirthschaftlichen Problemen in seines Manchesterthums Den Juden eigene Schulen anweisen, sie absondern durchbohrendem Gefühle jemals gerecht zu werden ver- von den Anderen, den Rassenhaß und Religionshader bemochte. Ist er in allen sozialpolitischen Dingen von einer reits in der Brust des Kindes entfesseln, auf daß die Böckel verzweifelten Beschränktheit, so ist er doch, natürlich inner- und Stöcker eine reichere Ernte haben, das ist gewiß ein halb der Grenzen des herrschenden Systems, ein Mann, Ziel, des Schweißes der Edelsten und Besten werth". Der der politische Kritik zu üben versteht und übt. Die parlamentarische Antisemitismus hatte bisher nur zwei schellenlauten Thoren des Deutschfreisinns, welche bereits Spielarten, seit Herr Liebermann von Sonnenin Ministersesseln zu fizzen glaubten, wollen die neueste berg dazu gekommen ist, sind es ihrer drei, nämlich der Aera " nur mit der Demuth gutgeschulter Lakaien empfangen Falscheid- Antisemitismus, der Alimenten- Antiund beben deshalb bei jedem Wort, das etwas anderes semitismus und der Ehrenschein- Antisemitismus. ist als ein geredeter Bückling. So zwangen denn die Daß es in den Schuldebatten sich hauptsächlich um Beschwichtigungshuber der Fraktion ihren Führer zum die jüdischen Bourgeois handelte, die ihre Sprößlinge Schweigen. in die höheren" Töchterschulen, auf die Gymnasien und Daß der König im Reiche des Hep! Hep!, Stöcker, Universitäten schicken, thut hier nichts zur Sache, wo es darum leichtes Spiel hatte, als er unter dem johlenden sich handelt, die Unduldsamkeit festzunageln, welche Beifall der Junker die Judenfrage in jetzt offener und fecker als seit Jahren in offiziellen feiner Art traftirte, war nicht verwunderlich. Als Körperschaften ihre Stimme erhebt. Das Spaßhafte der Herr Hofprediger mit der unnachahmlichen Grazie, dabei ist, daß die Konservativen in ihrer Mitte getaufte die er fich in seiner langen Laufbahn an- und ungetaufte Hebräer haben, daß der bankerotte geeignet, sich die Bürgerkrone selber auf's Haupt fette Feudalaristokrat den verblaßten Goldglanz seines Wappenund glaubwürdig erzählte, daß er ein wahrheitsliebender schildes mit den Millionen wieder auffrischt, welche die Mann sei, da umbrauste den Helden des Bäckerprozesses Mitgift jüdischer Bankierstöchter liefert, denen dann bisjubelnder Applaus der Rechten. Und es war Niemand weilen das Schicksal der Tochter des Herrn v. Bleichda, welcher das Haus zur Scham zurückrief. Wenn Herr röder blüht, und daß ein Mann, welchem noch vor Cremer sich in geschmackvollen Betrachtungen über Ge- wenig Wochen die ganze Mandarinenritterschaft Knechtsrüche erging, so hat er nur seinen bisherigen Verdiensten dienste leistete, ein sehr kräftiges Wort über den Vortheil um die Zwerchfellerschütterung seiner Mitbürger das neue von Mischehen zwischen Christen und Jüdinnen einmal gehinzugefügt, die Duftseelen- Lehre der Woll- Jäger in die äußert haben soll. Politik hineingetragen zu haben. Ein gut Stück des Antisemitismus erklärt sich durch
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Die Debatten des preußischen Landtages sind in der letzten Zeit durch allerlei Zwischenfälle anmuthig belebt Den Cremer, wie gesagt, lassen wir gewähren; er den Konkurrenzkampf zwischen hebräischem und christlichem worden. Die höhere Temperatur, welche das Rede ist uns stets gleichgiltig, mag er den Possenreißer aus Kapital, zwischen christlicher und jüdischer Intelligenz thermometer aufweist, ist eine Nachwirkung des 20. Fe- Beruf oder den Possenreißer auf Bestellung und Rekom- in den sogenannten liberalen, in den höheren" Berufen. bruar. Thatsächlich ist im Abgeordnetenhause die Reichs- pens spielen. Aber Herr von Goßler, der Kultus- Diese Konkurrenz fand ihren Ausdruck in den Kammertags- Wahlschlacht fortgesetzt worden. Aber der Kampf minister, ging so zartfühlend auf die Stöckerei ein, und debatten; die unbeschnittene Bourgeoisie fürchtet sich vor der Massen wird in der Kammer zu einem Familienzwist behandelte sie so ernsthaft, daß die Opposition denn doch dem Andrang des beschnittenen Großkapitals. Dieser der Bourgeoisie, aus ernsthaften Konflikten werden nör- andere Leute hätte vorschicken müssen, als Herrn Kn örcke. Interessenkonflikt hat für die Arbeiter nicht blos gelnde Häkeleien, und die Opposition bemüht sich, ihre Herr Knörcke, ein früherer Pastor, hat die salbungsvolle eine reinwissenschaftliche Bedeutung. flachsten und wirkungslosesten Redner vorzuschicken, so daß Manier des Predigertones sich in den Parlamentarismus Wenn die Kapitalistengruppen aneinander gerathen die Kartellisten leichtes Spiel haben. Chinübergerettet, und ist der Typus der politischen Bedeu- über die Theilung der Beute, so ist zwar die Art der
Die Opposition ist eine bürgerliche, das sagt genug, tungslosigkeit, wie sie krasser nicht gedacht werden kann. Vertheilung dem Proletariat gleichgiltig. Aber der Konflikt sie ist eine deutsche Bourgeoisoppofition, das sagt mehr, Seine Reden sind ohne Salz, sie sind öde wie die Lüne- zeigt zugleich, daß die Zersetzung der besitzenden Klassen sie ist eine deutschfreisinnige Opposition, das sagt Alles. burger Haide und langweilig wie ein deutsches Reichs- rasche Fortschritte macht, daß also die Lösung der sozialen Nachdem irgend ein fackeltanzlüsterner Biedermann Herrn Sonett von Redwitz. Und diese Null wird gegen einen Streitfragen näher heranrückt. Je schneller die großen Eugen Richter durch Fraktionsstänkereien veranlaßt hat, Virtuosen der Demagogie losgelassen, der denn auch mit Kapitalisten ihre Vernichtungskämpfe mit einander durch
Feuilleton.
Nachdruck verboten.]
Der Mord auf dem Balle.
Aus dem Leben einer Kreisstadt. Von J. S. Panow.
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Mit wem haben Sie mit solchem Eifer getanzt,
daß Sie mich fast umwarfen?
-Ach, Sie habe ich gestoßen? Bitte, entschuldigen Sie mich! Ich tanze mit Fräulein Bobrow.
-
Wer ist sie?
Sie kennen sie etwa nicht?
Ich sehe sie zum ersten Mal.
Wollen Sie, so stelle ich Sie vor?
Wozu?... Uebrigens, haben Sie die Güte, mich Itschalow stellte Petrowski Anna Dmitrijevna und ihrer
vorzustellen!
neben ihr sitzenden Mutter vor.
- Sie verlangen wahrscheinlich von ihnen mehr als sie zu bieten vermögen. Ich verlange zum mindesten von ihnen nicht das, was sie bieten.
Die Unterredung stockte.
Anna Dmitrijewna hatte von dem thr vorgestellten Ravalier mehr Liebenswürdigkeit erwartet; seine Geringschäßung hatte sie nicht wenig verletzt.
- Ja, wir Provinzbewohner sind überhaupt sehr langweilig, sagte sie, sichtlich ihn zu einem Kompliment
drängend.
Petrowski schwieg.
Frgend jemand forderte Fräulein Bobrow zum Tanze auf, und die Unterhaltung hatte ein Ende.
Als gegen Ende des Abends Anna Dmitrijewna mit ihrem Kavalier an Petrowski vorbeikam, frug sie ihn: Sie tanzen wohl überhaupt nicht?
-
Heute werde ich nicht tanzen.
Be
Am folgenden Tage frug Fräulein Bobrow den zu ſuch zu ihr kommenden Itschalow: -Wen haben Sie mir da gestern vorgestellt? Er scheint seinen Werth zu kennen, aber uns alle schätzt er wie Sie kommen felten in Gesellschaft? frug ihn Anna es scheint, sehr niedrig. Dmitrijewna. Man sieht Sie nirgends. Sie lieben gewiß Als Jtschalow fortfuhr, sagte Fräulein Bobrow die Zerstreuungen nicht? Bringen Sie irgend einmal Petrowski zu uns mit. -Nein, ich liebe die Zerstreuungen, wenn sie wirklich Ich will sehen, ob er stets solch ein Truthahn ist, wie er auf zerstreuen. -Unsere Abende und Versammlungen scheinen Sie dem Balle bar. demnach nicht zu zerstreuen?
Sehr wenig.
zu ihm:
-
Dann fügte sie hinzu:
-
Schieben Sie es nicht auf die lange Bank!
Nach einigen Tagen erschien Petrowski bei Bobrows. Er unterhielt sich hauptsächlich mit der Mutter, und war ihr gegenüber sehr liebenswürdig.
Anna Dmitrijemnas Bemühungen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, blieben erfolglos: Petrowski antwortete auf ihre Fragen mit abgerissenen und trockenen Phrasen.
Gegen Ende des Besuches bedeckten sich die Wangen Anna Dmitrijewnas mit Roth und ihre Augen nahmen einen eigenthümlichen Ausdruck an: sie war sichtlich erregt. Bei den folgenden Besuchen beobachtete Petrowski die ursprüngliche Taktik: er war stets ausgesucht höflich im Verkehr mit der Mutter und unaufmerksam gegen die Avanzen, welche ihm die Tochter machte.
So verging cinige Zeit.
Anna Dmitrijewna war sichtlich nicht ganz ruhig geworden. Um die Zeit, um welche Bobrow's Petrowski's Besuch erwarteten, wurde sie sichtlich ungeduldig; sie ging oft zum Fenster, drängte die Diener, die Thür zu öffnen, wenn die äußere Glocke ertönte, wurde mürrisch, wenn Betrowski ausblieb.
Als sie ihn einst vergebens erwartet hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und ließ sagen, daß sie zum Mittagessen nicht erscheinen werde, da sie sich unwohl fühle. Was fehlt Dir denn, Anjuta? frug die Mutter, in ihr Zimmer tretend. Nichts... ich habe Kopfschmerz.
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Du hast etwas auf dem Herzen, Anjuta; Du verbirgst es mir; Petrowski ist Dir nicht gleichgiltig.