urtheilung von Sachen( z. B. Abstimmung über Gesetze) han= delt, aus dem einfachen Grunde, weil Herz und Nieren einer Person unendlich schwieriger zu prüfen sind, als der Kern einer Sache, d. h. Sinn und Geist eines Gesetzes; weil es weit leichter ist zu beurtheilen, ob ein Gesetz im Interesse der ar­beitenden Massen gemacht ist, als ob ein Rathsherr immer im Interesse des Volks reden und stimmen werde.

Somit wäre der Prüfstein, womit man das wahre vom falschen Golde unterscheiden kann, folgender:

In der wahren, der reinen Demokratie oder Volksrepublik befaßt sich das Volk nicht nur mit den Personen( Rathswahlen), sondern auch und vor Allem auch mit den Sachen( Gesezen). In der falschen, der repräsentativen Demokratie oder Bourgeois republik darf sich das Volk einzig und allein nur mit den Bersonen( Rathswahlen) befassen, welche dann die Sachen ( Gesetze) maden und zwar nach ihrem eigenen Gutdünken, Vor­theil und Vorurtheil. Die Bourgeoisdemokraten wollen, daß nur sie das Volk regieren sollen zum Vortheil Weniger. Die Sozialdemokraten wollen, daß sich das Volk selbst regiere zum Vortheil Aller, dadurch, daß es die Gesetzgebung in seine eigene Hand nimmt, sie selbst besorgt und nicht mehr besorgen läßt, d. h. die Selbsthülfe in unbeschränktestem Maße, also auch auf politischem Gebiete, in Anwendung bringt.

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Die Weltgeschichte beweist zum Ueberfluß, daß das Gesetz stets nur das geschriebene Interesse des Gesetzgebers ist; prosaisch ausgedrückt kann man sagen: der Geist des Ge­setzes liegt im Bauch des Gesetzgebers, die Quintessenz der Gesetze wird durch den Geldsack der Gesetzgeber bestimmt. Dies ist um so wahrer, wenn es sich nicht um einen Einzelnen, son­dern um eine ganze Klasse, nicht um Einzeln-, sondern um Klaffenherrschaft handelt. Noch nie hat die ausbeutende Klasse die ausgebeutete emanzipirt, oder freiwillig für die letztere günstige Gesetze erlassen. Erst wenn die ausgebeutete Klasse Meister im Staate wurde und die Gesetzgebung selbst in die Hand nahm, wurde das Gesetz in ihrem, d. h. dem mehr all­gemeinen Intereffe gemacht; erst dann konnte sie sich auch ihren sozialen Bedürfnissen entsprechend entfalten. Was aber vom dritten Stande, der Bourgeoisie gilt, ist nur um so wahrer, wenn es sich um den Arbeiterstand, um das ganze Bolt han delt. Wie der chemische Keim, d. h. der innere Trieb einer Pflanze zum Gedeihen physische Eigenthümlichkeiten, d. h. äußere Verhältnisse, wie günstiges Erdreich und Klima braucht, so brauchen auch die innern, so zu sagen chemischen Triebe der Gesellschaft, die sozialen Ideen, zu ihrer naturgemäßen Ent­faltung, zu ihrem Emporkeimen im praktischen Leben, eine eigenthümliche, physische Staatsform, d. h. günstige äußere Ver­hältnisse, und diese sind ja eben die sozial- demokratischen Gesetze, welche niemals von Fürsten oder Pfaffen( die den Himmel hienieden schon haben) gemacht werden können, son­dern nur von den arbeitenden Massen, die eine solche soziale Umgestaltung, ein menschenwürdiges Dasein hienieden sehnlichst herbeiwünschen. Kein Heiland wird je das Volk erlösen, es muß sich selbst erlösen. Daher der allgemeine Drang der Völker Europas nach Emanzipation. Wie die Pflanze im dunklen Gewölbe gegen das Kellerloch nach dem Sonnenlicht hin wächst, so strebt auch die Arbeiterwelt Europa's aus der dumpfen Monarchie an die lichte Demokratie. Das Volk wird in der Freiheit den rechten Weg zur sozialen Erlösung schon instinktmäßig fühlen, eben weil es die Leiden tagtäglich empfindet, die ihm den nöthigen Ansporn auch geben, die Ur-. sache und Abhülfe der Noth kennen zu lernen.

Es wird im wahren Volksstaate, wo ihm durch die direkte Gesetzgebung das Werkzeug zur permanenten Bewegung in die Hand gegeben ist und die Bahn zur ewigen friedlichen Revo­lution offen vor ihm liegt, nicht nach vorgefaßten Sozialtheorien, sondern nach den sich praktisch fühlbar machenden Bedürfnissen neue Formen und Gesetze schaffen, und es wird, wie in der Schweiz , durch den Bleistift und nicht mehr durch die Feuer­

Berantwortlicher Redakteur: W. Liebknecht

waffe, durch blutige Revolution, wie im despotischen Staat, seinen Willen zur Geltung bringen.

Die Befürchtung, die idealen Errungenschaften der Mensch­heit werden im sozialdemokratischen Staat weniger gefördert und gepflegt, als in monarchischen oder repräsentativen Staats­formen, ist eine eitle, denn die Geschichte beweist, daß je freier ein Volt, desto opferwilliger ist es auch für Bildungszwecke, weil es einsieht, daß nicht der geisttödtende, unfruchtbare Glaube, sondern nur die geisteserhebende, befruchtende Wissenschaft die Welt erlösen kann. Gerade die direkte Gesetzgebung durch das Volk ist die für die Förderung der Volksbildung allergünstigste Staatsform, denn Jedermann hat ein Interesse daran, daß sein Nebenmensch, der ja zum Gesetz auch etwas zu sagen hat, diese seine Stimme mit Bewußtsein abgebe, und vor allem werden diese sogen. Gebildeten, welchen die direkte Gesetzgebung durch das Volk vorkommt wie ein moderner Einbruch der Bar­ baren , ein Untergehen aller Cultur, das allergrößte Interesse daran haben und willig dazu Hand bieten, daß man die Massen unentgeltlich und dazu noch möglichst gut schule und die höheren Lehranstalten jedem Befähigten zugänglich seien.

Uebrigens ist die direkte Gesetzgebung an und für sich schon ein gewaltiges Bildungsmittel, weil das Volk durch sein naheliegendes Interesse angeregt wird, sich Belehrung zu ver­schaffen, damit es trotzdem nicht noch von der sog. höheren ( Ber-) Bildung und juristischen Spitzfindigkeiten übertölpelt und ausgebeutet werde.

Seltsamerweise können gerade diese sog. Gebildeten, welche die direkte Gesetzgebung für unfähig halten, die idealen Güter der Menschheit zu pflegen und daher dieselbe als einen Rück­schritt bezeichnen, nicht genug die alten Griechen bewundern, als die Hauptträger der Civilisation des Alterthums und denken nicht daran, daß gerade die fortgeschrittenſten aller Griechen, die Athener , direkte Gesetzgebung durch das Volk d. h. seine freien Bürger hatten und daß gerade diese Staatsform zur Entfaltung des attischen Geistes am wesentlichsten beitrug, denn mit der Unterdrückung dieser Staatsform, mit der Fremd­herrschaft, verschwanden auch die großen Geister.- Die alten Germanen hatten auch direkte Gesetzgebung durch das Volk in ähnlicher Organisation, wie sich noch durch lange Jahrhunderte in den kleinen Landsgemeinde- Kantonen der Schweiz erhalten hat. Die Germanen huldigten dem Staatsgrundsatz: Jeder freie Mann soll Gesetzgeber , Wehrmann und Richter sein. Seltsamerweise konnten die gesetzes-, friegs- und rechts­fundigen Römer alle Bölker der Welt unterjochen, nur gerade dieses staatlich doch so zersplitterte Volk der Germanen nicht; Warum? Eben weil Volksgesetzgebung, Volkswehr und Volks­gerichte in ihm zu Fleisch und Blut geworden und Männer erzeugt hatten, an deren Urkraft Roms Allmacht zerschellte. Leider wurden im Laufe der Zeiten die Deutschen so einfältig, die römische Dreifaltigkeit( Gottvater, Sohn und heil. Geist) der germanischen Dreieinigkeit( Gesetzgeber, Wehrmann und Richter in einer Person) vorzuziehen, und sie werden so lange von Pfaffen und Cäsaren mit glühenden Zangen gezwickt werden, bis sie die uralten, gemischten Staatseinrichtungen: Voltsge setzgebung, Volkswehr, Volksgericht wieder auf den Scheffel stellen. Die alte Demokratie, welche durch monar chischen Unverstand und Pfaffenglauben dem Bolke entrissen worden, muß durch Vernunft und Wissenschaft wieder zurüc erobert und zeitgemäß entwickelt werden. Jedermann muß wieder Gesetzgeber, Wehrmann und Richter werden; er muß diese Rechte und Pflichten zeitweise ausüben und zwar in ei­gener Person. gener Person. Hier ist keine Arbeitstheilung, keine Ueber­tragung an andere möglich, ohne der Knechtschaft zu verfallen. Verzichtet das Volk auf das Recht über Geseze endgültig zu entscheiden, überläßt es diese Pflicht einem Einzigen oder nur Wenigen, so werden diese bald sich ras Recht herausnehmen, die Geseze nur für sich und gegen das allgemeine Wohl zu machen. ( Schluß folgt.)

Drud und Verlag. Thi