BOI 111! Nr. 3* Unterhaltungsbeilage 1937

Punkt und Strich erobern die Welt 100 Jahre Morsetelegraph

Anfangs September 1987 feierte die Welt das ISOjährige Jubiläum des ersten geglückten Versuchs, Rachrichten durch den elektromagnetischen Telegraphen zu über­mitteln. Morsetelegraph, Morsealphabet Bezeichnungen, die auf der, ganzen Welt jedermann kennt; aber der Mensch Morse ist so gut wie vergessen, lind doch ist sei» Leben eines der abenteuerlichsten und spannendsten auS der Geschichte der modernen Technik. Ein Experiment auf hoher See Sm 1. Oktober 1832 sticht daS Segelschiff Sullh" in Le Havre in See. Bestimmungs­hafen: New Nork. An Bord befinden stchpro­minente" Passagiere: der Entdecker der Anästhesie, der Arzt CharleST.Jack- f o n aus Boston , und der bekannte Maler S a- muel F. B. Morse , der von einer drei­jährigen Studienreise durch die Stätten der antiken Kunst nach New Nork zurückkehrt. Die Fahrt dauert drei Wochen und ist höchst langweilig. Dr. Jackson führt Zauber­kunststücke und technssche Experimente vor, um die Zeit zu vertreiben; so zum Beispiel einen Elektromagneten: ein husförmigeS Stück wei­ches Eifen, das mit Draht umwickelt ist und .magnetisch wird, sobald und solange durch den Draht elektrischer Strom fließt. Der aufmerksamste Zuschauer ist Morse . Schon als Junge und Student hat ihn neben der Malerei am meisten die neue naturwissen­schaftliche Sparte der Elektrotechnik gefesselt. Aber sein Ehrgeiz lag auf künstlerischem Gebiet. Sohn eines Kleinstadtpastors in Massachusetts , hat er sich hart durch beißen müssen; heute Hai er das Schwerste überwunden, er gilt als be­gabter Maler, er ist Präsident der Kunstaka­demie junger Maler, er fährt, mit vierzig Jah­ren, einer Zukunft entgegen, die ihn zu noch größerem, künstlerischem Ruhm und Erfolg zu leiten verspricht. In diesem Punkt seines Lebens macht ihn der Zufall zum Zuschauer des elektromagneti­schen Experiments aus derSullh"; ein Zufall, der sein Leben in eine völlig ungeahnte Rich­tung lenken sollte. Wenn die Gegenwart oder Abwesenheit der Elektrizität an irgend einem Punkt des Stromkreises, der durch den Elektromagneten geschloffen oder geöffnet wird, sichtbar gemacht werden könnte dann ließen sich Gedanken elektrisch übertragen!" Das ist der Gedanke, der bei diesem Experiment auf hoher See in dem Maler Morfe aufleuchtet. Eine alle Malerstaffelei Noch während der lleberfahrt machte er sich an die Arbeit. Sein Skizzenbuch füllt sich mit technischen Zeichnungen. Morse ahnt, daß die Welt reif ist für dieses Nachrichieninstrn- uienk. Die Gütererzeugung hat sich durch die Erfindung neuer Maschinen, durch die neuesten

Erkenntnisse der NaturvMenschast ungeheuer vermehrt, der Warenaustausch ist zur Lebens­notwendigkeit der BLlker geworden; nur neue Verkehrsmittel, wie Eisenbahn und Dampf­schiff, neue Nachrichtenmittel wie der Telegraph können die nötige Schnelligkeit im internatio­nalen Austausch von Waren, Menschen und Nachrichten gewähren. Daheim in New Nork beginnt Morse die Malerei zu vernachlässigen, seine Erfindung beschäftigt ihn viel mehr. Er hungert sich durch, lebt von Tee und Zwieback, gibt Zeichenunter­richt. Ja höchster Not erhält er eine Professur für Zeichnen an der New Forker Eity-llniver- sität. Das kleine Gehalt erlaubt es ihm, mit dem Bau eines primitiven Modells anzufangen. Es istnatürlich, möchte man sagen eine alte Malerftaffelei, die daS Grundelemem eines Telegraphen blldet. Ferner besteht er aus einem selbst gewickelten Elektromagneten, den Rädern einer kaputten Holzuhr, einem Stück­chen Bleistift, einem Streifen Papier und einer einzelligen galvanischen Batterie. Zwei Jahre lang experimentiert Morse mit diesem Apparat, ganz allein, ohn^fachmännischen Helfer. Mehr als 14 Meter kann er nicht überbrücken, der an­kommende Strom ist zu schwach. Morse suchi einen Ausweg und erfindet ein Instrument, ohne das die ganze fernere Entwicklung der Nachrichtentechnik undenkbar wäre: das Relais. So hießen die Poststafionen, an denen die müden Kutschpferde misgespannt und durch frische Gäule erseht wurden das Gleiche spielt sich hier auf elektrischem Gebiet ab: der schwach ankommende Strom braucht nur einen winzigen Elektromagneten zu betätigen, der einen neuen Stromkreis mit eigener Batterie schließt. So lassen sich endlose Reihen von Stromkreisen aneinanderreihen der Tele­graph kann jede Entfernung überbrücken! Der 4. September 1837 Die Erfindung des Relais macht Morse mit AlfredBail, einem Studenten der Universität, bekannt, der seinen Vater, einen Eisenwerksbesitzer, zu einer Beteiligung an Mörses Erfindung mit ein paar tausend Dollar veranlaßt. Bail, von Mörses Idee begeistert, krempelt sich die Aermel boch und beginnt sofort, statt des lächerlich primitiven Staffeleimodells, einen technisch einwandfreien Apparat zu bauen. Mit diesem Telegrapben findet am 4. Septem­ber 1837 in der Eity-Universitäi das erste große Experiment vor Studenten und Profes­soren statt. Ouer durch das Gebäude sind die Drähte gespannt, klar und deutlich werden die Zeichen empfangen und auf dem Papierstreifen notiert: suoooookuU experiment with telegraph September 04 1837 Aber die Zeichen des Apparats sind noch unpraktisch; der vom Elektromagneten bewegte

Bleistift matt Zacken auf den Papierstreifen, die nach einem komplizierten Zahlensystem zu- sammeugestellt wurden. Zum Erfolg des Tele­graphen gehört eine einfache Schrift, ein überall verständliches Alphabet. Morfe nimmt irgend­eine alte Zeitung zur Hand, zählt die einzel­nen Buchstaben nach der Häufigkeit ihres Bor­kommens ab und gibt ihnen ein Zeichen seines Alphabetes, das nur aus Puntten und Strichen bestehen soll: der häufigste Buchstabe im Eng­lischen ist dase" es erhält einen Puntt; dann folgt daSt", das einen Strich bekommt; i" wird zwei Punkte,m" zwei Striche,a" K Punkt-Strich,n" Strich-Punkt und so weiter. Das Puntt-Strich-Alphabet wird am 24. Jänner 1838 in der Universität veröffent­licht. Jetzt kommen die Zeichen durch 10 Meilen Draht klar und leicht an, werden schnell und einfach abgelesen. Morse führt seine Erfindung dem Kongreß vor. Präsident und Regierung sind begeistert, 30.000 Dollar zum Bau einer Telegraphen­linie werden beantragt. Aber eine Wirtschafts­krise macht Mörses Hoffnungen zunichte. Das Abgeordnetenhaus hat Wichtigeres zu tun, als Mörses Geld zu bewilligen. Alfted Bails Vater will sich zurückziehen. Alles sieht verzwei­felt aus. Au<T in Europa , das Morse wieder besucht, will man nichts von seinem Telegraphen wiffen. Oie Ernte Eia letztes Gesuch MorseS an den Kongreß im Dezember 1842 hat endlich Erfolg. Das Abgeordnetenhaus bewilligt das Geld mit 88. gegen 83 Stimmen, nachdem der alte Bail, selbst Abgeordneter, seine sechs Landsleute aus New Jersey in letzter Minute für Morse be­arbeitet hat. Nun must noch der Senat zustim­men. DieMorse-Bill" ist der letzte Punkt der Nachtsttzung vom 3. Marz 1843. Die Chancen stehen denkbar ungünstig. Verzweifelt fährt Morse noch vor der Abstimmung aus Washing - | ton zurück nach New Nork. Am nächsten Tag weckt ihn die Tochter eines Senators, der soeben aus Washington zurückkam: seineBill" ist lange nach Mitternacht ohne Debatte ange­nommen worden, Morse wird 30.000 Dollars zum Bau einer Bersuchslinie Wasbmgton Baltimore erhalten. In diesem Augenblick be- sivt er noch siebenunddreitzig und einen halben Cent... Sofort nach der Unterschrift des Präsi­denten und der Auszahlung des Geldes wird dkr Bau begonnen. Morse läßt Maste anfstellen, und sein neuer Kompagnon, der ehemalige Patentpflugvertreter Ezra Cornell , besorgt den Drabt und zieht ihn selbst von Mast zu Mast. In 8 Wochen ist entlang der 60 Kilometer- Strecke die Leitung fertig. Am 24. Mai 1844 tickt der Telegraph die ersten Worte auf der neuen Leitung, den BibelspruchMath Hath God Wrongbt",Was Gott gefügt bat". Die Zeichen kommen so klar an, als kämen sie aus