2— Sprachen und in allen Jargons, in allen Ländern, allen Erdteilen, werden Menschen der verschiedensten Farben und Klaffen über das kleine Mädchen Shirley gerührt sein, lächeln, weinen, schluchzen, je nach Temperament und Erziehung. Der Filmmann reibt sich die Hände. Und kurze Zeit darauf erhält Mabel Watkin sowohl durch die Zeitung wie durch einen Brief der„United Film Company of Hollywood" die Nachricht, daß ihre Tochter für den neuen Großfilm„The little princetz" mit einer Tages» gage von 8000 Dollars engagiert sei. Die Kollegen in der Bank beglückwünschen Alf Watkin je nachdem mit herzlichem oder neidischem Händedruck. Watkin selbst ist wie betäubt. Das alles geschah hinter seinem Rücken. Mabel hat ihm kein Sterbenswort davon gesagt, daß Shirley sich an dem Wettbewerb beteiligen wird. Soll er böse sein oder—? Jetzt ist es Alf, der nachdenklich am Fenster seines Arbeitsraumes steht und dort hinübersieht, wo kn der Nachmittagsdämmerung die Paläste aus Glas mit dem Schimmer des Meeres zu verschmelzen scheinen. Alf ist ein richtiger amerikanischer Mann. Treibt lieber Sport und überlegt nicht gern viel. Aber das ist doch eine Angelegenheit, das ist doch eine Sache. 8000 Dollars täglich. Was ist er dagegen mit seinen '60 Dollars im Monat. Ein lächerliches Nichts. Und schon wächst die Macht des Geldes hinter dem Bild der kleinen Shirley auf wie. eine goldene Wand, die man scheu, fast ehrfurchtsvoll betrachtet. Mabel Watkin sieht der Rückkehr -Ihres Manne - heute abend nicht ohne Furcht entgegen. Es scheint ihr auch, als mache er nach der weniger herzlich als sonst ausgefallenen Begrüßung Ansätze zu einer Szene. Aber dann zuckt er doch die Achseln. Man wird ja sehen. Sitzt eine Weile stumm. Geht schließlich -ins Nebenzimmer, in dem die kleine Shirley schläft. Er will kein Licht machen. Das Kind nicht stören. Er hört auf die ruhigen gleich- mähigen Atemzüge, trinkt die warme gesättigte Luft des Zimmers ein. Geht dann leise fort. Das Herz recht schwer. Der Film„Die kleine Prinzessin" wird bereits vier Wochen später gedreht. Nun darf Mabel jeden Tag Shirley in die Stadt aus Glas begleiten. Während der Aufnahmen wartet sie in irgendeiner Halle, kostbar eingerichtet mit Lederseffeln, Teppichen und den Tisch voller Filmzeitschriften, auf ihre Tochter. In den Pausen darf sie das. Kind betreuen, mit ihm effen und spielen. Shirley berichtet jedes Mal mit glänzenden Augen und vor Aufregeung geröteten Wangen, was sie gesehen und erlebt hat, was sie selbst sagen und tun mußte. Das Ganze ist so neu und seltsam. Es macht Shirley furchtbar viel Spaß. Noch macht es ihr Spaß. Der Film„The little Prinzeß" wird ein Welterfolg. So, wie es der Routinier an der Kamera voraüsgesehen. Begeistert schreiben die Zeitungen von dem neuen weiblichen Jackie Coogan . Alle bringen das Bild der kleinen Shirley, schildern genau ihr Aeußeres, die blauen Augen und die goldblonden Locken, die zierliche Gestalt und vor allem— das Lächeln. Seine Komik und seine Herzlichkeit.„Die kleine Shirley ist beides zugleich: ein Gaffenjunge und eine Heilige", schreibt der begeisterte Filmkritiker eines tonangebenden Pariser Journals. Ungeduldig fragen die Verlejhanstalten aus allen Ländern und Erdteilen, wann der nächste „Shirley-Film" fertig sein wird. Der United Film Company ist nicht imstande, so schnell zu drehen, wie ihre Auftraggeber es verlangen. Keine Ruhe gönnt man dem kleinen Mädchen. Alf Watkin sieht sich gezwungen, seine Stellung in der Bank aufzugeben. Er hat vollauf zu tun damit, das Vermögen seines Töchterchens, das sich von Tag zu Tag häuft, zu verwalten. Er verbringt die Zeit, um sich mit Rechtsanwälten zu beraten, um Konferenzen abzuhalten, Reporter zu empfangen, Interviews zu geben, Briefe zu beantworten, Briefe der Begeisterung, Briefe von Autogrammsüchtigen und— Bettelbriefe. Mabel kennt ebenfalls keinen Augenblick Ruhe. Sie hilft Shirley, ihre Rollen einzustieren, sie begleitet sie in Modesalons, um ihr Kleider für Film und Leben anfertigen zu lassen. Alle drei WatkinS wissen nicht mehr, was ein stilles beschauliches Dasein mit Sonntagsspaziergängen und Faßballspielen ist, seitdem das jüngste Mitglied der Familie zu Ruhm und Reichtum gelangte— seitdem Shirley ein Filmstar ist. Wenn Shirley einmal keine Aufnahmen, Alf keine Konferenzen und die Mutter keine Sitzungen in Modesalons hat, dann bleiben die drei am liebsten in ihrer prunkvollen Billa , die sie inzwischen bezogen haben— dicht neben dem Landhaus der Greta Garbo — und ruhen sich von ihrem gehetzten Leben aus. Sie sind sehr einsam, die drei Watkiris. Denn ihre früheren Freunde, kleine zufriedene Bürger wie sie, haben sich scheu zurückgezogen. Sie starren jetzt aus ihren Fenstern zu ihnen hinüber, wie Mabel eS früher tat. Und auch sie sinden keine Brücke zu dieser fremden, geheimnisvollen Welt. In dem neuen Kreis aber kennt man keine Freundschaft, kein beschauliches Sich-An- einander-Schließen. Dort kennt man nur den zähen Kampf um die neue Rolle, kennt nur Rivalität, Neid, Haß und Feindschaft. Ein Mensch wird nach Dollars gewertet. Nichts an ihm gilt sonst. Zu der kleinen Shirley ist man allerdings gönnerhaft freundlich; sie ist ja keine Konkurrenz für„Vamps",„Tragische" und „Dramatische". Die Kenner wissen: noch zwei, drei Jahre, und die kleine Shirley ist erledigt. Verbraucht. Da man ihr keine Entwicklungsmöglichkeiten gibt, da man nur immer dasselbe aus ihr herauspreßt, einen„Typ" aus ihr macht und keinen Menschen mit Herz und Seele, wird die Welt ihrer bald überdrüssig sein. Schon bemerken eS die alten erfahrenen Kamera-Leute: wie das süße und komische Lächeln der kleinen Shirley nicht mehr auS den Die Geschichtsschreibung der herrschenden Klassen pflegt gern das Märchen, daß im Gegensatz zu heute die Justiz des Mittelalters besonders grausam war. Abgesehen von den modernen Foltern des Fascismus, die sich besonders sadistisch und grausam gestalten, läßt auch der moderne Strafvollzug an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig. Hält man sich an die Willkür der Historiker, die das Mittelalter bis zum Beginn der Reformation Pchnen, kann man feststellen, daß in diesem Mittelalter die Justiz nicht ga>^ ohne Gerechtigkeitsgefühl war. Die Justiz war nicht wirklichkeitsftemd, sie stand in gewissem Zusammenhang mit den sozialen Einsichten jener Zeit. Erst als die Fürsten zu absoluter Macht erstarkten und in dem Kampf zwischen der zerfallenden katholischen mit der neugewordenen evangelischen Kirche des Pfaffentums seinen Zelotengeist ungehindert auszuwirken begann, wurde die Justiz barbarisch. Die Stimme des Volkes wurde am grünen Tisch überhört und dl». Justiz zu einem Instrument der Rache und der Abschreckung. Erst nach dem Mittelalter beginnt die gefühllose Grausamkeit in der Justiz., Tiefen ihrer kindlichen Seel« steigt. Wie eS Routine wird, kalte, angeeignete. Wie eS auf ein Zeichen des Film-Operateurs erscheint und verschwindet. Und wenn Shirley das Atelier verläßt, in ihr Auto steigt, das wartend vor dem prunkenden Glaspalast hält, dann— ja dann lächelt sie überhaupt nicht mehr. Denn das Kind ist viel zu müde. Die heiße stickige Lust in den Aufnahmesälen, der Geruch von Schminke und Parfüm, das grelle, zerstörende Licht der Jupiterlampen, der Lärm und all daS Durcheinander— sie sind schuld daran, wenn die abgeschminkte Shirley blaß und müde aussicht, wenn sie mit fünf Jahren das Leiden überreizter Nerven und die Launen einer Primadonna kennt. Unduldsam, leicht erregbar und von krankhafter Sensibilität ist. Kostbares Spielzeug macht Shirley keinen Spaß. Sie hat davon'bis zum Ueberdruß. Zum Lernen ist sie zu müde, Gymnastik ist Arbeit, Pflicht, keine Erholung. ES gehört„dazu". Noch wissen die Eltern nicht, wie eS mit ihrem kleinen Mädchen teht. Sie sonnen sich, wie es so schön heißt, in deffem Ruhm. Wenn sich die WatkinS irgendwo in der Oeffentlichkeit zeigen, bei der Erstaufführung eines„Shirley-Films" oder önstwo, kennt die Begeisterung der Menge kein Ende. Mit neugierigen Augen starrt jeder auf das schön angezogene, zurechtgemachte Kind, sie reißen sich um eine seiner goldblonden Locken, sie rufen ihm laute Worte der Bewunderung zu. Shirley muß knicksen, danken und — lächeln. Man braucht nur ein bißchen die Oberlippe hochzuschieben und den rechten Mundwinkel abwärts. Dann ist das berühmte, hochbezahlte Lächeln da. Man kann dabei ganz unbeteiligt sein und an ganz etwas anderes denken. Zum Beispiel: an Schlafen und Ausruhen. Ueberhaupt: an Jn-Ruhe-gelaffen-werden. Schön muß das sein, denkt Shirley, der arme fleine Filmstar, das arme reiche altkluge Kind. Am Strand Burgen bauen aus feinem Weißen Seesand. Spielen mit verbogenen Blechtöpfen und anderen, ganz gewöhnlichen Kindern. Kindern, die niemand ansieht, außer den eigenen Eltern. Kindern, an denen andere, fremde Menschen gleichgültig vorübergehen. Kindern, die nicht berühmt sind. Die nicht einmal wissen, was das ist, was für eine schreckliche, furchtbare und ermüdende Sache: Ruhm! Vorher waren die Gerichtsverfahren öffentlich. Später arteten sie zum Schauspiel, zur Volksbelustigung aus. Die Errichtung eines Galgens wurde von der ganzen Stadt mit einem Richtfest gefeiert. Ein« Meldung des„Berliner Dienstagischen Mercurius" vom Jahre 1680 aus Hamburg sagt:„Gestrigen Tages wurde für dem Steinthor ein neu Halls-Gericht.. in Zuschauung vieler tausend Menschen auffge- richtet, da etwa der Zimmergesellen 222 ohne di« Schmiedegesellen waren, mit Trommeln uno Pfeifen,.. und verehrte ihnen der Raht 17 Tonnen Bier." Als im Jahre 1788 in London die Hinrichtung eines Verurteilten durch den Strang verschoben wurde, spielten sich widerliche und tolle Szenen ab. Die Zuschauer verlangten ihr Ein» trittSgeld zurück. Der tolle Pöbel, der sich in seiner Erwartung enttäuscht sah, band einem Gerichtsbediensteten einen Strick unter di« Achse» und hängte ihn an den Galgen. So war man auf seine Kosten gekommen... Für manche Vergehen, die heute mit einer kurzen Freiheitssttafe gesühnt werden, erkannte man auf hohe Strafen. Ein« Nürnberger Zei- Aus vergilbten Blättern der Justiz
Ausgabe
15 (12.1.1935) 2
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