Mr. 225.
Sonnabend, den 27. September 1890.
7. Jahrg.
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erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mart, wöchentlich 28 Pf. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem„ Sonntags- Blatt" 10 Pf. Postabonnement 3,30 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1890 unter Nr. 892, V. Nachtrag.) Unter Kreuzband, täglich durch die Expedition, für Deutschland und Desterreich- Ungarn 2 Mark, für das übrige Ausland 3 Mark pro Monat.
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Insertionsgebühr
beträgt für die 5 gespaltene Petitzeile oder deren Naum 40 Pf., für Vereins- und VersammlungsAnzeigen 20 Pf. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Beuthstraße 3, sowie von allen Annoncen- Bureaur, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Die Expedition ist an Wochentagen bis 1 1hr Mittags und von 3-7 Uhr Nachmittags, an Sonn- und Festtagen bis 9 Uhr Vormittags geöffnet. Fernsprecher: Amt VI. Nr. 4106.
Redaktion: Beuthstraße 2.- Expedition: Beuthstraße 3.
Der„ lozialistische Bwangsfaat"
Der Dienst der Freiheit ist ein strenger Dienst,
Er trägt nicht Gold, er trägt nicht Fürstengunst." Denn die Freiheit, für welche unsere Bourgeoisie schwärmt, trägt sowohl Gold als Fürstengunst.
gräbt, seine Nerven zerrüttet und aufreibt; und zwar ist Jemand ungerechte Vorwürfe, unziemliche, grobe, schlechte dies nicht blos der Fall beim Industriearbeiter, sondern Behandlung gefallen lassen.
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vielfach sogar bei Industriellen und Angestellten aller Art. Heilige Freiheit, Himmelstochter des Kapitalismus! Zweifellos ist die zunehmende Nervosität der Besser- Wie beseligst du die Menschen in den Fabriken, in den spukt wieder einmal in der Kapitalistenpresse zum Schrecken fituirten, welche sie so häufig ein Opfer des Morphium- Kontors, in den Kanzleien und gar in den Kasernen! aller gesitteten Bürger, denen nichts mehr verhaßt ist als dämons werden läßt, eine Folge der Ueberanstrengung im Und um diese herrliche Freiheit will uns der böse Zwang und Knechtschaft und denen nichts höher steht als Geschäftsleben, das infolge des wachsenden Großbetriebs sozialistische Zwangsstaat" prellen. Es ist himmelFreiheit. Was auch kein Wunder; hat doch das Bismarck'sche und der stets sich steigernden Heftigkeit des Konkurrenz- schreiend!- Regiment den Freiheitssinn des deutschen Bürgerthums Kampfes immer größere Anforderungen an die Inhaber Das ganze Märchen vom sozialistischen Zwangsdermaßen entwickelt und ausgebildet, daß es eine wahre und Leiter stellt. Beide, Proletarier und Bourgeois, staat" beruht auf der grundfalschen Vorstellung, im soPracht ist. Freilich ist diese Freiheit nicht von der Sorte, müssen auf die edelsten Freuden des Daseins, welche zialistischen Volksstaat gebe es keine Freiheit der Berufsvon welcher Uhland singt: Wissenschaft, Kunst und Natur gewähren, verzichten, wahl, sondern Jeder würde zu dieser und jener Arbeit sie können der intellektuellen, ästhetischen und ethischen von Angestellten oder Beamten kommandirt. Wie thöricht, Vervollkommnung, welche dieselben gewähren, nicht theil- ja albern diese Vorstellung ist, welche Verhältnisse des haftig werden, weil der Zwang des Berufs sie daran kapitalistischen Klassenstaates auf den sozialistischen Volkshindert. staat überträgt, und daß in diesem vielmehr absolute Das schönste Antlitz wird von einem Hohlspiegel zu Im„ kapitalistischen Freiheitsstaat" kann Jeder den Freiheit der Berufswahl herrscht, ist nicht blos in unserer einer abscheulichen Fraze verzerret, und ebenso geht es Beruf wählen, der seinen Fähigkeiten und Neigungen Parteiliteratur evident gezeigt,( z. B. in Bebels„ Frau" dem sozialistischen Gesellschaftsideal: in den Hohlspiegeln entspricht, vorausgesetzt, daß die Eltern das Geld dazu und in Sterns Thesen über den Sozialismus"), sonoder Hohlköpfen unserer Gegner wird seine edle Physiog: haben und auch dann nur, wenn sie nicht, im Klassen- dern auch von Schäffle im„ Bau und Leben des sozialen nomie zuv abschreckenden Karrikatur. So traurig das vorurtheil befangen, das Kind zu einem Beruf bestimmen, Körpers" und in der„ Quintessenz des Sozialismus". ist, so spaßhaft sind wiederum die komischen Bilderchen, wozu es keine Anlagen und Fähigkeiten hat, zum Bei- Und Ferd. Lassalle hat eben in der Freiheit das unterdie sich die gegnerische Phantasie vom sozialistischen Volksspiel zum Gelehrten, Künstler, Beamten, wenn es die scheidende Merkmal des Sozialismus gegenüber der anstaat ausmalt und welche auf's Deutlichste die geistige Natur zun Schuhmacher oder Schneider bestimmt hat, tiken Gesellschaft erblickt. Die gesammte alte Welt und Impotenz beweisen, an welcher die Gegner leiden. was ja oft genug vorkommt. Wie manches Kommerzien- das ganze Mittelalter, sagt er, suchten die menschliche Da sie sich nach den Meldungen der Blätter mit rathssöhnchen würde eine Zierde der Hobelbank sein, und Solidarität oder Gemeinsamkeit in Gebundenheit oder Beginn der sozialistengesetzlosen Zeit auf den Broschüren-, wie mancher Schreiner würde eine Leuchte des Wissens, Unterwerfung; die französische Revolution von 1789 Flugblatt und Zeitungskampf verlegen wollen, so dürfen der Forschung, der Kunst, eine Zierde der Staatsver- und die von ihr beherrschte Geschichtsperiode suchten die wir uns in dieser Hinsicht auf Großes gefaßt machen und waltung sein. Freiheit in der Auflösung aller Solidarität und Gemeinunsere Satire wird eine reiche Ernte haben. Im„ kapitalistischen Freiheitsstaat" können sich alle famkeit. Die neue Zeit endlich sucht die Solidarität in Also der sozialistische Staat ist ein Zwangsstaat. Paare ehelich verbinden, die einander lieben und für ein- der Freiheit. Sehen wir uns dagegen den kapitalistischen Freiheitsstaat ander passen. Da giebt es keinen Zwang der Eltern und Wann endlich wird man im gegnerischen Lager einVormünder, noch einen Zwang der Verhältnisse, des Ver- sehen, daß es feinen größeren und schlimmeren Zwang Im„ kapitalistischen Freiheitsstaat" kann Jeder thun mögens oder des Standes. Darum hört man auch so giebt, als den Zwang der individualistischen Gesellschaftsund lassen was ihm beliebt, er kann speisen, wohnen, sich selten etwas von unglücklichen ode: glücklosen Ehen, von form, den Zwang der Existenz- und Erwerbsverhältnisse, fleiden, ganz nach seiner Neigung, wenn er nämlich das Ghebrüchen und von Scheidungen. Eitel Harmonie herrscht die eine Sklaverei Aller unter Allen schaffen, die mit nöthige Kleingeld hat; denn andernfalls muß er sehr oft im Verhältniß der Gatten. Wie ganz anders dagegen im ihren eisernen Saugarmen polypengleich die Individuen essen was ihm nicht schmeckt und nicht bekommt, und sein sozialistischen Zwangsstaat", wo weder Vermögensver- umklammern und der Freiheit das Herzblut aussaugen! Weib und seine Kinder ebenfalls; unter Umständen haben hältnisse noch Standes- und Klassenvortheile im Eheleben und wann wird man erkennen, daß von jenem Zwang, sie nicht einmal genug oder auch gar nichts zu essen. Er eine Rolle spielen. Wie ungemüthlich; es gruselt Einen, der an antiken Staaten wie Sparta und an den kommumuß, wenn ihm besagtes Kleingeld fehlt, wohnen und sich wenn man nur daran denkt. nistischen Zukunftsgemälden der Utopisten uns so sehr abIm„ kapitalistischen Freiheitsstaat" braucht sich kein geschreckt, im Sozialismus, der die Produktion durch die aufhalten an Orten, in Räumen, wo allen Anforderungen der Behaglichkeit Hohn gesprochen und die Gesundheit Mensch zu verstellen, braucht Niemand seine Ansichten Maschinerie und deren ausgiebigste Verwerthung vorausüber Religion und Politik zu verbergen, braucht Niemand setzt, keine Rede sein kann! langsam oder auch schnell zerrüttet wird. Im kapitalistischen Freiheitsstaat" kann ferner Jeder eine andere Ansicht zur Schau zu tragen als die, welche Der sozialistische Zwangsstaat" gehört zur Klasse arbeiten wann er will und ruhen wann er will, wenn er wirklich hat, braucht Niemand heucheln, schmeicheln, jener Ideen, welche der Philosoph Spinoza ideae mutier nämlich ein Rentier oder Privatier ist; denn andern- lügen, übertreiben, geschäftlich aufschneiden, lästigen gesell- latæ et confusæ, verstümmelte und verworrene Ideen" falls muß er oft arbeiten, wenn ihm die Arbeit nicht schäftlichen Verpflichtungen und Anforderungen nach- nennt. blos unangenehni und zuwider ist, sondern sogar wenn tommen, mit Personen schön thun, die er nicht riechen
ein wenig näher an.
sie ihn fast zu Boden drückt, seine Gesundheit unter- kann, braucht sich Niemand von Vorgesetzten oder sonst
Feuilleton.
Nachdruck verboten.]
Eine Unglückliche.
Erzählung von Iwan Turgeniew.
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ins Schloß. Ich trat ins Zimmer, lehnte die Thür hinter mir zu und drehte mich um... Eine dunkle Figur löste sich von einer der Zwischenwände los, machte ein paar Schritte, und blieb stehen
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Michael?" flüsterte ich.
Michael befindet sich auf meinen Befehl hinter Schloß und Riegel, und das bin ich!". antwortete mir eine Stimme, die mein Herzblut stocken machte.
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Simeon Matveitsch stand vor mir!
Wir wurden beobachtet und bewacht. Zuweilen be" Ich wollte fliehen;. aber er ergriff meine Hand. merkte ich die bösen Augen meines Stiefvaters, hörte sein Wohin? elende Dirne!" zischte er.- ,, Verstehst Du widerwärtiges Lachen... allein es war, als wenn diese Augen und dieses Lachen nur auf einen Augenblick aus es, zu einer Zusammenkunft mit einem jungen Narren zu jenem Nebel heraustraten.... Ich erbebte und vergaß so- gehen, so verstehe mir jetzt auch Rede und Antwort zu gleich wieder und ließ mich von dem schönen, reißenden geben." Strome weiter treiben.
" Ich erstarrte vor Schreck und drängte immer zur Vergebens! Die Finger Simeon Matveitschs Thür.... drangen gleich eisernen Haken in mich hinein.
"
Lassen Sie mich, lassen Sie mich!" flehte ich endlich. Man sagt es Ihnen, nicht von der Stelle!"
Scheltworte, Beleidigungen, Drohungen ergossen sich in einem Strome über mich hin.....
"
Michael, Michael! Wo bist Du, rette mich," stöhute ich. " Simeon Matveitsch schüttelte mich noch einmal Und diesmal konnte ich es nicht mehr ertragen.... ich schrie auf.
" Dieses schien einigen Eindruck auf ihn zu machen. Er wurde etwas ruhiger, ließ meine Hand los, blieb aber zwei Schritte von mir, zwischen mir und der Thür stehen. Ich regte mich
"
Es vergingen einige Minuten.. nicht; er athmete schwer wie früher. Sitzen Sie ruhig," fing er endlich an, und antworten Sie mir. Beweisen Sie mir, daß Ihre Moralität noch nicht ganz verloren ist und daß sie im Stande sind, die Stimme der Vermunft zu vernehmen. Wenn Sie sich hinreißen ließen das kann ich noch vergeben, aber eingewurzelte Halsstarrigkeit nie! Mein Sohn..- Hier athmete er schwer Michael Simeonitsch hat Ihnen versprochen, Sie heirathen? Nicht wahr? So antworten Sie doch! Hat er es Ihnen versprochen, eh?"
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zu
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Jch antwortete natürlich nichts. Simeon Matveitsch war nahe daran, wieder aufzubrausen.
„ Am Vorabende des Tages, welcher für Michaels Abreise" festgesetzt war( er. sollte heimlich von der. Reise zurück tehren und mich mitnehmen), erhielt ich durch seinen ver trauten Kammerdiener einen Brief von ihm, in welchem er mir um halb 10. Uhr Abends eine Zusammenkunft im" Simeon Malveitſch ließ mich niederſizen. Im HalbBillardzimmer bestimmte; dies war ein großes, niedriges, dunkel konnte ich sein Gesicht nicht unterscheiden, zudem an der Gartenseite angebautes Zimmer. Er schrieb, daß er wandte ich mich von ihm ab, aber ich hörte, daß er schwer sich mit mir zu besprechen und engültige Bestimmungen athmete und mit den Zähnen knirschte. Ich fühlte weder " Ich nehme Ihr Schweigen als eine bejahende Antwort u treffen, wünschte. Ich hatte Michael schon zweimal in Furcht noch Verzweiflung, aber so Etwas wie gedankenSo muß ein gefangener Vogel unter an," fuhr er nach einer kleinen Weile fort. Sie haben sich siesem Billardzimmer gesehen.,. und besaß den Schlüssel loses Erstaunen.... u der äußeren Thür. Sobald es halb 10 schlug, warf ich den Krallen des Geiers erstarren und die Hand Simeon also einfallen lassen, meine Schwiegertochter werden zu meine Duschagreifa über die Schultern, verließ leise das Matveitschs, die mich immer noch ebenso festhielt, drückte wollen? Vortrefflich! Aber ich will gar nicht einmal davon Nebengebäude und gelangte glücklich über den knisternden mich wie eine eiserne Klammer Aha!" wiederholte er, aha! So also!.... Dahin Schnee in das Billardzimmer. Der Mond, von Dünsten amzogen, stand wie ein matter Punkt über dem Giebel des also ist es gekommen... Nun warte nur!" " Ich wollte mich erheben, aber er schüttelte mich mit Daches und der Wind pfiff klagend um die Ecke der Mauer. Es überlief mich ein Schaller, indessen legte ich den Schlüſſel solch einer Kraft, daß ich faſt aufſchrie vor Schmerz, und
sprechen, daß Sie kein vierzehnjähriges Kind mehr sind und wohl wissen müssen, daß alle fungen Gelbschuäbel freigebig genug mit den einfältigsten Versprechungen sind, um nur zu ihrem Ziele zu gelangen... ich will, wie gesagt, davon garnicht sprechen... aber haben Sie denn wirklich hoffen