Deutsche Stimmen

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Feuilletonbeilage der Deutschen Freiheit" Mittwoch, den 6. September 1933* Ereignisse und Geschichten

Brief des ermordeten Professor Lessing

Auf meinen Kopf

ob die ganze Sache ernst gemeint ist oder nicht, aber ob ich in Freiheit bin oder nicht, ob die Zeitungen die Wahrheit sprechen oder nicht, es ändert an meiner Lage nichts. Aus einem friedlichen deutschen Schriftsteller bin ich nun ein Flüchtling

war ein Preis von 80 000,- Mack gesetzt" ning geworden. Alles, was ico tue, um meine Lage au

In einem Brief, den der Manchester Guardian" am 1. September veröffentlicht, und der vor ein oder zwei Wochen geschrieben ist, berichtet Professor Lessing seine Er­lebnisse bei der Judenverfolgung, die jetzt eine so tragische Wirkung gezeitigt haben:

Am Sonntag, dem 5. März, sollten die Reichstagswahlen stattfinden. Wie die Wahlen auch immer einsehen würden, für alle Fälle waren Vorsichtsmaßregeln ergriffen worden, um den Erfolg zu sichern, den die Nationalsozialisten wünschten. Die Sturmtruppen lagen in Bereitschaft für den Fall, daß in einem Bezirk ein bißchen Ueberredung" not­wendig war, um die erforderliche Stimmenzahl zu er= halten.

Ich wohnte in Anderten, einem Dorf, das etwa eine Stunde von Hannover entfernt liegt. Meine Vorfahren leb­ten seit wenigstens 300 Jahren in Hannover , und ich selbst habe mein ganzes Leben dort verbracht. In Anderten war ich der einzige Jude. Zu Beginn dieses Jahres fand die antisemitische Propaganda ihren Weg auch in dieses gott­verlassene Nest; das folgende Ereignis, das für die Ein­stellung in der heutigen Zeit typisch ist, öffneten mir die Augen über die Gefühle meiner nächsten Nachbarn:

Um nach Hannover und zurück zu kommen, benutzte ich gewöhnlich die Straßenbahn, welche die Fahrgäste aus den umliegenden Ortschaften mitnahm und sie durch Felder und Wälder in die Stadt beförderte. Eines Tages fuhr ich wie­der in der überfüllten Straßenbahn, als sich drei Männer mit Hakenkreuzen in meine Nähe setzten und über meinen Kopf hinweg ein sehr aufschlußreiches Gespräch führten. Sie sprachen den glühenden Wunsch aus, alle Juden zu hängen, und hielten es für dringend notwendig, ihr Ver­mögen zu beschlagnahmen. Hitler sollte Deutschland von die­sem Auswurf der Menschheit befreien.

Ich versuchte mich so zu stellen, als ginge mich die Unter­haltung nicht im geringsten etwas an. Die Männer wurden darauf jedoch deutlicher. Sie schrien so, daß alle Mitfahrenden es hören mußten, daß in der Umgegend von Hannover der Jude Lessing wohne. Es wäre ein Standal, daß er vor deutschen Studenten lesen dürfe. Er müsse entfernt werden. Die übrigen Mitfahrenden, die alle aus der Nachbarschaft waren und mich von Ansehen gut fannten, verhielten sich still. Der Schaffner schritt nicht ein. Es war für mich un­möglich, auszusteigen. Die Strecke ging quer über Felder und durch Wälder. Wenn die drei Männer mir folgten, wäre ich ihnen schutzlos ausgeliefert gewesen. In der Straßenbahn konnten sie nicht tätlich werden. So ließ ich sie ihre Droh­reden fortführen. Sieh doch, was für Feiglinge die Juden sind. Man kann ihnen ins Gesicht spucken und sie rühren sich nicht; sie müssen sehr dickfellig sein!" Das war kurz, bevor ich aussteigen konnte.

Die Flucht

In dem kleinen Dorfe, in dem wir wohnten, gab es nur ein paar Arbeiter, die alle Sozialdemokraten oder Kommu­nisten waren. Sie sind gute Freunde von uns gewesen und warnten uns, weil man einen Angriff auf unser Haus plane. Wir beschlossen daher, den Ort zu verlassen. Meine Frau zog zu Freunden in die Stadt, während meine Tochter und ich Deutschland verließen und nach Böhmen gingen. Wir hatten erfahren, daß vor allem in den Wagen dritter Klasse die Passagiere durchsucht und belästigt wurden. Aus diesem Grunde fuhren wir im internationalen Schnell­zug über die Grenze und famen am 5. März in Prag an. In derselben Nacht drang eine Abteilung Braunhemden in unser verlassenes Haus ein. Sie fühlten sich betrogen, weil sie niemanden vorfanden, und ließen ihre Rache an der Wohnung aus; sie zertrümmerten die Fenster. zerschlugen die Möbel, beschmierten die Bücher und richteten die Woh­nung derartig zu, daß es wochenlang infolge Ge= ruches nach Unrat und Rot, den sie hinein gebracht hatten, unmöglich war, das Haus zu betreten.

Schlag auf Schlag

Dann kam ein Schlag nach dem anderen. Zunächst erklärte der Minister für Wissenschaft, Kunst und Erziehung, daß ich meine Tätigkeit als Lehrer und Forscher sofort aufgeben müsse, ich hätte nicht länger das Recht, als solcher in Deutsch­ land zu wirken. Als ich protestierte und einwandte, ich hätte sechsundzwanzig Jahre lang doch gearbeitet und könnte nicht einfach auf die Straße gefeßt werden, erklärte man mir, ich würde nicht nur feine Pension erhalten, sondern müsse das Geld, das mir das frühere sozialdemokratische Ministerium bezahlt habe, zurückzahlen. Der Minister, der von den verschiedensten Lehrstühlen einige der besten Lehrer, die Deutschland hatte, entfernte, war es ist feltsam genug ein Bekannter aus meiner Jugendzeit. Jahrelang war er mein Nachbar gewesen; ich fannte seine ganze Laufbahn und seine offensichtliche Unfähigkeit. Nun war für ihn die Zeit gekommen, mir seine Ueberlegenheit zu zeigen

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Der nächste Schlag kam von der Volkshochschule in Hannover . Meine Frau und ich hatten sie begründet: meine Frau hatte vierzehn Jahre lang dort gearbeitet und sie zu einer der bedeutendster ihrer Art gemacht. Jetzt be­setzten die Nationalsozialisten die Schule, und wir besaßen nichts als eine kleine Summe, die wir für das Alter oder für Krankheit zurückgelegt hatten. Selbst diesen Notpfennig

lic man uns nicht mit der Begründung, wir könnten ihn benutzen. Greuelpropaganda im Ausland zu verbreiten.

Während einer Rede des Propagandaministers Dr. Göbbels , die durch Rundfunk übertragen wurde und die bezweckte, die Massen aufzuwiegeln, hörte ich, wie er von

mir als von dem Juden Lazarus sprach, der versucht habe, Hindenburg als einen Massenmörder zu stempeln, und der verbreitet habe, die deutschen Soldaten an der Front seien im Schmutz umgekommen. Die Verleumdungen wurden in geschickter Weise gegen mich vorgebracht, und ich hörte, wie die Massen brüllten: Hängt ihn auf!" Ein Flüchtling

Dann kam der letzte Schlag. Die deutschen Zeitungen ver­breiteten, daß derjenige vierzigtausend Mark Belohnung erhielte, der mich nach Deutsch = land zurückbrächte. Neuerdings ist eine Prämie von 80 000 Mart auf meinen Kopf gesetzt worden. Ich weiß nicht,

verbessern, wird sie nur verschlimmern. Daß ich überhaupt noch lebe, das verdanke ich ein paar guten Freunden, bei denen ich jetzt bin. Nach einem Leben der Arbeit in und für Deutschland muß ich jetzt wie Coriolan sagen: ,, Beloved land, either you must shelter me now, or not even my ashes shall rest with you."

Ich bin Deutscher und werde Deutscher

bleiben; ich bin Jude und werde Jude blei­ben. Ich bin Sozialist und werde Sozialist bleiben. Ich will keine Greuelpropaganda machen; wenn ich das wollte, so würde ich niemals meinen Namen unter dieses Schriftstück setzen. Ich habe niemals eine Zeile ge­schrieben, ohne sie mit meinem Namen zu zeichnen. Jetzt fämpfe ich unter meinem Namen für Gerechtigkeit gegen mein eigenes Land, das ich liebe.

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Am Samstag, dem 2. September, hat in Marienbad die Beisetzung Professor Lessings in aller Stille stattgefunden.

Theodor Lessing : Zucht

Wir veröffentlichen einen der letzten Aufsätze des in Marienbad ermordeten deutschen Denkers Theodor Leffing. Der Aufsatz erschien im Tagebuch" am 14. Januar 1983, also sechs Wochen vor der Machtergrei­fung Hitlers .

Die große nationale Welle hat eine Ueberfülle von Büchern herangespült, welche die bewußte Raffenaufzucht des deutschen Volkes( Eugenese) fordern. So fragwürdig dieses ganze Schrifttum ist( die dilettantischen Rassenbücher des Jenaer Professor Günther, die primitiven Gefühls­ergüsse von Mannen um Hitler , das anmaßende Geschwätz Hans Blühers und so vieler ähnlicher Weltbeglücker und Propheten), so darf doch keinen Augenblick verkannt werden, daß Bevölkerungspolitik, Menschenökonomie und Menschen­auslese in der Tat zum Mittelpunkt aller Politik gemacht werden muß. Das Ende des Militarismus und seiner Diszi­plin, die Auflösung der alten Armee ist für Deutschland zu­nächst zu einer Katastrophe geworden. Republik und Demo­tratie hatten für die dahinschwindende Manneszucht keinen Ersaß. Man hätte an die Einführung des allgemeinen Dienst­jahres denken können. Aber die Gewerkschaften sperrten sich dagegen. Mit Recht! Man hätte der traurigen Armee der Arbeits- und Erwerbslosen die furchtbarste Not geschaffen. Es versteht sich auch, daß die Arbeitsdienstpflicht allein nicht zur Ertüchtigung und Sittigung des Volkes genügen kann. Militär und Militarismus werden einmal veralten. Sie werden aber immer wieder aufflackern, solange man den heroischen und männlichen Jdealen kein anderes Feld schaf­

fen kann als das der Wehrfähigkeit". Keinesfalls jedoch fällt die Forderung der Zucht zusammen mit den Forderungen jenes Nationalismus, dessen ganze Weisheit zuletzt fol= gende ist:

Für den Langföpfigen ist der Langschädel, für den Schlitz­äugigen das Schlißauge, für den Blondlockigen das Blond= haar Anzeichen eines herrlichen Blutes. Wer schwarz ist, haßt die Weißen. Wer weiß ist, verachtet die Schwarzen. Und der gelbe Mann verwirft die Weißen samt den Schwarzen.

eine Zuchtethik schaffen zu können, in welcher Hinsicht start und schwach, gesund und tranf, wertvoll und minderwertig gebraucht werden. Eine ideale Kriegerkaste bedarf völlig anderer Verbote und Pflichten als zum Beispiel die Gemein­schaft der Heiligen oder auch nur ein Stand von Priestern. Mit Sicherheit läßt sich nur eines sagen: Höherführung des Typus Mensch ist immer geknüpft an eine erschwerte Lebens­führung. Je höher der Mensch steht, um so weniger darf er es sich leicht machen"( noblesse oblige). Führend kann nur eine Menschenschicht sein, die weniger Rechte, aber strengere Pflichten, weniger Geld und Genuß, aber strengere Ehre und Verantwortlichkeit besitzt. Von den obersten Stellen( die alte Forderung Platos!) ist die reinste Einsicht und Klarheit, aber auch äußerste Verantwortung mit Leib und Leben zu fordern. Drittens: Alle Ideen von Menschenzucht sind sinnlos, so­lange nicht der Mensch als Einzelmensch Sinn seiner Er­ziehung ist. Charakteristisch für das Gegenteil ist das schnöde Wort: Menschenmaterial. Solange der zur Welt geborene Mensch Material" ist, beispielsweise zur Machterweiterung eines Staates oder zur Anhäufung von Kapital, solange kann nicht von Zucht die Rede sein. Die an sich gesunden und richtigen Gedanken der Völkischen " über Adel und Ertüchti­gung scheitern an ihrer abstrakten Jdolatrie der Gözen " Nation" und" Vaterland", hinter denen nichts lauert a Is Die Machtgier privilegierter Stände und die Selbstvergottung jedes Blutes.

Spruch

Der Dienst der Freiheit ist ein strenger Dienst, Er trägt nicht Gold, er trägt nicht Fürstengunst, Er bringt Berbannung, Hunger, Schmach und Tod; Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst... Ludwig Uhland .

Nein! Wie wir Pflanzen und Tiere immer zu neuen Arten Wachtraum vom Kriege

und Sorten herangesteigert und mannigfaltig gemacht haben, so werden wir auch eine methodische Hochzucht der Völker vornehmen müssen, wenn nicht die wahllose Allvermischung und Blutmanscherei zu einer Verschleifung, ja man faun rubig sagen, zur Verföterung" der Menschen führen soll. Die Gesetze der Geopolitik gelten nicht mehr. Die Wirtschaft vermengt alle Völker und Schichten. Der Nationalismus sinnt auf Gesetze des Ausgleichs. Aber gerade die nationalen Schreihälse aller Völker und Länder mit ihren verschliffenen Allerweltsgedanken, mit ihrer Vorherrschaft der stärksten Fäuste oder der größten Mäuler, stellen uns klar vor Augen die rohe Larve der Seelenlosigkeit und Ungedanklichkeit. Und wenn das, was wir heute in Deutschland als deutsche Kultur" erleben, wirklich das echte Wesen des deutschen Volkes wäre, dann wäre es rühmlicher, eben undeutsch" zu heißen...

Für die kommenden biologischen Aemter drei Vorbemer fungen:

Erstens: Alle Bevölkerungspolitik( Heiratsfonsens, Ehe­beratung, Rampf um den Abtreibungsparagraphen usw.) wird vorausbestimmt durch die Sozialfürsorge. Solange Menschen nicht gesund wohnen, fich gesund kleiden und gesund essen( man denke zum Beispiel an den Alkoholmißbrauch der proletarischen, an den zweifellosen Mißbrauch des Fleisch­essens in der bürgerlichen Schicht), solange wird auch mit Sexualethit" faktisch nicht das mindeste erreicht. Es ist nicht so wichtig, daß er täglich ein Bad bekommt. Bei den täglichen Gewohnheiten, also bei Essen, Trinken, Schlafen, Waschen, Wohnen, hat Volksaufbesserung zu beginnen. Rassenaufzucht ist nur gerade so weit möglich, als sozial vorgesorgt wurde. In England liegt es günstiger als in Deutschland in Stan­Sinavien günstiger als in England

Zweitens: Man wähne ja nicht, mit so allgemeinen Prä­dikaten wie start oder schwach, gesund oder trant, wertvoll oder minderwertig, iemals

Von Albert Kranold.

Ich schrecke auf des Nachts, in Schweiß gebadet, Und stiere irr ins Dunkel um mich her. Mein Atem geht vor Angst und Grauen schwer, Bis das Erwachen lösend mich begnadet.

Im weichen Samt der Nacht seh' da ich leuchten Silbrigen Glanz, der aufblüht und erlischt. Erschrecken jäh das zarte Bild verwischt. Ich fühle Tränen meine Hand befeuchten.

Dann flammen rote Garben, fluten Donner Dumpf brausend mir and Ohr, das zitternd lauscht. Mit urgewaltgen Riesenflügeln rauscht

Die ferne Schlacht. Wie letzter Glanz der Sonne.

Entbreitet sich vor mir in weitem Kreise Des Trommelfeners Glutmeer. Notes Blut Steigt unaufhaltsam auf wie Sturmesslut. Verfallne Gräben dienen als Geleise.

Zerwühlte Aecker werden zu Gesichtern, In die das Leiden breite Furchen grub. zerfetzte Körper rollen, Schub auf Schub, Vom Schlamm, der schmaßt, verschlungen, in die Trichter.-

Ich taste ächzend mit zum Licht. Befreiend Durchflutet es den so vertrauten Raum.

Doch ob dies Bild auch nur ein flüchtger Schaum, Verwandelt läßt zurück mich dieser Traum: Er droht mich mit dem Leben zu entzweien.

Nein, Nein, Er soll den Willen mir ernenen!