#se
Nummer 47
Chefredakteur: M. Braun
Die Zeit geht vorüber. Ein Kulturfortschritt wird den andern hervorrufen, die Menschheit wird sich immer neue Aufgaben stellen, wird sie zu einer Kulturentwicklung führen, die Nationalitätenhaẞ, Kriege, Religionsstreit und ähnliche Rückständigkeiten nicht mehr kennt.
gestorben am 13. August 1913.
Brüning und Hitler Die Arbeitsschlacht
Der frühere Reichskanzler rechnet mit Hitlers Sturz- Ein Protestbrief an den Staatssekretär Pacelli
Nach dem Daily Herald bleibt Dr. Brüning in engen Beziehungen mit den wichtigsten Staatsmännern Englands, Frankreichs und Italiens , überzeugt, daß die Hitlerregie: rung bald an ihren Erzessen zugrunde gehen wird.
Das Blatt fügt hinzu, daß der Reichskanzler Hitler und Herr von Papen die Tätigkeit des Zentrumsführers sehr genau beobachten, aber es wegen seines Ansehens, das er im Auslande genießt, nicht wagen, ihn verhaften zu lassen. Dr. Brüning hat übrigens bis jetzt nur einen einzigen Schritt getan, den man als hitlerfeindlich bezeichnen könnte. Er hat an den Kardinal Pacelli , d. h. an den Vatikan , ge:
schrieben, um ihm mitzuteilen, daß es ihm sowohl als Kathos lik wie als Politiker unmöglich sei, das Konkordat zu billigen.
Die gegenwärtige Regierung, sagt er( dem Sinne nach) in diesem Brief, wird nicht dauern. Man kann ihr feine Zukunft geben. Ich mache Sie auf die Gefahr aufmerksam, die aus dem Abschluß entstehen kann. Andererseits ist man überzeugt, daß der Präsident von Hindenburg (?), wenigstens noch im Augenblick, sich gegen jede Gewaltmaßnahme wendet, welche die Hitlerregierung gegen Dr. Brüning anwenden könnte.
Juden hoch willkommen!
Weltboykott gegen Leipziger Messe
Das dritte Reich" lädt die Internationale Judenschaft ein- Geschäft wichtiger als Rassenfrage
Wien 12. Aug.( Inpreß). In Wien wird angenommen, daß die Wiener Messe, die eine Woche später als die Leip ziger Herbstmesse beginnt, den Vorteil vom Boykott der Leipziger Messe ernten wird. In Wien laufen viele Anfras gen, besonders aus Polen , Rumänien , Jugoslawien und der Tschechoslowakei , aber auch aus Frankreich , England und Italien ein, um festzustellen, ob Oesterreich die boykottiers ten deutschen Produkte ersetzen könne. Eine starke Reklames kampagne, die auch die katholischen Mißstimmungen gegen Hitler- Deutschland auszunuzen versucht, wirbt für die Wies ner Meffe.
Künstlich gesteigerte Besucherzahl
Leipzig , 12. Aug.( Inpreß). Zahlreiche Werbeschreiben und Prospekte legen voraussichtlichen Besuchern der Wiener Messe nahe, ihren Weg doch über Leipzig zu nehmen. Man scheint damit zu rechnen, daß solche Transitreisende in der Meffeftatistit als Messebesucher aufgeführt werden können.
Liebe Juden, kommt!
aber nicht in Münchmeyers Jagdrevier
„ Kein Arier- Paragraph für die Leipziger Messe"! So verfündet das gleichgeschaltete B. T.", das den Grund dieses Phänomens wissen muß, da es den Arier- Paragraphen, wenigstens für seine Familien- Anzeigen auch noch nicht eingeführt hat. In der Tat: wo das von dauernden Finanznöten geplagte Hitlerreich noch hofft, den Juden Geld abnehmen zu können, da sind sie freundlichst zugelassen: in der Presse, deren redaktionellen Teil man ihnen gestohlen hat, dürfen sie inserieren, in den neuerrichteten Spielhöllen von Baden- Baden usw. ihr Geld verlieren, und auf der Leipziger Messe dürfen sie das Geschäft beleben. Ja, da wird den lieben Juden zuliebe der Hitlerstaat sogar- hört, hört international! Man lese mit möglichst ernstbleibendem Gesicht die Sirenenklänge, die das Leipziger Messe amt bläst:
-
Die Leipziger Meffe ift seit Jahrhunderten sowohl im
Hinblick auf die Einkäufer als auch auf die Aussteller eine internationale Veranstaltung. Es ist selbstverständ= lich, daß diese
Internationalität der Leipziger Messe auch in Zukunft teine Störung erfährt. Die Leipziger Messe ist und bleibt ein Instrument des Warenverkehrs, dessen Bedeutung nicht auf den deutschen Binnenmarkt beschränkt bleibt, sondern internatio: nal ist. Alle Gerüchte, daß bestimmte Staaten und Völ
Im Frühjahr hatte- wie alljährlich- in Leipzig die Pelz( Rauchwaren-) Messe stattfinden sollen. Aber nicht ein Zobelschwanz war da! Mit Rücksicht auf den Judenboykott hatte der jüdische Pelzhandel ganz heimlich, still und leise die Messe nach London verlegt, wo sie stattfand. Und Leipzig hatte das Nachsehen....
Ob die nicht ganz echt klingenden„ internationalen" Lock töne des Messeamtes jetzt etwas nüßen werden? An anderer Stelle des B. T." fann man folgendes lesen:
In einer Versammlung der NSDAP. in Nürnberg sprach Reichstagsabgeordneter Pfarrer a. D. Münch meyer. Er äußerte sich dabei auch über die Judenfrage und erklärte, alle Parteien, von der KPD. bis zu den Deutschnationalen, hätten kein volles Gefühl für wahre deutsche Ehre; denn in allen diesen Parteien hätten die Juden eine große Rolle gespielt. Die Nationals sozialisten dagegen seien der Auffassung, daß die deutsche Ehre es erfordere, Deutschland frei zu machen von den Fesseln des Judentums. U. a. müßte jeder Jude, der ein deutsches Mädchen verführe, mit dem Tode bestraft werden.
Vom Standpunkt des Pastors Münchmeyer, des berüchtig ten Narbenbetasters und Austeilers brüderlicher Apostel küsse an weibliche Pflegebefohlenen, erscheint es durchaus verständlich, wenn er das Monopol in der Verführung deutscher Mädchen für sich behalten und jüdische Konkurrenten mit dem Tode(!) bestrafen möchte.
Jeder Psychiater erkennt hier ohne Mühe den Eifersuchtsausbruch eines von Minderwertigkeitskomplexen gequälten Psychopathen. Aber deutsche Ehre? Ist es nicht
etwas unvorsichtig, das Maul so voll Phrasen über Ehre zu nehmen, wenn man denselben Juden, den man unter Berufung auf die„ Ehre" zur Hintertür hinauswirft, zur Vordertür mit einem devoten Bückling wieder hineinbittet: ,, Vielleicht ist dem geehrten Herrn Jpig ein kleines Messegeschäft angenehm?"
Das ist deutsche Ehre? Die Juden hätten hier einmal GeIegenheit, den Hitlerleuten deutlich zu zeigen, wie sie über Ehre denken....
Geächtet!
München , 11. Aug.( Inpreß.). In Nürnberg , Erlangen und in Staubingen an der Donan ist den jüdischen Eins wohnern die Benugung der Badeanstalten und Flußbäder verboten worden.
London , 10. Aug.( Jnpreß.).„ Daily Herald" meldet, daß die Juden aus den bayrischen Ortschaften Ober- Roßbach, Unter- Roßbach und Rimgbach ausgewiesen worden seien.
fergruppen, zum Beispiel nichtarische Kaufleute, Und Stretcher sprach...
von der Beschickung und dem Besuch der Leipziger Messe ausgeschlossen werden sollten, entbehren jeder Grundlage. Auch den in Deutschland ansässigen jüdi: schen Kaufleuten wird bei der Ausübung ihrer Geschäfts: tätigkeit auf der Leipziger Messe kein Hindernis in den Weggelegt.
Nachtigall, ich hör dir laufen! Diese wunderbare Juden freundlichkeit der Messestadt hat ihre sehr realen Gründe:
Der Führer der Nürnberger Nationalsozialisten, Herr Streicher, berichtet in seinem Blatt von dem Selbstmord eines Juden, der sich wegen antisemitischer Verfolgungen in Canns statt das Leben genommen hat, mit folgendem Kommentar: „ Wir hätten nichts dagegen, wenn alle seine Raliegenollen fich auf die gleiche Weise verabschieden würden."
Von D. F.
Als Franz von Papen vor etwas mehr als einem Jahre mit Steuergutscheinen und anderen Subventionen die Wirtschaft ankurbeln wollte, meldete die deutsche Unternehmerpresse täglich Neueinstellung von Arbeitern und machte künstlich in Wirtschaftsoptimismus. Hätte dem Herrn von Papen der riesenhafte Propagandaapparat des ,, dritten Reiches" zur Verfügung gestanden, so würde auch er seine sehr unzulänglichen Regierungserfolge als große Siege haben aufmachen können. So ließ der Eifer allzu rasch nach.
Die jetzige Regierung behauptet, eine gewaltige Schlacht gegen die Arbeitslosigkeit zu schlagen. Unzweifelhaft wird viel Energie entwickelt, um die Erwerbslosigkeit zu senken. Wir haben keinen Grund, diesen starken Willen zu verkleinern. Wir haben nicht einmal Ursache, einen Mißerfolg zu wünschen. Eine wirkliche Eingliederung von Millionen Arbeitern in den Produktionsprozeß würde die politische und moralische Kraft der antifaschistischen Volksgenossen nur erhöhen. Der Prestigeerfolg des Regimes wäre vorübergehend. Das Drängen der Arbeiter nach höherer Lebenslage und größerer Freiheit wäre dauernd. Wir gehen also gerne sachlich an eine Untersuchung des Standes der Arbeitsschlacht heran.
Nach der neuesten amtlichen Veröffentlichung ist die Zahl der Erwerbslosen vom Höchststand am 15. Februar 1933 mit 6,047 Millionen bei den Arbeitsämtern gemeldeten Erwerbslosen auf 4,469 Millionen gesunken. Das ist keines wegs so überwältigend, wie der Propagandaapparat des ,, dritten Reiches" glauben machen will. Es ist, wenn wir ein mal die amtliche Statistik als wahr hinnehmen, ein
Rückgang von 16 Millionen. Im Jahre 1932
konnte in derselben Zeit ein Rückgang von 750 000 Erwerbslosen erzielt werden. In dem diesjährigen
scheinbar größeren Rückgang ſtecken aber sehr beträcht liche unechte Entlastungen. So sind die 200 000 auf öffent liche Kosten in den Arbeitsdienstlagern unterhaltenen jungen Leute nicht mehr in die Erwerbslosigkeit eingerechnet. Es fehlen die vielen Zehntausende, die man in Gefängnisse und Konzentrationslager gebracht oder über die Grenzen gejagt hat. Es fehlen auch die einstweilen statistisch noch unerfaßten„ Toten der Arbeitsschlacht" viele tausende„ Staatsfeinde", denen man jede Unterstützung entzog und sie so statistisch verschwinden ließ. Das sind Gruppen, die hunderttausende Menschen umfassen. Hinzuzurechnen sind noch die Männer und Frauen, die in den ländlichen Gebieten zur Arbeitsleistung auf den Feldern kommandiert worden sind. Wie unsicher dieser Frontteil in der Arbeitsschlacht ist, geht daraus hervor, daß jetzt schon gesetzliche Bestimmungen gegen den Zuzug nach den Großstädten erwogen werden, weil man befürchtet, daß nach Beendigung der Ernte viele auf dem Lande Erwerbs lose in die Städte drängen wollen.
In allen hochindustriellen Bezirken des Reiches liegt die Erwerbslosigkeit noch weit über dem Reichsdurchschnitt. Zur Zeit des Höchststandes Ende Februar entfielen im Reiche 96,2 Arbeitslose auf tausend Einwohner, am 31. Juli hingegen noch 71,6. Jn Sachsen aber sind die Zahlen 143,2 und 111, in Brandenburg 127,3 und 102,2. Auch nach dem Hundertsatz war der Rückgang in den Industrie bezirken geringer.
Daß die etwas verringerte Zahl der Erwerbslosen nicht auf das besondere Genie der Regenten des„ dritten Reiches" zurückzuführen ist, beweist die Wirtschaftslage an der Saar , die zum französischen Zollgebiet gehört. Die Zahl der Erwerbslosen ist laut dem Bericht der Regierungs kommission vom Februar bis zum Juni von 45 101 auf 36 408 gesunken, und zwar ohne Gefängnisse, Konzentrationslager, Ausweisungen, Arbeitsdienst, Erntekommandos, und andere Manipulationen im„ dritten Reich".
Es ist bemerkenswert, wie sehr die triumphalen Siegesberichte in den politischen Teilen der deutschen Presse sich abheben von den sehr gedämpften Verlautbarungen der Fronten im Handelsteil. Mit einer Einmütigkeit, die kaum eine Ausnahme kennt, berichten alle Wirtschaftsgebiete, daß die Ausfuhr trostlos ist. 3war wird be schönigend immer hinzugefügt, daß der Jn land absatz sich hebe, aber nirgendwo wird behauptet, daß er auch nur annähernd den Exportverlust ausgleicht. Ausgesprochene Exportindustrien, wie die Solinger , verderben alle Siegesbulletins, indem sie von Monat zu Monat eine Verschlechterung feststellen. Die Textilindustrie, die infolge der großen Uniformmode so etwas wie eine Hausse erlebte, wird nun auch schon wieder kleinlauter. Die Produktion sinkt, und man sieht sorgenvoll den nächsten Monaten entgegen. Ungünstig sind auch die Absatzverhältnisse der Maschinenindustrie und des Apparatebaues.
Die angesagte Belebung der Bauberufe ist abgestoppt worden, da die Regierung Baustoffwucher befürchtet. Es werden deshalb einstweilen nur 50 Millionen Reichs mark für Hausreparaturen zur Verfügung gestellt. Nirgendwo wird berichtet, zu welchen Löhnen und