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Freiheit
Nummer 62-1. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Donnerstag, 31. August 1933 Chefredakteur: M. Braun
Mißtrauet jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu lieben. Aber mißtrauet auch dem, welchem mit den Landesgrenzen die Welt mit Brettern vernagelt ist und welcher alles zu sein und zu bedeuten glaubt durch die zufällige Geburt in diesem oder jenem Volke, oder dem höchstens die übrige weite Welt ein großes Raubgebiet ist, das nur dazu da sei, zum Besten seines Vaterlandes ausgebeutet zu werden. Gottfried Keller
Ein Bericht über Tatsachen und Ausblicke
Der Verfasser des nachstehenden Berichts hat in den letzten Wochen den größten Teil des Reiches bereist: von Mecklenburg bis zum bayerischen Hochgebirge, von Offpreußen bis nach Aachen , von Ostfriesland bis nach Schlesien . Es handelt sich um einen volkswirtschaftlich gebildeten Akademiker, dessen bürgerlicher Beruf ihn mit Menschen der verschiedensten Bevölkerungsschichten in Berührung bringt.
Die wachsende Enttäuschung
Die Enttäuschung über die Reichsregierung hat in mittel ständlerischen und bäuerlichen Kreisen vielleicht stärker zugenommen als in den Arbeiterschichten. Außerhalb der marxistisch geschulten Arbeitermassen und in der Arbeiterjugend gibt es auch jetzt noch sehr erhebliche Teile der Arbeiterschaft, die daran glauben, daß Hitler wirtschaftliche Wunder verrichten könne.
Die Mittelständler sehen, daß weder die Konsumvercine noch die Warenhäuser vernichtet werden und daß Umsat und Verdienst im Geschäft nicht zunehmen. Die Bauern be: flagen sich über ungenügende Preise und über die Zuweis fung von ungeeigneten, ihre Kost kaum verdienenden Lands helfern.
Folgerungen für eine baldige Umwälzung sind allerdings aus dieser wachsenden Unzufriedenheit der Mittelschichten nicht zu ziehen. Bauern und Mittelständler fühlen sich durch SA. und SS. , die weithin im Lande die mittelständlerische und bäuerliche Jugend umfassen, als ein wesentliches Stück der herrschenden Gewalt und sehen hinter einem Zusammenbruch der Hitlerregierung den Bolschewismus. Die täglichen, weit übertriebenen Meldungen über kommunistische Betätigung haben zweifellos den Zweck, die Furcht vor dem Bolschewismus wachzuhalten.
Sklavenarbeit
Das Geheimnis der sogenannten Siege" in der ostpreu Bischen Arbeitsschlacht liegt darin, daß die Mehrzahl der Erwerbslosen zwangsweise in Arbeitslager gebracht worden ist. Freiwillig wären die allerwenigsten gegangen. Tatsächlich sind die Leute in diesen Arbeitslagern interniert und werden zur Sklaverei angehalten. Niemand darf das Lager ohne Erlaubnis der Vorgesetzten verlassen. Soweit das Lager bis zu 75 Kilometern vom Wohnort des Arbeiters entfernt ist, erhält er alle vierzehn Tage einen Urlaub von zwei Tagen. Ist die Entfernung über 75 Kilometer, werden für je drei Wochen drei Tage Urlaub gewährt. Macht sich der Arbeiter mißliebig, so wird ihm der Urlaub entzogen.
Die Leute bekommen für schwere Erdarbeit einen Wochen: John von 15 bis 18 Mark. Davon geht Verpflegungsgeld ab, so daß nur 10 Mark und weniger die Woche nachhause geschickt werden können.
In den meisten Fällen wird keine besondere Familienunterstützung gewährt. Manchmal erhält die Familie eine Mark pro Woche als Zuschuß. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es sich durchweg um ländliche Verhältnisse handelt. Jedenfalls ist das Einkommen der Leute nicht gewachsen. Der Unterschied ist nur, daß sie arbeiten müssen. Das mag man, je nach der Einstellung zur Zwangsarbeit, ethisch so oder so bewerten. Aber volkswirtschaftlich gesehen bedeutet diese Art Bekämpfung der Erwerbslosigkeit nicht die Spur einer Lösung der Krise. Es wird weder die Kauftraft gesteigert, noch werden lohnende Unternehmungen geschaffen. Selbst wenn es gelänge, in größerem Maße in Ost preußen zu siedeln, würde es sich um bäuerliche Existenzen bandeln, die trotz einem Uebermaß von Arbeit und eingeschränkter Lebenshaltung ohne irgendwelche offene und ver tappte Subventionen nicht leben können.
Unternehmer und Arbeiter
Die Arbeitsstredung nimmt zit. In vielen Fällen ist des halb trotz Tariflohn das Einkommen der Arbeiter so niedrig, daß sie nicht mehr, manchmal sogar noch weniger mit nach Hause nehmen, als die Wohlfahrtsempfänger. Es wird daher lebhaft die Bezuschussung finderreicher Arbeiter aus öffentlichen Mitteln erörtert, aber man weiß nicht, aus welchen Kassen man die Mittel nehmen soll. Viele Unternehmer kommen allmählich gegenüber den nationalsozialistischen Instanzen in eine schwierige Lage. Sie fühlen sich ähnlich unter erprefferische Drohung gesetzt wie die Arbeiter, die zur
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Ostpreußische Arbeitsschlacht Sieger und Besiegte
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Der Junker:„ Ich habe den Sozialismus früher verkannt. Ist doch' ne seine Sache. Heil Hitler!
Zwangsarbeit kommandiert werden. Die nationalsozialisti schen Parteibonzen wiederum stehen unter dem Druck ihrer unzufriedenen SA. - und SS. - Leute; soweit diese nicht an die Futtergrippe des Staates und der Gemeinden kommen konnten. Nationalsozialistische Bonzen suchen die Unternehmer auf und legen ihnen nahe, ihre Belegschaft wieder auf dieselbe Höhe zu bringen, die sie im Konjunkturjahre 1928 hatten. Lehnt der Unternehmer ab, wird er nachdrücklich darauf hingewiesen, daß er in den Verdacht der Sabotage gegen die Reichsregierung komme, die doch volles Vertrauen verdiene. Er setze sich der Gefahr aus, zu den politischen Saboteuren in ein Konzentrationslager zu kommen. Bleibt der Unternehmer standhaft, weil er nicht weiß, wie er seinen Umsatz steigern und die Löhne aufbringen soll, wird ihm vielleicht statt der Drohung mit dem Konzentra= tionslager Kredit in Aussicht gestellt,
oder er wird gezwungen, tüchtige Leute zu entlassen, um dafür Günftlinge der Nationalsozialisten einzustellen. Diese erpresserischen Maßnahmen schaden der Wirtschaft. Hinzukommt, daß jeder Landkreis bemüht ist, die Wirtschaft möglichst nur in seinem Kreise anzukurbeln" und den Humbug der Arbeitsschlacht vor allem in seinem Kreise zu Sieges meldungen zu bringen. So bildet sich allmählich eine wirtschaftliche Kreisautonomie heraus, die sich um das Schicksal der benachbarten Kreise nicht kümmert. Dieses System ist natürlich ein schwerer Schaden für die Gesamtheit der deutschen Wirtschaft und die Notrufe des Reichs wirtschaftsministers zielen auf die Beseitigung dieser vorkapitalistischen Methoden hin
..Normalisierer des Kapitalismus
Reichskanzler Hitler hat sich vollkommen den kapitalistischen Einflüssen gebeugt. Man weiß, daß er keineswegs der willensstarke Mann ist, als der er geschildert wird. Manche Leute, die über die Interna Bescheid wissen, sagen dem Kanzler nach, er sei einsichtiger als man gemeinhin glaube. Daß seine wirtschaftlichen Kenntnisse gering sind, ist bekannt, und er hat dies wiederholt freimütig zugegeben. Darauf haben die führenden Kapitalisten spekuliert. Man hat den Reichskanzler durch einflußreiche und raffinierte Herren des Rapitalismus eingefesselt-and ihn so allmählich davon über.
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zeugt, daß sein Programm zunächst nicht durchzuführen ist. Sollte Hitler noch ab und zu sich seiner Programmsätze erinnern, so wird ihm von allen Seiten klargemacht, daß seine Bewegung keine geeigneten Kräfte für die Wirtschaftsführung hervorgebracht hat. Die wirtschaftlichen Regenten sind Reichswirtschaftsminister Dr. Schmitt, Reichsbankpräsi dent Dr. Sch a cht, der Wirtschaftsberater Sar Meichar fanzlei Keppler, Vögler und Thysse
Diese Hochkapitalisten nennt man in führenden nationals sozialistischen Kreisen„ Normalisierer", weil sie den Rapitalismus in Deutschland von allen politischen Einengungen befreien und seinen normalen Gefeßen freien Lauf lassen wollen.
Merkwürdigerweise schadet bisher der hochkapitalistische Kurs dem Reichskanzler Hitler in der öffentlichen Meinung Deutschlands nur wenig. Die Abneigung der sozialistisch empfindenden Menschen im Nationalsozialismus wendet sich gegen Göring , der vielfach auch von Nationalsozialisten als Kapitalistenknecht bezeichnet wird. Die aus dieser Mißstimmung und aus diesem Mißtrauen erwachsende Unzufriedenheit in der SA. und in der SS. darf nicht überschätzt werden. Was soll der einzelne Mann oder eine einzelne Gruppe gegen den unge= heuren Machtapparat machen? Gin Inverbin dungtreten über größere Bezirke oder gar über das ganze Land ist aber einstweilen beinahe ausgeschlossen. Dazu ist das Spizelsystem zu sehr ausgebaut, auch in der SA. und in der SS. ist das gegenseitige Mißtrauen sehr groß.
Zur Devisenlagt
Die geringe Zunahme der Goldbestände in der Reichsbank wird nicht hoch bewertet. Diese Zunahme war möglich, weil seit Monaten Zinsen- und Schuldentilgung nicht transferiert worden sind. Das wird natürlich nicht ewig so bleiben. Es werden wieder Teile der Schuldenzinsen transferiert werden müssen, und die Schwierigkeiten werden dann rasch wieder wachsen. Sollte wirklich eine echte Belebung der Wirtschaft, die jetzt, objektiv betrachtet, noch nicht zu spüren ist, fommen, so würde das eine Steigerung der Rohstoffpreise und die Notwendigkeit größerer Rohstoffeinfuhren zu erhöhten Preisen bedeuten. Bei den Fertigfabrikaten könnte aber erst allmählich die Preissteigerung sich durchsetzen und selbst bei einer Steigerung des Exports würde es eine erhebliche