Ein Tag der deutschen   Schmach!

Rückblick auf den Judenboykott vom 1. April 1933

Reldiskanzler verantwortlich!

" Es rast der See und will sein Opfer haben!"

In völliger Verkennung der Stimmung in der Welt wurde am 27./28. März in Besprechungen zwischen Reichskanzler Hitler   und Reichspropagandaminister Göbbels   auf Hitlers Landsitz bei Berchtesgaden   der Bontott gegen die deutschen   Juden beschlossen. Der neue Reichs­propagandaminister stand angesichts der wachsenden Welt­bewegung gegen die Terrorgreuel in Deutschland   vor seiner ersten großen Fachaufgabe. Es hat sich herausgestellt, daß er lediglich über die Register der unwahrhaftigen Massenauf­peitschung aus seinen Versammlungen verfügte. In jahre­langer Agitation unter sinnlos aufgepeitschten Massen hat er fich ein Maß von Zynismus und Menschenverachtung an­geeignet, das ihn unfähig macht, echte moralische Empörung, die die ganze Welt ergriffen hatte, zu verstehen. Er glaubte, der öffentlichen Meinung des Auslandes gegenübertreten zu können wie einer von nationalsozialistischem Rausch be­fallenen Maffenversammlung. Die Empörung des Rechtes und der Gesittung sollte unter den Stiefelabsab getreten wer­den. Von aller sittlichen Wertung abgesehen, bedeutete dieser Boykottbeschluß ein trauriges Armutszeugnis der neuen Machthaber. Alle Höllenhunde der antisemitischen Hezze wurden unter Führung des Radauantisemiten Julius Streicher   aus Nürnberg   entfesselt.

Es ist in der Weltgeschichte noch nicht dagewesen, daß eine Regierung, weil ihr die moralische Verurteilung der unter ihrer Herrschaft verübten Greuel in der öffentlichen Meinung der Welt mißfiel, nunmehr ganz offiziell die Judenverfol­gung betrieb. Es muß festgestellt werden,

daß eine Trennung zwischen Regierung und nationalsozia= listischer Partei bei dieser Judenverfolgung nicht vor­genommen werden darf.

Dieser Boykott gegen die deutschen   Juden war eine offizielle Represalie gegen die öffentliche Meinung des Auslandes. Es ist ein Zeugnis für den ganzen Mangel an Verständnis für den Geist des Auslandes bei den neuen Machthabern, daß sie glaubten, mit einem solchen brutalen Bekenntnis zum Pogrom auf die Mentalität z. B. der englischen Konserva­tiven wirken zu können! Weil aus konservativer Anhänglich­keit an die Grundprinzipien des Rechtsstaates die öffentliche Meinung, beispielsweise in England, sich einhellig gegen die Judenverfolgungen empört hat, sollten die deutschen   Juden nun erst recht verfolgt werden! Damit wurde manifestiert, daß der Bruch mit dem Rechtsstaat vollständig war, daß alle Grundrechte, die nicht nur auf dem Papier der Berfassung von Weimar   standen, sondern auf tief ein­gewurzelter moralischer Ueberzeugung beruhten, aus gestrichen waren.

Der gelbe Fleck

Am 29. März veröffentlichte die Nationalsozialistische Par­tei ihren Boykottaufruf gegen die deutschen   Juden. Am selben Tage erklärte Reichskanzler Hitler   in einer Kabinettsizung, seine Partei habe diesen Boykott proflamieren müssen, um spontanen Aktionen zuvorzukommen und sie zu kanalisieren". Diese politische Moral nach dem Grundsay: Wenn andere spontan Juden totschlagen wollen, so schlage ich sie selber organisiert tot, ist der Beweis für das absolut enge Zu­sammenspiel der Spitze der Reichsregierung mit der Natio­ nalsozialistischen   Partei in der Verfolgung der Juden.

Das Reichskabinett wurde durch den in Berchtesgaden   ge= faßten Beschluß und den Boykottaufruf vor eine vollendete Tatsache gestellt.

Der Boykottaufruf der NSDAP  . überschlug sich in aufheben­den Tönen. Es hieß darin: Gewissenlose landesverräterische Hetzkampagne... Lügenmeldungen, Greuelmärchen... Ein Klüngel jüdischer Literaten, Professoren und Geschäfte­macher... Verantwortlich sind die Juden unter uns." Es wurde aufgefordert, überall Aktionskomitees gegen die deutschen   Juden zu bilden, die Zeitungen auf das schärfste zu überwachen, damit sie die Boykottaufforderung an führender Stelle abdruckten, Tausende von antisemitischen Massen­versammlungen zu veranstalten und besonders die Juden auf dem flachen Land zu verfolgen. Am 30. März erfolgten neue Anordnungen, unter denen besonders die Aufforderung her= vorstuch, jüdische Geschäfte mit einem gelben Fleck auf swarzem unde zu kennzeichnen.( Der gelbe Fleck war im Mittelalter, aur Zeit des Ghettos, das Zeichen, das Inden

Wir drucken nachstehend einen Abschnitt aus einer demnächst erscheinenden Broschüre ,, Drei Monate Hitlerherrschaft". Das Kapitel behandelt den Judenboykott, und zwar ist es nicht nur eine Zusammenstellung des bisher bekannten Materials, sondern fügt auch neue Tatsachen hinzu.

,, Die Stunde ist da"!

Schon am 30. und 31. März erfolgten in allen Teilen Deutschlands   Boykottaktionen. Am 31. März, abends, jubelte das Organ des Reichspropagandaministers Göbbels in Ber­ lin  , der Angriff":" Die Stunde ist da". Am 1. April rollte fich das traurige Schauspiel des Judenboykotts ab, das auf ewig eine Schande für Deutschland   bleiben wird. Was an diesen Tagen an ideellen Werten in Deutschland   und für Deutschland   zerstört worden ist, ist unübersehbar. Die Schließung von Geschäften, die Beschimpfung jüdischer Ge­schäftsinhaber, die Beschmierung ihrer Geschäfte mit un­flätigsten Beleidigungen, die Zerstörung ihres Kredits, die Entfesselung des gemeinsten Konkurrenzneides und der riedrigsten Radauinstinkte, das war das Werk der neuen Machthaber.

Der Haß und die Verblendung gingen soweit, daß jüdische Kinder aus den Schulen nach Hause geschickt wurden, mit der Begründung, daß an jüdische Kinder kein Schulunters richt erteilt werden dürfe!

Die Proteste

Es muß zur Ehre des deutschen   Volkes fest­gestellt werden, daß sich trotz dem Terror überall Stimmen des Protestes, des Zornes und der Empörung gegen die Boy­kott- Banden des Reichskanzlers und des Reichspropaganda­ministers erhoben haben. Es zeigte sich, daß die Moral im deutschen   Volke noch nicht völlig erloschen ist. Aber dieser Tag der Schande und des Jrrsinns läßt sich nicht auslöschen. Die willfährigen Organe der Regierung versicherten, es sei alles in völliger Ruhe und ohne Störung der Ordnung ab­gegangen. Nachrichten über schwere Ausschreitungen wurden unterdrückt. In Kiel   verteidigte sich ein aufs schwerste be­drängter Jude mit der Waffe gegen eine Pogrombande. Die amtliche Meldung fälschte den Tatbestand in einen unprovo­zierten Angriff des Juden um. Der Unglückliche wurde später von den Pogrombanden aus dem Polizeigefängnis herausgeholt, ohne daß die Polizei ihn schüßte. Er wurde ermordet.

Es ist kein Zweifel, daß die Befristung der öffentlichen Boykottaktion nicht zuletzt auf die ungeheure Empörung zu­rückzuführen war, die sich der öffentlichen Meinung des Auslandes bemächtigt hat. Aber der stumme Pogrom wurde

sichtslos auf die Straße geworfen, jeder jüdische Name aus dem Redaktionsstab ausgemerzt. Damit aber nicht genug. Der jüdische Besizer dieses Verlages hat fich dem Druck des antisemitischen Terrors so weit gefügt, daß er 120 jüdische Angestellte seines Ver lages, darunter kleinste Leute mit niedrigstem Einkommen auf Verlangen der Boykotthetzer auf die Straße ge= worfen hat. Diese Angestellten haben sich nichts zuschulden femmen lassen, sie sind brotlos gemacht worden und gehen einem traurigen Lose entgegen, nur, weil sie Juden sind!

Eine derartige Unterwerfung eines bisher im Ausland hoch angesehenen Verlages unter den niedrigsten Antisemitis mus läßt auf die Stärke des stummen Pogromes schließen. Das Mittel, das vorzugsweise dabei angewandt wird, ist die Drohung mit der Auflösung von Bankverbindungen und Kreditdrosselung. Es sind daran Banken beteiligt, an deren Spize bisher noch in der ganzen Finanzwelt hoch angesehene Juden stehen. Bis jetzt noch!

Der Tietz- Konzern

Dieselbe Drohung wurde auch gegen andere Unter nehmungen angewandt: Am 5. April meldete die Handels­Presse:

Die folgenden Vorstandsmitglieder der Leonhard Tiet AG., Köln  , haben dem Aufsichtsrat ihre Aemter zur Ver­fügung gestellt: Dr. Alfred Leonhard Tieß, Julius Schloß, Franz Levy, Franz Baumann, Gerhard Tiez. Ferner haben die Herren Mar Grünbaum, May Baumann, Albert Bendir, Frizz Hochheimer, Kurt Meyer  , Louis Schloß, Dr. Frizz Oppenheimer, Dr. P. Rosenberg ihre Aemter als Mitglieder des Aufsichtsrates der Gesellschaft niedergelegt. Bei der Tochtergesellschaft des Unternehmens, der E. H. P. A. G. für Einheitspreise, Köln  , sind die Herren Dr. Eliel, Franz Levy, Julius Schloß und Gerhard Tietz aus dem Aufsichtsrat, die Herren Ernst Baumann   und Hans Gahen aus dem Vorstand ausgeschieden."

Ebenso hat das gesamte Präsidium des Verbandes deutscher  Waren- und Kaufhäuser E. V., Berlin  , seinen Rücktritt er­flären müssen, das geschäftsführende Präsidialmitglied, Pro­fessor Georg Bernhard   mußte endgültig aus dem Verbande ausscheiden.

nun erst recht mit verbisfener Wut weiter durchgeführt. Er Verzweiflung

richtete sich in erster Linie gegen jüdische Intellektuelle, Richter, Rechtsanwälte und Aerzte.

Was jüdische Gelehrte und Forscher, was jüdische Philan tropen und Aerzte in Deutschland   für das Bolt und seine Wohlfahrt wie für die Wissenschaft geleistet haben, soll von der antisemitischen Welle ausgelöscht werden.

Das stumme Pogrom

Die Verfolgung und Eristenzvernichtung der Juden ist grausam und schrankenlos. Die Zahl der jüdischen Rechts­anwälte, die an den Gerichten zugelassen werden, wird über­all auf ein lächerliches Minimum beschränkt. Aus den Krankenhäusern sind jüdische Aerzte restlos verdrängt worden. Die Zeitungen wurden gezwungen, jüdische Redakteure und Mitarbeiter zu entlassen. In wirtschaftlichen Organisationen Börsenvorständen, Maklervereinigungen wurden die Juden hinausgeworfen. In den Schlacht- und Viehhöfen werden jüdische Händler und Metzger nicht mehr zugelassen. Täglich laufen aus allen Teilen des Reiches Meldungen über die fyftematische Eristenzvernichtung der Juden zusammen. Ein besonders empörender Fall ist

der Fall des Verlages Rudolf Mosse   in Berlin  , der neben anderen Zeitungen das in der Welt bekannte Ber­liner Tageblatt" herausgibt. Diese Zeitung war ein freiheit­liches Organ, daneben ein ausgesprochenes jüdisches ausgesprochenes jüdisches Familienblatt. Der Befizer ist Jude. Unter dem Druck des Terrors änderte das Berliner Tageblatt", wie die anderen in diesem Verlag erscheinenden Zeitungen seine Meinung vollständig. Diese Zeitungen wurden zu Dienern und Epeichelleckern des neuen Systems. Die führenden Redakteure dieser Zeitung wurden rüd­

fichtbar auf der Kleidung tragen mußten, um von jedermann Die Massenverhaffungen

schon, von weitem als Jude erkannt zu werden.) Der Tert der Boykottplafate, die an sämtlichen Plafatiäulen Deutschlands  angeschlagen wurden, gipfelte in der Behauptung, der Jude ist an allem schuld, der Jude ist unser Unglück. Ein gewal­tiger Propaganda- Apparat wurde für die Judenhezze auf­geboten. Die Aufrufe und Anordnungen wurden täglich mehrmals durch alle deutschen   Rundfunksender der Bevölke rung mitgeteilt,

alle deutschen   Zeitungen wurden gezwungen, diese Boykotts Aufforderung an führender Stelle abzudruden. Besonders unwürdig war die Rolle, die ausgesprochen jüdische Zeitungen wie die Blätter des Verlags Rudolf Mosse   in Berlin   dabei spielten.

Das anständige Deutschland  

Das anständige Deutschland   unterlag dem Drud des Ter­rors. Dennoch sette eine Gegenwirkung ein, namentlich von den Kreisen, die mit starrem Entsetzen erkannten, wie diese ungeheuerliche Pogromheze auf das Ausland wirken mußte. Am 81. März wurde der Boykott, der ursprünglich als Dauerboykott gedacht war, auf einen Tag befristet. Aber der ungeheure moralische Schaden, den die Entfesselung dieser barbarischen Pogromhese dem Ansehen Deutschlands   zu­gefügt hat, war damit nicht wieder gutzumachen.

Auch

Stahlhelm" führer

Der erste Stahlhelmführer, Oberstleutnant a. D. Lind wurm, wurde in Eisenach   ins Polizeigefängnis ein­geliefert. Der ehemalige Stahlhelmführer Major a. D. von Voigt mußte wegen Beschimpfung Seldtes sogar den Gang ins 3uchthaus Untermarsfeld antreten. In Bayern   und in Württemberg   hat man auch zahllose fatho lische Geistliche inhaftiert.

Die Zahl der verhafteten Sozialdemokraten ist Legion. Ans Hamburg   wird die Verhaftung von 200 sozialdemokra tischen Funktionären, aus Magdeburg   von 200, aus Dresden  von 150, aus Senftenberg  ( Niederlausitz  ) von 265, aus Frank: furt a. M. von 50, aus Essen von 26, aus Bremen   von 20, ans Recklinghausen   von 12 gemeldet usw.

Die von uns dieser Tage gemeldete Zahl von 3000 vers hafteten Sozialdemokraten ist wahrscheinlich um Tausende überholt.

Feigheit, Angst, Berfolgungswahn, Haß und gemeinste Verbrecherinstinkte haben bei diesem Feldzug gegen politisch Andersdenkende zusammengewirkt. Aber noch immer gilt das Wort: Wer Wind säet, wird Sturm ernten".

In der gesamten Ronfeftion geht ebenfalls ein stummer Pogrom vor sich. Er betrifft nicht nur Inhaber und leitende Angestellte, sondern auch die mittleren und unteren Gruppen von Angestellten und Arbeitern.

Wer Jude ist, wird entlassen. Städtische Gesellschaften boyfottieren systematisch jüdische Lieferanten, jüdische Angestellte und Arbeiter werden ent­lassen.

Diese Existenzvernichtung des Judentums geht unaufhalt­sam weiter. Die schlimmste und erbärmlichste Form der Rassenfämpfe wird von den neuen Machthabern in Deutsch­ land   unter Einsatz der Staatsmacht gefördert. Der anti­semitische Jargon ist Staatssprache geworden. Die Berliner  Polizei nahm Haussuchungen in vornehmlich von Juden bewohnten Vierteln vor. Sie benannte diese Aktion offiziell ,, Razzia im Berliner Ghetto". Ein Rundfunkwagen be­gleitete die Polizisten. Beamte, Polizeiärzte und Bericht­erstatter beschimpften die jüdische Bevölkerung während der Haussuchung mit antisemitischen Gemeinheiten.

Letzte Verzweiflung hat die betroffenen deutschen   Juden ergriffen. Die Zahl der Selbstmorde von Juden ist un­heimlich angewachsen. Ein einzig erschütternder Fall vom 1. April aus Heidelberg  : Ein junger Jurist, hochbegabt, auf das glänzendste beurteilt, wurde aus dem Amt gewiesen weil er Jude ist. Als er heimkehrte, sah er an der Tür seiner väterlichen Wohnung sein Vater ist ein hoch­angesehener Mediziner den gelben Fled. Der junge Mann, der dem Lande, dem er dienen wollte, nicht dienen durfte, der sich und die Seinen verfolgt sah wie Aussäßige cder Verbrecher, hat sich selbst den Tod gegeben. Bei den gegenwärtigen Machthabern in Deutschland   wiegt das Leben eines Juden feherleicht.

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Sondergerichte'en

Für die Wahrheit ins Gefängnis

Das Dortmunder   Sondergericht verurteilte den Hammer­schmied Mey wegen Verbreitung von Greuelnachrichten" zu neun Monaten Gefängnis. Der Sozialdemofrat Wind­möller aus Selm  - Beifang wurde zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er behauptet hatte, der Reichstags­brand sei von Nationalsozialisten gelegt worden.

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