Nr. 44 Unterhaltungsbeilage 1937 Genie und Weltrekord...! Vom Arbeitsfleifi des Künstlers und des Geistesarbeiters berichtet von Friedrich Steiner Das Wesen unseres Zeitalters wird ge­kennzeichnet durch eine bis ins Höchste ent­wickelte Technik, die als Helferin in alle LebenSgebiete eingreift. Man sollte deshalb annehmen, daß die Leistungen auf jedem Ge­biet nicht nur qualitativ, sondern zunächst quantitativ einen Rekord aufweisen würden, wie ihn dieunsachlichen" undromantischen" Epochen der Vergangenheit niemals erreichen konnten. Und doch zeigt uns bereits eine flüchtige Wanderung durch die Geistes­geschichte der Menschheit ein anderes Bild: Ueberrascht müssen wir feststellen, daß das Genie aller Zeiten sich nicht nur einzigartig in der schöpferischen Idee seines Werkes sich offenbart, sondern Staunen und Bewunde­rung erweckt in uns heutigen Menschen die Tatsache, daß eine kaum glaubliche Fleißarbeit von jenen schöpferischen Menschen geleistet wurde, um jenen großartigen SchaffenSpro« zeß zu fördern, den uns Dichter, Denker, Wissenschaftler und Künstler als Erbe zurück­gelassen haben.... Kotzebuesche Fruchtbarkeit... ein Name ist sprichwörtlich geworden für die Fruchtbarkeit schriftstellerischen Schaffens: Friedrich von Kotzebue  , der erfolgreichste Dra­matiker des 18. Jahrhunderts, dessen Gesamt­wert 54 Einzelbände umfaßt, die 211 Schrift« , stücke enthalten. Nebenbei war dieser ideen­reiche und unerschöpfliche Schreiber noch Herausgeber verschiedener literarischer Zeit­schriften und spielte als Politiker eine gewich­tige Rolle. Als Kotzebue am 23. März 1819 mit 58 Jahren dem Mordanschlag des Stu­denten Sand zum Opfer fällt, verliert Deutschland   mit ihm einen seiner witzigsten, fleißigsten und einfallsreichsten Köpfe... Den Weltrekord im Romanschreiben hält immer noch der ältere Dumas. Mehr als dreihundert Bände hat der Fleiß dieses unermüdlichen und phantafievollen Vielschrei­bers gezeugt: er hat die ganze Weltgeschichte gewissermaßen in Romane zerschnitten und die chronique scandaleuse" seines Zeitalters mit seiner geschickten Feder in tantiemenbringende Bücher verwandelt.... DerNapoleon der Feder", wie Balzac   sich einmal selbstbewußt und stolz bezeichnete, entstammt ebenfalls dem klassi­schen Land des Romans Frankreich. Seine Popularität gründet sich aber nicht wie bei Dumas, auf den Reichtum seiner Produktton, sondern in erster Linie auf sein großes schrift­stellerisches Können. Honorö de Balzac   hin­terließ der Welt ein literarisches Werk von annähernd hundertfünfzig Bänden. Dabei muß man bedenken, daß dieser tttanenhafte Mensch, der als Fünfzigjähriger starb, daS Leben eines durchs Dasein Gejagten und Ge­hetzten führte, der sein Leben lang an die Kette seiner Schulden gefesselt blieb, der beständig im Kampf mit seinen unerbittlichen Gläubi­gern lag, der in mehr als ein Dutzend Be­rufen, als Redakteur, Verleger, Börsianer u. a. seinGlück zu machen" versuchte und sozusagen nur nebenberuflich schrieb. Die Idylle geruhsamer Schreibtischarbeit war Bal­ zac   ebenso fremd wie die gepflegte und kultt- vierte Behaglichkeit eines eignen Heims, das die Jnspiratton reifen läßt. Er hauste in seinemFuchsbau", der mit Falltüren und Tapetentüren versehen war, um jeden Augen­blick flüchten zu können, wenn die Meute sei­ner Gläubiger und Gegner ihm dicht auf den Fersen war.... Der klügste Kopf deS 18. Jahrhunderts muß Voltaire   genannt werden, der literarische Wegbereiter des revolutionären Frankreichs  , der ein außerordentliches Maß von Arbeits­kraft als Schriftsteller bewiesen hat. Allein seine philosophischen und juristischen Schrif­ten umfassen ca. siebzig Foliobände und rech­net man noch seine zwei Dutzend Theater­stücke, seine Romane und zahlreichen Novellen, Aufsätze, Streitschriften und journalistischen Arbeiten hinzu, so wird die Zahl von hundert Bänden eher zu gering als zu hoch geschäht sein....' Als letzter Franzose, der in die Reihe dieser hochbegabtenVielschreiber" eingeord­net gehört, sei auf Emile Zola   verwiesen, dessen dichterische und polemische Arbeiten fast sechzig Bände füllen.... Der spanische Kotzebue... waS man in Deutschland   mit dem Schlagwort Kohebuescher Fruchtbarkeit" bezeichnet, hat im Spanien   des 16. und 17. Jahrhundert in dem berühmten Theaterdichter Lope de Vega  gleichsam ein Pendant gefunden. Der Fleiß und die schriftstellerische Bielseittgkeit dieses spanischen Autors sind in seinem Heimatland ebenso sprichwörtlich geworden wie Kotzebue  in Deutschland  . Lope de Vega   hat sich als Tummelplatz für seine dichterische Muse vor­zugsweise die Bühne erwählt. Er verfaßte für das spanische Theater eintausendfünfhun­dert Komödien, nicht eingerechnet die zahlrei­chen kleinen Bühnenspiele(Loas- und Enter« neses) sowie vierhundert autos sakramen­tales, sogenannte kleine Mysterienspiele, wo­bei noch nicht seine Prosaschriften belehren­den und unterhaltsamen Charakters berück­sichtigt sind, die allein 21 Bände füllen. Sein größter Rivale war sein Landsmann und Zeitgenosse Calderon  , der es allerdings nur auf zweihundert große Bühnenwerke und acht­zig autos sakramentales brachte, aber trotz­dem als ebenbürttg seinem Kollegen Lope de Vega   an die Seite gestellt werden darf Ein genialer Bielschreiber aus der Antike ist der große griechische Philosoph und Natur­forscher Aristoteles   gewesen. Seine Schriften, soweit die Forschung hier Anhaltspunkte ge­funden hat, dürften Wohl mehr als fünfzig Foliobände füllen. Doch sind leider der Nach­welt nur zehn Bücher erhalten geblieben.. Ein mittelalterlicher Gelehrter von großem Fleiß war der um 1225 n. Ehr. geborene philo­sophisch-theologische Schriftsteller Lullus  , von dem wir heute noch einige hundert wissen­schaftliche Abhandlungen besitzen. Sein Wis­sen war enorm, berichtet uns sein Chronist und erwähnt, daß die tatsächliche Zahl seiner Werke annähernd viertausend betragen habe, die aber größtenteils bei einer Feuersbrunst vernichtet worden sind.... Ein Genie aus der italienischen Renaissance» der große italienische Maler Lionardo da Vin­ ci  , hat nicht nur als bildender Künstler Her­vorragendes geleistet, sondern hat sich auch als Naturwissenschaftler, Ingenieur und Phy­siker großen Ruhm bei seinen Zeitgenossen erworben. Die Tagebücher, mathematischen Berechnungen und verschiedenen wissenschaft­lichen Abhandlungen Lionardo da Vincis stel­len eine enorme Leistung dar. Sie allein umfassen fünftausend Folioseiten. Ein gigan­tisches Arbeitspensum, wenn man bedenkt, daß Lionardo   diese diffizile Geistesarbeitzwi­schendurch" in den Arbeitspausen vollbracht hatte.... Dichter Dramatiker Wissenschafter und Maler.... bevor wir noch einmal auf Deutschland   zu sprechen kommen, sei hier des schwedischen Dichters August Strindberg   gedacht, der sich in vielseittgster Weise betätigte und der auf den verschiedensten geistigen und künstlerischen Gebieten Bedeutsames geleistet hat. Strind« bergS schriftstellerisches Erbe umfaßt etwa sechzig Bände. Die Bilder, die er gemalt, zäh­len zweihundert Einzelstücke. Außerdem er­wies sich der große Romancier und meist- gespielteste europäische   Bühnenautor als ein äußerst sprachbegabter Mensch, der beispiels­weise in Paris  , wo er chinesische Schriften katalogisierte, innerhalb eines Jahres die Be­herrschung dieser außergewöhnlich schwierigen Sprache sich aneignete.... Zwei Wissenschafter als geniale Biel­schreiber.... um mit Deutschland   den Beschluß zu machen, sei noch an den berühmten Mathematiker Leonhard Euler   erinnert, der den ehrenden BeinamenFürst der Wissenschaft" verliehen bekam. Hätte man all seine Arbeiten gedruckt, sie würden mehr als dreißig Lexikonbände um­fassen. Der bedeutsame Gelehrte, Schriftsteller und Weltreisende Alexander v. Humboldt   muß hier genannt werden. Obwohl das Lesepubli­kum meist nur seine populärsten Werke kennt die SchriftenKosmos" undAnsichten der Natur, sei hier darauf hingewiesen, daß die gesammelten Aufzeichnungen von Hum­boldts Forscher- und Denkarbeit mehr als