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adio 8 nov notes
Fretheil
Nummer 33-1. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Freitag, den 28. Juli 1933
Chefredakteur: M. Braun
.. die Bande der Gesellschaft sind auf gegenseitige Dienste gegründet. Wenn aber diese Gesellschaft aus mitleidlosen Seelen zusammengesetzt ist, sind alle Verpflichtungen aufgehoben und man tritt wieder in den Zustand der reinen Natur zurück, wo das Recht des Stärkeren über alles entscheidet." Friedrich der Große .
10 Marxisten erschossen!
Die geheimnisvolle in besondere Vorkommnisse zu erhalten. Soviel scheint mir
Die Hölle von Braunschweig Massenerschießung- Der besetzte Friedhof
Die„ Mitteilungen über die Lage der politischen Gefangenen" in 3 ürich berichten:
Als bekannt wurde, daß am 4. Juli 1933 in Braunschweig fich Grauenhaftes ereignet habe, wurde ich beauftragt, an Drt und Stelle Nachforschungen anzustellen, die folgenden Tatbestand ergaben. Auf meiner Reise durch Deutschland nach dem im Norden gelegenen Braunschweig , einst der Hoch burg der Sozialdemokratie, hatte ich Gelegenheit genug, zu beobachten, unter welchem geistigen Druck die Fahrgäste stehen. In Braunschweig angelangt, gelang es mir nur mühjam, Fäden anzuknüpfen, um die nötigen Aufklärungen zu
erhalten.
Die Vorgeschichte
Anfang Juli wurde der Nationalsozialist Landsmann in Braunschweig erschossen. Angeblich sollen Marxisten die Täter sein. Trotzdem auf diese Dugende von Revolver= schüssen abgegeben wurden, blieb teiner auf dem Platz liegen. Die Umstellung und Absuchung des Geländes nach Tätern blieb erfolglos. In Braunschweig ist man der Meinung, daß Landsmann absichtlich oder aus Versehen von seinen Kames raden erschossen wurde. Wie dem auch sei, gegen die Arbeiterschaft Braunschweigs segte neuer Terror ein. 10 Marxisten für einen Nationalsozialisten
Der Berliner Polizeipräsident Graf Helldorf , berüchtigt durch seine Judenpogrome, hat vor einigen Wochen erklärt, daß für jeden ermordeten Nationalsozialisten 10 Marristen baran glauben müßten. In Braunschweig scheint nnn der Anfang mit dieser neuen Losung gemacht worden zu sein.
der Meldungen in der Presse zu verhindern. Der Vorgang ist ja auch so ungeheuerlich, daß selbst die Reichsregierung kaum
wagen dürfte, ihn zu decken. Sache der europäischen Oeffent lichkeit wird es sein müssen, die Reichsregierung zum Reden zu zwingen. Mit einem Dementi ist die Angelegenheit nicht abgetan.
Auch Ausländer werden gemordet
Zuverlässig erfuhr ich in Braunschweig noch, daß die rohen Gewalttaten der SA. sich auch auf Ausländer erstrecken. Ein innger Pole, israelitischen Bekenntnisses, der in einem Warenhause beschäftigt war, wurde so„ menschenfreundlich" behandelt, daß er nach 6 Stunden starb. Es bedurfte des Einflusses des polnischen Konsulats, um die Leiche für die Beerdigung frei zu bekommen. Dieser Fall beweist, was deutsche Staatsangehörige zu gewärtigen haben, wenn sie in Braunschweig verhaftet werden. Verschiedentlich wurde mir versichert, daß eine Verhaftung im gegenwärtigen Augenblicke gleichbedeutend mit der Verkündung eines
Todesurteils sei.
Was ich sonst noch in Deutschland erlebte
Bei der mißtrauischen und zurückhaltenden Stimmung der Bevölkerung war es mir nur schwer möglich, einen Einblick
ficher, daß die Welle des Terrors noch nicht sämtliche Landstriche Deutschlands gleichmäßig überflutet hat. Zugegeben werden muß sogar, daß in einigen Gauen die Führung der nationalsozialistischen Partei und die Verwaltung der Polizei für eine einigermaßen bürgerliche Ordnung sorgen. Das vernicht so massenhaft, furchtbare Einzelheiten geschehen. Zur
hindert natürlich nicht, daß auch in diesen Gegenden, nur
Zeit scheint fich der Terror außer in Braunschweig am
stärksten im Freistaat Sachsen und in Anhalt auszuwirken. In ganz Deutschland müssen im übrigen, wie mir übereinstimmend versichert wurde, bei allen festlichen Ans lässen die Betriebe geschlossen mitmarschieren und werden, namentlich in Braunschweig , durch Umstellung der Demonstrationspläge daran verhindert, die Kundgebungen des„ gesamten" Boltes vorzeitig zu verlassen. Mein Gesamteindruck ist, daß die Stimmung der breiten Maffen sich gegen den jeßigen Hitlerkurs zu richten beginnt. Die Bauern werden unruhig, der Mittelstand unsicher und die Proletarierschichten in der SA. und SS. unzufrieden. Im Volke läuft ein Wort:„ Was hat Hitler ges leistet? Feste gefeiert, Fahnen geleiert, Butter verteuert!" Trotzdem muß gesagt werden, daß diese Stimmung keine solche Straft annehmen kann, daß in absehbarer Zeit mit einer Sprengung des Hitlerregimes von innen zu rechnen ist. Es steht vielmehr zu befürchten, daß die herrschenden Stellen in wilder Berbitterung die Hinrich tungen von Rieseberg als Beispiel für massenhafte Anwendung benüßen werden
An die Kulturweit! 200 and
Am Tage der Beerdigung des Nationalsozialisien Lands Aufruf an das Weltgewissen!
mann wurden von der SA. aus den Braunschweiger Gefängnissen 10 bekannte Marristen( Kommunisten und Sozials demokraten) herausgeholt und mit unbekanntem Ziel, nach fürchterlichen Mißhandlungen verschleppt.
Das Geheimnis von Rieseberg
In der Nähe von Königslutter bei Braunschweig liegt das Dörschen Rieseberg. Seiner landschaftlich schönen Lage und Klasse seit Jahren größere Kinderheime angelegt, die jetzt zu SA.- Kajernen verwandelt worden sind. Nach einer derselben, dem früheren Gewerkschaftskinderheim, wurden diese zehn Unglüdlichen gebracht und in der Nacht vom 4. Juli erichossen und auf dem Fried. hof von Rieseberg verscharrt.
Es war mir nicht möglich, in Rieseberg Näheres zu er fahren. Die verängstigte Bevölkerung, kleine Bauern, die meist auf dem Boden des Nationalsozialismus steht, wagt nicht mehr über den Vorgang zu sprechen, seit einer, der es getan haben soll, verhaftet wurde. Allen ist von Amts wegen Schweigen auferlegt. Jeder, der reden würde, weiß, daß er wahrscheinlich das Schicksal der Erschoffenen teilen muß. Mein Versuch, den Friedhof von Rieseberg zu besuchen, war vergebens. Der Friedhof war besezt und Zu= tritt streng untersagt. Das sprach mehr für das Verbrechen, als wenn die unglücklichen Wissenden mir ihre Renntnisse mitgeteilt hätten.
In den Kreisen der Angehörigen von verhafteten brauns schweigischen Marristen herrscht seit der Tat vom 4. Juli eine begreifliche Erregung. Kein Angehöriger weiß, ob sein gefangener Bater, Bruder oder Gatte noch am Leben ist. Nur durch verschiedene Maßnahmen der Gefängnisverwaltung und der Regierung ist es einigen Angehörigen flar ges worden, daß auch die Mitglieder ihrer Familie sich unter den zehn Toten befinden. Gesagt wurde den Angehörigen, daß die Verhafteten ins Konzentrationslager verbracht worden seien. Es steht zu befürchten, daß unter den Erschossenen von Rieseberg auch der frühere Ministerpräsident von Brauns schweig, Jasper, zu suchen ist, von dem unter anderem auch behauptet wird, daß er nach Dachau verbracht worden fei. Es war mir nicht möglich, Näheres in Erfahrung zu bringen.
Auch die Presse muß schweigen
Es scheint so, als ob am Tage nach der Hinrichtung der zehn Marristen die Polizei einen Bericht an die braun schweigische Presse gegeben habe, dessen Drucklegung im legten Augenblick verhindert wurde. Auch die Reichsregie rung scheint eingegriffen zu haben, um eine Berbreitung
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands , Sih Prag, veröffentlicht folgenden Aufruf:
Das Preußenkabinett Göring fordert vom Reichskanzler Hitler den Erlaß eines Gesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens". Es kündigt zugleich eine neue Amnesfie an, die zweifellos die an Johannes Stelling und hundert anderen Unschuldigen verübten Morde umfassen wird. Das neue Gesetz soll jeden Angriff auf Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei, ja sogar jede Einfuhr mißliebiger Druckschriften aus dem Ausland mit dem Tode bestrafen.
Der Vorschlag Görings erstrebt die Vollendung eines Systems, das den Mord zum eigenen Vorteil verherrlicht und begünstigt, jeden Angriff aber auf die eigene Machtstellung, auch den mit geiffigen Waffen, mit dem Tode bedroht. Das ist nicht Gewährleistung des Rechtsfriedens, sondern Zerstörung des Rechtsstaates und Bürgerkrieg in Permanenz.
Hermann Göring zittert vor der Wahrheit. Er weiß warum. Aber vergeblich ruft er den Henker gegen sie zur Hilfe. Vergeblich sucht die Nationalsozialistische Partei die Anklage wegen ihres hundertfachen Verrats an allen nationalen und sozialen Forderungen ihres Programms im Blut der Ankläger zu ersticken.
Wir erklären hiermit:
Die von Göring geforderte Tötung politischer Gegner bleibt Mord, auch wenn sie mit dem durchsichtigen Mantel eines angeblichen Gesetzes umkleidet wird. Minister, die ein solches Gesetz beschließen, Richter, die es anwenden, und Vollzugsorgane, die es ausführen, machen sich des Mordes schuldig. Sie haben am Tage der Abrechnung, der kommen wird, die verdiente Strafe zu erwarten.
Das Urteil eines abhängigen Gerichts in Köln hat die ler Göring vorweg genommen und über sechs Arbeiter, die an einem Zusammenstoß mit zweifelhaften Elementen in brauner Uniform beteiligt waren, die Todesstrafe verhängt. Die Vollstreckung dieses Urteils in einem Lande, in dem der Mord zu nationalsozialistischen Parteizwecken grundsätzlich straffrei bleibt, müßte von der ganzen Welt mit einem Schrei der Empörung beantwortet werden.
Ein System, das solcher Taken fähig ist, ein System, das sich nicht anders zu helfen weiß als damit, daß es für die Verbreifer läffiger Wahrheiten das Schafott verlangt, hat sich selbst das Urteil gesprochen. Die Kulturmenschheit darf vor ihm nicht kapitulieren, wenn sie nicht untergehen will.
Kirchen und bürgerliche Parteien, Wirtschaftsorganisationen und Standesvertretungen aller Art haben sich unterworfen. Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ruft zum Kampf. Gegenüber einer Welt der Sklaverei ist er jetzt für Deutschland das einzig sichtbare und wirksame Zentrum des Widerstandes und Angriffes.
Deutsche diesseits und jenseits der Grenzen, Arbeiter, freiheitliebende Menschen der ganzen Welt, erhebt euch! Die Entscheidung steht zwischen Kultur und Barbarei vielleicht für Jahrhunderte! Nur der Sieg der
Freiheit und des Sozialismus kann die Menschheit vor dem Untergang bewahren. Zu uns muß stehen, wer kämpfen will!
Der Vorstand