BUNTE WELT

Nr. 45

Unterhaltungsbeilage

Die Wühler im Ural

Die Baracken des Materialdepots, an dessen Stelle ein wichtiger Eisenbahnknoten punkt aufgebaut werden sollte, waren in der Mitte des vom Urivald grünlich beschatteten Plateaus errichtet worden. Auf dem Dache des langen Holzhauses, in dem die technische und politische Umjicht gepflegt wurde, stand aufrecht die Fahne der großen Nation. Und aus den blechernen Schornsteinrohren der Wirtschafts­barade geisterte der Rauch des Feuers, das nunmehr Gruscha Orlah und ihre beiden Ge­hilfinnen zu schüren hatten.

Bereits zweihundert Kilometer weit war bei näherem Hinblick in die Wirklichkeit nicht die elfte Geleisbau- Stoßbrigade in die zer- vor der unheimlichen Tiefe zurückgeschredt wer­tlüftete und bewaldete Wildnis des südlichen den dürfe. Die Ingenieure, unter deren Anlei­Urals vorgedrungen. Die Eisenbahn- Haupt-| tungen die vorgeschriebene Bewältigung aller schlagader, die sie bis dahin geschaffen hatte, Hindernisse durchgeführt wurde, kennzeichneten diente einstweilen der weiteren Verwirklichung die Talschlucht 1" als Bärengraben und die des Planes, auch die abseits gelegenen, edelerz- Talschlucht 2" als Wolfskluft. bergenden Diftritte mit fruchtbringenden Gelei­sen zu durchädern. Ueberall an der Strecke häuf­ten sich die Späne der Arbeit. Mit großer Be­geisterung brachen die Männer in die Wildnis ein. Sie erirugen alle Entbehrungen, zu denen fie der Urwald zwang. Und die Bärte, die ihnen wuchsen, verwilderten ihre Gesichter. Als sie in der Höhe 180 angelangt waren, horchten an einem Abend alle, in der großen Baracke über den Brigadier Mitja Jryloff auf. Er hatte zu Beginn der Versammlung den Antrag gestellt, die Debatte über die bevorstehenden Angriffe auf eine überragende Felswand als zweiten Punkt der Tagesordnung zu behandeln, da zuerst über Maßnahmen zur Verbesserung der Lebens­weise diskutiert werden müsse. Er begründete seinen Antrag nicht mit Beschwerden über die Röche und Kantinenfunktionäre; er sagte bloß, daß es in der Brigade niemandem schaden würde, wenn jeder damit aufhören, dürfe, die Reinigung seiner Leibwäsche selbst zu besorgen. Mitja Jryloff, der einer Rotte Stredenarbeiter als Obmann bevorstand, bohrte", da seine Worte Unruhe hervorriefen, leise weiter, auch fehle es an geeigneten Personen, die das Flicken und Nähen verständen. Er wußte sich in dem, was er sich eigentlich lieber offen vom Herzen heruntergesprochen hätte, nunmehr nicht anders zu helfen als, um die anderen dennoch für seine heimliche Absicht zu gewinnen, erbost zu schreien, seine Wäsche läge ihm am Leibe wie Blech. Seine Stimme Klang leise und vor Erregung zitternd. Aber die befremdende Stille, die unter den Versammelten anhielt, besagte deutlicher, als es offene Worte vermocht hätten, daß hier ein Mensch eine Qual zum Ausdruck brachte, an der im Grunde alle litten. Als der Vorsitzende der Versammlung, der zugleich der Führer der Brigade war, schließlich fragte, ob jemand Widerspruch gegen den Anirag erhebe, meldete fich niemand. Mitja zeigte grinsend feine Zähne. Und in großer Ereiferung setzte er es durch, daß einige Frauen von der Brigade bei einer weib­lichen Stoßformation angefordert würden.

Der Materialzug, der vier Wochen später außer dem Proviant, der Post und dem Sani­tätszug, die wohlgeformie, dreißigjährige Gruscha Orlay mit zwei älteren Frauen nach­beförderte, schlängelte sich in spielerisch aus­sehenden Steigungen zwischen den gewaltigen Sockeln hindurch, auf denen die mit Hochivald bewachsenen Felsenkolosse tauerien. In der Höhe von 800 Metern hielt er auf einem Ed­plateau an, auf dem sich als vorläufige End­station das Materialdepot befand. Die beiden steilen, wohl 60 Meter breiten Talschluchten, die sich da kreuzien, waren auf der Karte nur als zwei dünne, sich überquerende Striche zu seben, die unter den trockenen Benennungen ,, 1" und ,, 2" lediglich andeuten sollten, daß da

1936

Einſtweilen kehrten die Kolonnen noch abends von ihren Vorstößen ins Depot zurüd. Die Versammlungen in der großen Barade wurden kürzer, denn die Kantine, in der Gruscha bediente, war ihnen lieber geworden. Mitja Fryloff war der erste, der sich, um Gruscha zu gefallen, den Vollbart abnehmen ließ. Und gar bald verschwanden aus allen Gesichtern die Bärte, die wie unheimliche Masten wirften. Abend auf Abend versuchte Mitja mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber immer drängten sich die anderen dazwischen. Er trant stets am Tre­sen, und sein Gesicht strahlte in einemfort zu ihr hin. Als ihm Gruscha einmal erwiderte, er solle nicht am Tresen herumstehen, fragte er sie in vorwurfsvollem Tone, ob er weniger wert sei, als Alexander Fedorowitsch, den sie bevors zuge. Sie tat, als hätte sie seine Frage nicht ge­hört, und wandte sich ihrer Arbeit zu. Einer, der hinter ihm stand, lachte und klärte ihn dar­über auf, daß sich Gruscha und Fedorowitsch schon vor einigen Jahren in Moskau auf dem Kongreß der Pioniere tennenlernten.

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Während sich ,, die blaue Abteilung" der Brigade anschickte, den Bärengraben und die Wolfskluft mit einem Gespinst von Geist und Stahl zu überbrücken, zerteilte sich der übrige Mannschaftsbestand in Vorstoßkolonnen, um Mitja wurde verschlossen. In den Vers mit Sprengstoff, Bahnschwellen und Schienen sammlungen meldete er sich nicht mehr zum längs des Wolfsgrabens vorzubringen und Wort. Keine Strafe hinderte ihn, die Wildnis dann, jede Kolonne für sich, von verschiedenen zu verlassen. Aber daran dachte er schon gar Abzweigstellen aus den Weg ins hochgelegene nicht mehr; er dachte nur an jie, wie alle, Hinterland, zu den auf der Karte in Aussicht die anderen, die sich in das Weib verliebten, genommenen, weit voneinander entfernten und es voreinander zu verbergen suchten. Ihren Zweigstationen zu bahnen. Neid aber gegen Alexander Fedorowitsch vers mochten sie nicht zu verhehlen. Sie schnitten ihn und bezichtigten ihn voreinander des un tameradschaftlichen Verhaltens. Und die Art, in der sie ihm ihre Eifersucht zu fühlen gaben, wurde bedenklich.

Zuchthaus Erde

Gelbweiß glitzern elektrische Lichter In einem weiten, dumpfigen Naum, Wachsgelb und mager sind die Gesichter. Und die Lungen atmen kaum.

Drüben ragen steil in die Lüfte Nauchende Schornsteine empor, Ragen wie Kreuze über die Grüste, Die das Geschick der Arbeit erkor.

Anch anderswo glitzern gelöweiße Lichter In einem weiten, rauchigen Raum, Wachsgelb und mager auch hier die Gesichter Und die Lungen atmen faum.

Doch die drinnen wissen nichts von Lüften Und kein Schornstein ragt dort drüber empor, Umsonst ringt der Zeitgeist mit Kaffeehaus düften,

Wo er sich selbst freiwillig verlor.

Und keine Lichter, nur Wachsgesichter Und franke Lungen und bleiches Blut, Geschworenen- Urteil und Spruch der Richter hat hier Schicksal gespielt und Volteswert.

Drei Räume und dreierlei Menschen drinnen, Gemeinsamkeit und doch unendliche Kluft. Wieviel Blut wird noch durch die Zeiten rinnen,

Bis Menschlichkeit alle zum Leben ruft?

Mittlerweile wurde die Wolfslinie, die, Teicht ansteigend, am Abgrund entlang führte, beendet. Die Vorstoßkolonnen drangen nunmehr als einzelne Trupps, von den verschiedenen Ab­zweigfurven aus, ins Hinterland. Schotter, Bahnschwellen und Schienen brachten ihnen die Nebenbahn- Materialzüge. Und durch die weite Stille des Urwaldparadieses drangen nun, statt des Gekreisches der aufgestöberten Adler, die schrillen Signale der Lokomotiven, und statt der Spechte, wurde das Geklopfe der Pichaden und der Hammerschläge der Schotterarbeiter laut.

Die letzte Kolonne, die den Auftrag hatte, die Kurve am Ende der Wolfslinie auf eine Hochebene ansteigen zu lassen und dann die Ge leise südwärts über die Hochebene zu verlän gern, bestand aus acht Mann. Zu ihnen gehörte Alexander Fedorowitsch. An jedem Montag fuh­ren sie auf einer Draisine nach ihrer Arbeits­stelle. Dort nächtigten sie in Zelten und tochten ihr Essen im gemeinsamen Kessel. Schotter, Schwellen und Geleise wurden ihnen auf dem neuen Schienenjtrang nachbefördert. Und wenn sie am Ende der Woche, so gegen Abend, auf ihrer Draisine im Schwung der großen Kurve, die von der Hochebene tam, zur Grusche" fuh­ren, ſummien jie, jeder für sich, das Lied der Brigade .

Die Arbeit gedich.

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Mitja Iryloff, der dazu ablommmandiert war, besonders in den Kurven vor dem Abgrund