Freiheil
Nummer 55-1. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Mittwoch, den 23. August 1933 Chefredakteur: M. Braun
Nie stirbt ein großer menschlicher Gedanke,
Wie tief ihn auch des Lebens Wust begräbt.
Stets kann er brechen seines Lebens Schranke,
Wenn er nur noch in einer Seele lebt.
Raupach
Seit einiger Zeit besteht die Pflicht, die Fahnen der SA. and SS. zu grüßen. Die Führer der Kolonnen find an= gewiesen, auf der Stelle gegen diejenigen Passanten einzuschreiten, die nicht die Hand zum Gruße erheben. Das ist so zu verstehen, daß jeder, der die Fahnen nicht grüßt, sofort mißhandelt wird. Diese Methode hat zu einem schweren deutsch - nordamerikanischen Zwischenfall geführt.
Ein amerikanischer Arzt Dr. Daniel Mulvihill ist nachts Unter den Linden , weil er eine Abteilung National: fozialisten nicht gegrüßt hat, niedergeschlagen worden. Der Amerikaner war eine Zeitlang betäubt. Die Schläge in das Gesicht waren so heftig, daß das Trommelfell des Mißhandelten verlegt wurde. Es besteht die Gefahr, daß er das Gehör verliert, was das Ende seiner Laufbahn als HerzSpezialist bedeuten würde.
Zwischenfall energischen Protest bei der Reichsregierung ers hoben. Die Vereinigten Staaten haben klar zum Ausdruck gebracht, daß nun die Zeit des bloßen Proteftes vorüber sei. Sie erwarteten, daß die deutsche Regierung Schritte unters nähme, künftig Angriffe auf amerikanische Bürger zu vers hindern. Darüber hinaus wird bekanntgegeben, daß eine Warnung an die Amerikaner erteilt werden wird, Deutsch :
land zu besuchen.
Es find also, wie auch dieser Vorfall beweist, nicht die „ Greuelmärchen", die unserem Lande in der Welt schaden, sondern die Barbareien der Parteigenossen des Reichskanzlers. Für diese Roheiten aber ist der deutsche Reichskanzler persönlich verantwort: lich zu machen, weil er seit 14 Jahren zu solchen Ausschrei: tungen aufgereizt hat und bis zur Stunde nicht wagt, den von ihm zum Terror erzogenen SA. und SS. die nötigen Grenzen zu stecken.
Mussolinis Vasallen
Das Ende des Anschlußtraums italienischem Protektorat
Bundeskanzler Dollfuß hat sich bei seiner Ankunft auf dem Flugfelde in Wien ungemein befriedigt" über das Ergebnis seiner italienischen Reise ausgesprochen. Gleichzeitig wird bekannt gegeben, daß die österreichische Staatspolizei eine geheime Untersuchung gegen mehrere Vereine durchführt, in denen man nationalsozialistische Zellen vermutet. Die nationalsozialistische Presse in Deutschland setzt ihre beschimpfende Sprache gegen Dollfus fort. Auch die heftigen Radioangriffe werden nicht ein
gestellt.
Wenn die führenden Herren in Berlin wirklich ein großes nationales Jdeal nicht nur aufstellen könnten, sondern auch die Kraft befäßen, es mit intellektuell_zureichenden Mitteln zu verfolgen, müßten sie über die Ent wicklung des österreichischen Problems tieftraurig sein. Statt dessen trösten sie sich mit dem Mißtrauen der franzöfischen Presse gegen die Besprechung Dollfuß- Mussolini in Riccione . Hat aber Deutschland irgendwelchen Grund, sich vertrauensvoll zu äußern? Die zutreffendste Veröffentlichung über das Ergebnis der Verhandlungen scheint uns der diplomatische Mitarbeiter der„ Gazzetta die Popolo" in Turin zu bringen, der die Bedeutung der Zusammen. kunft wie folgt zusammenfaßt:
insbesondere in bezug auf das Donauproblem fich 2. daß Desterreich seine Unabhängigkeit souveräner Staat beibehalten wolle und daß es in dieser Richtung von Italien unterstützt werde; 8. daß Oesterreich seine freundschaftlichen Beziehungen mit allen seinen Nachbarstaaten, insbesondere mit Italien und Ungarn und sobald dies möglich sein werde, auch mit Deutschland aufrecht erhalten wolle;
völlig mit den Interessen Desterreichs dece;
4. daß der vom italienischen Botschafter in Berlin fest gestellte gute Wille zur Lösung des österreichisch deutschen Konfliktes von der österreichischen Regierung geteilt werde; 5. daß Oesterreich in der internationalen Zusammenarbeit,
In Prag ist der 18. Weltkongreß der Zionistischen Organisation, die im Jahre 1897 von Theodor Herzl in Basel gegründet wurde, zusammengetreten. Regierung und Deffentlichkeit der tschechoslowakischen Republik bringen der Tagung des Parlaments des nationalen Judentums freundschaft
liches Intereſſe entgegen, was auch bei der Eröffnungsfeier
in eindrücklicher Weise zum Ausdruck kam.
h. Die Zahl organisierter Zionisten, d. b. folcher Juden, die sich zu ihrem Voltatum und ihrer Geschichte bekennen und die Lösung der Judenfrage in der Wiederherstellung des jüdischen Nationalheimes in Palästina erbliden, beträgt zur Zeit 650 000 in 49 Ländern, hiervon in Polen
Dollfuß und Hilter unter Deutschland eine Nebenfigur
deren Grundlagen durch den Viererpakt geschaffen worden sind, ein attives Element sein wolle;
6. daß in allen behandelten Fragen eine völlige Uebereinstimmung der italienisch- österreichischen Auffassung herrsche.
Das bedeutet, daß Jtalien die absolute Unabhängigkeit Desterreichs garantiert und diesen alten deut. schen Staat als Instrument italienischer Politik in den Viererpakt einzuspannen gewillt ist. Das Ergebnis besagt weiter, daß die österreichische Freundschaftspolitik sich zunächst und vor allem Ungarn und Italien zu nähern hat. Deutschland kommt erst an die Reihe, sobald dies möglich ist. In Wirklichkeit ist ja auch die Hitlerregierung nur ein Objekt der europäischen Pläne Mussolinis. Er wird den Zeitpunkt bestimmen, der ihm für die Einschaltung Berlins in seine mitteleuropäische Politik angemessen erscheint. Man braucht nicht viel Phantasie, um vorauszusagen, daß inzwischen auch an zwischen auch an einer italienisch- französischen Ver. ständigung gearbeitet wird, bei der sich Deutschland bestenfalls als Zuschauer beteiligen darf. Noch ist nicht abzusehen, wie das große Spiel um Mitteleuropa , um den Donauraum und um die Kleine Entente sich lösen wird. Soviel aber ist sicher, daß Deutschland , nachdem seine jezige Regierung Desterreich unter das Protektorat Mussolinis Regierung Desterreich unter das Protektorat Mussolinis getrieben hat, in die langwierigen Verhandlungen ganz isoliert hineingehen und vereinzelt bleiben wird.
Was den besonderen deutsch - österreichischen Konflikt an geht, so ist die Spannung noch immer so groß, daß sie trotz der neuerdings in Berlin wiederholten Mahnung Mussolinis zur Mäßigung die Gefahr neuer Zwischenfälle in sich birgt. Die Frage einer gemeinsamen Intervention in Berlin , obwohl sie wenig wahrscheinlich ist, wird noch in Berlin , obwohl sie wenig wahrscheinlich ist, wird noch immer zwischen Paris , Rom und London erörtert und die Möglichkeit, den Streit vor den Völkerbund zu bringen auch. Neuerdings tritt auch der„ Manchester Guardian" für die Behandlung des Konflikts vor dem Völkerbund ein.
allein 367 000, in Rumänien 36 000, in Lettland und Litauen 52 000, in der Tschechoslowakei 28 000. Auffallend ist die geringe Zahl von Zionisten in Nordamerika ( 40 000 auf vier Millionen Juden) und in England( 18.000), doch gibt es nicht wenige Juden, namentlich in Amerika , die das Aufbauwerk in Palästina unterstüßen, ohne sich auf das nationale Bekenntnis des Zionismus festlegen zu wollen.
200 Offiziere ertrunken Eisenbahnkatastrophe in China
Infolge Entgleisung stürzten von einem Zuge, der 500 chinesische Offiziere beförderte, zwei Wagen mit 200 Offizieren in den Sian- Fluß. Rettungsversuche waren vergeblich
Vergeltung!
D. F. Vor uns liegen Fotografien illegaler marristischer Propaganda in Deutschland . Große nächtlich hergestellte Inschriften an Bretterzäunen und Fabriktoren.„ Freiheit!" hier und„ Rotfront!" dort. Daß es sich nicht um Arbeit aus den letzten Wahlkämpfen handelt, wird nicht nur dadurch bewiesen, daß die früheren Werbemalereien längst durch Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden unter drohenden Revolvern der SA. und der SS. entfernt werden mußten. Die Worte zeigen aktuellen Charakter:„ Köpft den Brandstifter Göring !" Oder auch:„ Rache für Altona !" Jn Altona und anderwärts sind kommunistische Straßenkämpfer oder solche, die man dafür hielt, durch das Beil hingerichtet worden. Ministerpräsident Göring hat die Blut- und Schreckensurteile bestätigt.
Rachegefühle leben und wachsen. Wir sahen den Brief eines zwölfjährigen Arbeiterjungen, der an einen Freund geschrieben hat:„ Ich werde meinen lieben Baterblutigrächen." Jhr meint, das sei furchtbar, Ihr Frommen und Friedlichen im Lande? Es ist grauenhaft furchtbar. Aber ehe dieser Junge, der Kaninchen und Vögel liebevoll hegt und pflegt, das Gelöbnis zur Blutrache niederschrieb, sah er den von Kugeln zerrissenen Ropf seines Vaters. In einem Fabrikort am Niederrhein nachts„ auf der Flucht erschossen". Niemand hat dem Knaben diesen Brief diktiert. Seine politisch indifferente Mutter war einer anderen Frau willen längst mit dem kommunistischen Mann zerfallen. Der Junge schrieb aus sich„ Ich werde meinen Vater blutig rächen". Er sagte es auch seinem Lehrer.
Wir haben Briefe, in denen geschildert wird, wie gut man sich die SA.- und SS. - Bürschchen gemerkt hat, die im Rausch ihrer„ Revolution" an den zahllosen Folterungen beteiligt waren. Wir wissen, daß in Großstädten langmierige und mühevolle Ermittlungen in Gang gesezt worden sind, um die Schuldigen festzustellen. In manchen Fällen war das nicht nötig. Zumal in Mitteldeutschland haben sich die uniformierten Schinder des deutschen Reichskanzlers mit ihren gequälten Opfern fotografieren lassen. Die Gefolterten sind oft Leute über 50 und 60: Die Folterknechte, deren rohe, leere Gesichter auf den Bildern grinsen, sind jung. Selten über 25 Jahre. Die allermeisten von ihnen werden die Abrechnung erleben und ihre Untaten fühnen. Fotografische Bilder sind treue und unbestechliche Zeugen.
In den Dörfern und in den Kleinstädten. kennt ohnehin jedermann die Schuldigen. In dem Briefe einer unpolitischen christlichen Frau an eine Familie im Saargebiet lasen wir den Saz:„ Gnade Gott den armen Bürschchen in unserem Dorf, wenn es ein mal anders herum kommt..."
66
Das ist die Hoffnung vieler, und wir wollen ihnen die Gefühle nicht ausreden. Es wäre auch ein zweckloses Beginnen. Nur warnen wir, sich zu Besessenen der Rache machen zu lassen. Man soll nicht in Vorgefühlen schwelgen. Es entnervt, und wir brauchen Nerven: kühle, klare Köpfe, harte Muskeln, sichere Hände und Lippen, die mehr schweigen als reden. Wir sind am Anfang, und wir müssen zäh arbeitend warten können.
Wir haben einen brutalen Feind vor uns. Einen Feind, keinen Gegner. Mit Gegnern diskutiert man, Feinde vers nichtet man. Wir müssen dem Faschisten erbarmungslos fest ins Weiße des Auges sehen, wie er uns. Er verachtet uns, ja er tötet uns, wenn wir im Kampfe anders handeln als er. Wo allein die Gewalt zur Entscheidung aufgerufen ist, versagt die wundervolle Ethik des Friedens. Zwischen uns und einem kommenden Zeitalter friedlicher Gemeins schaft liegen Hindernisse, die nur von bewaffneten Männern aus dem Wege geräumt werden können. Der Demokrat und der Sozialist unserer Tage haben sich von schönen Träumen freizuhalten. Die Realität beherrscht die Stunde.
Wir lesen von sozialistischen Kongressen und Konfe renzen. Manchmal scheint es, als seien die Gesichter der dort Versammelten mehr in die Vergangenheit gerichtet als in die Zukunft. Manchmal hört es sich an, als wisse mancher nicht, daß unendlich viel gründlich tot und erschlagen liegt. Man muß den Mut haben, geschichtlich Erledigtes hinter sich aufs Leichenfeld zu werfen, auch wenn das törichte Herz daran hing. Nur wer sich wandeln kann, steht noch im Leben.
Den Racheschwur jenes Zwölfjährigen in Ehren, aber eg
E