DEUTSCHE   ZUKUNFT

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Was bleibt lebendig am Marxismus  ?

Eine Diskussion, die fortgesetzt wird

Was bleibt lebendig am Margismus? Le Temps" sucht die Antwort auf diese Frage burch eine Enquete" bei einer Reihe von hervorragenden Vertretern der historischen Wissenschaft und des politischen Denkens zu ermitteln. Dieses Unternehmen ist noch nicht abgeschloffen, und es läßt sich noch nicht beurteilen, in welchem Maße der interessante Versuch des Pariser Blattes gelingen wird,

Nach dem Anfang beurteilt, laffen sich manche sehr aufschlußreiche Betrachtungen und Erkenntnisse erwarten. Wir geben hier zunächst die Ausführungen des großen italienischen Hiftoriters Guglielmo Ferrero   wies der. Der Verfasser des berühmten Werkes über den Aufstieg und Niedergang des alten Roma" beantwortet die Frage des Le Temps" wie folgt:

1. Die Meinung Guglielmo Ferreros

Zu den Gründen, weshalb man die Rolle des Sozialismus in der europäischen   Politik der letzten fünf Jahrzehnte so schwer versteht, gehört es, daß man den Marrismus als eine Theorie der sozialen Revolution anzusehen pflegt. Eine Theorie der sozialen Revolution kann nicht existieren, weil es eine soziale Revolution nie gegeben hat und nie geben wird. In allen Kulturen ändert sich die soziale Ordnung ständig, aber durch eine innere und zum großen Teil freie Arbeit, deren Endergebnis immer unbekannt ist. Nie konnte man und nie wird man den sozialen Zustand einer Kultur durch einen vorbereiteten Gewaltakt und nach einem Plan ändern können.

Man tann aber und dies geschah tausendmal in der Geschichte durch einen vorbereiteten Gewaltakt die poli tische Ordnung eines Landes ändern, d. h. die Macht einer Gruppe, die sie innehatte, entreißen und zu einer anderen Gruppe übergehen lassen. Es gab in der Geschichte keine soziale, aber sehr viele politische Revolutionen.

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Was meines Erachtens den Marxismus fennzeichnet, ist, daß er unter dem Schein einer Theorie der sozialen Revolu tion als Werkzeug des großen politischen Rampfes dient, der Europa   seit der französischen   Revolu tion zerreißt genau so, wie die Theorie von Rousseau   und tion zerreißt genau so, wie die Theorien von Rousseau  und Montesquieu   oder nationalistische Theorien und Leiden­Ich habe in einem meiner letzten Bücher darauf hinge­wiesen, daß der Marrismus seit fünfzig Jahren dem Klein­bürgertum, einem Teil der intellektuellen Klassen und einem Teil der Arbeiterschaft und des Bauerntums namentlich da­zu dient, um in Europa   die Reste der aristokratischen und autoritären Organisation der alten Ordnung zu vernichten und die Gruppierung der sozialen Kräfte zu bekämpfen, die man als Militarismus bezeichnet. Unter dem Echein der sozialen Revolution verlangen die Massen vom Sozialismus eine demokra= tischere Organisation des Staates und den Frieden. Es genügt, um sich davon zu überzeugen, die Karte der roten Expansion in der ganzen westlichen Welt an­zusehen: wir sehen, daß die Macht und der Erfolg des Margismus um so größer find, je mehr sich die Staats­form der absoluten Monarchie nähert, je stärker die Ent wicklung des militärischen Systems und je häufiger die Kriege find.

Wo finden wir den Marxismus im äußersten Ausdruck seiner Doktrin als absoluten Beherrscher der Macht? In Rußland  , d. h. in einem Lande, wo die große Industrie wenig entwickelt, das aber bis 1917 ein großes Reich mit absoluter Monarchie war. Und der Marɣismus kam zur Herrschaft nach dem vernichtenden Kriege. Dagegen find die USA  . das am stärksten industrialisierte Land, der Marris­mus hat aber dort keinen Einfluß. Warum? Weil die USA  . eine alte Demokratie sind, die außerhalb der Zone der Kriege Itegt und feine Wehrpflicht hat.

In Europa   ist England das am stärksten industriali­sierte Land. England hat seit Jahrhunderten ein repräsenta­tives Regierungssystem, das sich bis zur Verleihung der politischen Rechte an die breitesten Massen entwickelte. Und England ist ein Land, das zwar nicht so weit wie Amerika  von der Zone der Kriege entfernt ist, aber keine Wehrpflicht hat. Bis 1914 war die sozialistische Partei in England ohne Bedeutung. 1914 aber hat das ganze englische   Volk zum erstenmal in seiner Geschichte an einem großen Krieg mit dem obligatorischen Militärdienst teilnehmen müssen, und in wenigen Jahren nach 1919 wurde die sozialistische Partei auch in England zu einer großen Macht und zu einer der beiden Parteien, die das britische   Reich regieren.

Bis vor wenigen Monaten war der Marrismus in Deutschland   viel mächtiger als in Frankreich  , in­dem er in Deutschland   eine der regierenden Parteien, während er in Frankreich   nur im Zustande einer einfluß reichen parlamentarischen Partei und noch nie an der Macht beteiligt war. Allerdings darf man die Be­deutung des momentanen Niedergangs des Marxismus in Deutschland   nicht über schäzen: um den Marrismus endgültig au beseitigen, würde man etwas anderes brauchen, als die Ergreifung der Macht durch Adolf Hitler   und seine Partei.

Reicht nun die stärkere Industrialisierung Deutschlands  aus, um diesen Unterschied zwischen Frankreich   und Deutsch­ land   zu erklären? Ich glaube das nicht. Es gibt etwas anderes: und das ist die Tatsache, daß Deutschland   bis 1914 politische Einrichtungen hatte, die bedeutend mehr oli­garchisch und autoritä waren, als in Frankreich  . Der demokratische Charakter des Staates setzte in Frankreich   seit 1870 die Grenzen für die Bedeutung und den Einfluß des Marxismus  . Man wiederholt gerne in konservativen Kreisen, daß die Demokratie den Sozialismus als ihre Folge hat: Die Erfahrung zeigt, daß der Marxismus bis jetzt in den absoluten oder halb­absoluten Monarchien viel mehr Chancen hatte, als in den alten Demokratien.

die politische Freiheit in der wirtschaft­lichen Unfreiheit ihre Grenzen findet und durch diese wirtschaftliche Unfreiheit wenigstens zum Teil illusorisch gemacht werden kann. Daher die Lehre von der sozialen Revolution. Bei Marr selbst bietet diese Lehre keinen Anhalt für die Kritik, die Ferrero gegen die zweifels­ohne stark verbreitete, wenn nicht herrschende Vorstellung von der sozialen Revolution richtet. Für Marg ist die soziale Revolution eine politische Revolution, die die politischen und rechtlichen Formen für die schon vorbereitete soziale Umwälzung schaffen soll. Die soziale Revolution ist aber zu einem Mythos geworden, der die Erwartungen der Maffen auf die sofortige wirtschaftliche und soziale Umwäl zung und Heilung aller Wunden nach der siegreichen poli­tischen Revolution zusammenfaßte. In Rußland   mußte in­dessen die siegreiche Revolution die Rückständigkeit der wirt­schaftlichen Entwicklung nachholen( gewaltsame Industria­lisierung), und in Deutschland   scheiterte die von der sozialt= stischen Bewegung beeinflußte Demokratie an der Unfähig= Teit, die dreifache Aufgabe zu lösen: thre Selbstbehauptung, die Befriedigung der unmittelbaren, nach dem verlorenen Kriege besonders brennenden Nöte und dem Umbau der wirtschaftlichen und sozialen Struktur.

Die Frage, inwiefern das Scheitern der sozialistischen   Be­wegung auf die objektive Schwierigkeit oder sogar Unmög­lichkeit und inwiefern auf die innere Schwäche der Bewegung selbst bzw. auf die falsche Politik ihrer Führung zurückzu­führen ist, können wir hier nicht prüfen. Den Ausführungen von Ferrero gegenüber dürfen wir aber auf Grund des oben Gesagten feststellen, daß die sozialistische Bewegung nicht als eine ihrem Gehalt nach rein politische Be­wegung betrachtet werden kann. Eine solche rein politische Freiheitsbewegung kann es auch nicht mehr geben, nachdem sich die Begrenzung der politischen Freiheit durch die wirt­schaftliche Abhängigkeit offenbart hatte. Nicht die Ver­fnüpfung des politischen Freiheitstampfes mit dem Ge­danken des wirtschaftlichen Umbaus der Gesellschaft ist dem Marrismus vorzuwerfen. Diese Verknüpfung ist jetzt erſt recht notwendig. Die Schwäche des marristischen Sozialis­mus in seiner späteren( und insbesondere deutschen) Form bestand unseres Erachtens vielmehr darin, daß er sich von den beiden für ihn lebenswichtigen Quellen, vom Macht und Freiheitswillen, sowie vom Willen zur wirtschaftlichen Umwälzung entfernte, indem eine eng wirtschaftliche, zuweilen rein sozialpolitische oder eine wiederum eng verwaltungspolitische Einstellung in seiner politischen Praxis vorherrschend wurde. Lezzen Endes war das auch der Hauptgrund, warum dem marxistischen  Sozialismus auch seine psychologische Zauberkraft in einem so starken Maße verloren ging. Es versteht sich wohl von selbst, daß hiermit nicht die große Bedeutung der Sozial­politit oder Verwaltungspolitik überhaupt bestritten, son­dern die primäre und zentrale Bedeutung des politisch, wirt­schaftlich und kulturell revolutionären Freiheitswillens im Sozialismus hervorgehoben wird.

Es besteht ein Widerspruch zwischen der marxistischen  Theorie und dem Handeln der sozialistischen   Partei feit fünfzig Jahren. Die Theorie ist sozial, das Handeln( die Aktion) ist politisch. Dieser Widerspruch erklärt meines Er­achtens gleichzeitig die großen Erfolge des Marxismus und seine merkwürdige Schwäche, deren das letzte und erschüt ternde Beispiel die deutsche Katastrophe war. und diejer Nur keine Jllusionen! Widerspruch gehört zu den wichtigsten Ursachen der polttischen Verwirrung, in der sich die westliche Welt verliert, denn er schließt sich an die Verwirrung der bürgerlichen Parteien und gibt damit der allgemeinen Un­ordnung die Intensität, die zur Katastrophe führen kann.

Dieser Wille wird leben! Und mit ihm der Marxismus  , als sein ideologischer Ausdruck und seine theoretische Be gründung. Dr. Friz Martens.

Wir lassen diesen Ausführungen eine Erwiderung folgen, da und die von Ferrero aufgeworfenen Fragen als einer ernsthaften Diskussion wert erscheinen. Es handelt sich ja nicht um eine nur theoretische Ans gelegenheit, sondern um die Probleme von größter aktueller Bedeutung für das politische Handeln der Gegens wart und nicht nur für Deutschland  , sondern für die ganze Welt. Zum Schluß seiner Ausführungen bentet Ferrero felbft an, daß die Erscheinungen, die von den anderen als Krise oder Zusammenbruch des Sozialismus bezeichnet werden, zur Katastrophe der gangen westlichen 3ivilisation führen können. Wo ist die Rettung zu suchen: in der Ausrottung" des Marrismus oder in seiner Wiederherstellung in der Form, die er vor der deutschen   Katastrophe hatte, in feiner Ueberwindung durch eine von ganz anderen Borauslegungen ausgehenden Ideologie oder in seiner Wiedergeburt in einer durch das Feuer des großen historischen Brandes gereinigten Form? Das sind die Fragen, bie nicht bloß Diskussionsfragen für Anhänger und Gegner einer politischen Richtung, sondern wahrhaftig die Schicksalsfragen für unsere Zivis lisation find. Tua res agitur! Es geht um deine Sache. Daß muß jeder begreifen, für den diese Zivilisation mehr als ein leeres Wort ist.

2. Ein Marxist antwortet

In seinen Betrachtungen über den Marxismus wendet Ferrero die Methode an, die der Marrismus selbst bei der Betrachtung verschiedener politischer Lehren anzuwenden pflegt. Hinter dem Schein" der Doktrin sucht Ferrero nach bem wirklichen Inhalt der Bestrebungen, durch die die Bewegung getragen wurde, nach dem Willen der Massen, dem die Theorie eine bestimmte Form gegeben hat. Den wirklichen Gehalt des Marrismus, den er mit der sozialt stischen Bewegung gleichzusehen scheint, sieht Ferrero im mächtigen Befreiungswillen der breiten Massen der sich gegen die oligarchische und autoritäre Unterdrückung richtet. Somit erscheint der Marrismus als eine direkte Fortsetzung der Kämpfe der französischen   Revolution, und er gewinnt eine Machtstellung dort, wo diese Kämpfe nicht, wie in Frank­ reich   selbst, zu einer weitgehenden Demokratisierung der politischen Ordnung geführt haben.

Maßgebend ist für Ferrero seine Beobachtung, daß der Marrismus dort am stärksten war, wo der absolutistische Staat gar nicht( Rußland  ) oder sehr unzureichend( Deutsch­ land  ) durch den Befreiungskampf des Bürgertums über

wunden wurde. Diese Beobachtung trifft im wesentlichen zu. Ferrero erwähnt aber einen wesentlichen Umstand nicht nämlich den, daß jene Länder, die sozusagen perspätete" bürgerliche Revolutionen hatten, indem es in ihnen zum Konflikt zwischen dem Bürgertum und der alten Ordnung in der Seit fam, als der Gegensatz zwischen dem Bürgertum und dem Proletariat viel schärfer ausgeprägt war, als in England und in Frankreich   in der Zeit vor ihren Revolutionen. Daher das historische Versagen des Bürgertums, seine Kapitulation vor oder sein Kompromiß mit den herrschenden Mächten der alten Ordnung und daher die Kritik dieses bürgerlichen Versagens, die allmählich zur ausgesprochenen proletarischen Kritik wurde. Diese Entwicklung läßt sich in allen ihren Phasen an der persön lichen Entwicklung des rheinländischen Liberalen Karl Marx  aum Begründer des Marrismus verfolgen.

Wurde aber der marristische Sozialismus in dem hier ge­zeichneten Sinne zum Erbe des politischen Liberalismus der französischen   Revolution, übertragen in die Länder, wo die bürgerlichen Revolutionen nicht siegreich waren, so ergab sich aus der gleichen historischen Lage die Erkenntnis, daß

Selbstmord einer Demokratie"- daß ist der Titel einer foeben im Graphia- Verlag in Prags  Karlsbad   erschienenen Schrift von Otto Friedrich. Wir entnehmen der 50 Seiten umfassenden Arbeit, die noch eingehend besprochen wird, die folgenden bemer tenswerten Säge:

Nur feine Illusionen! Wer glaubte, daß durch eine stär­fere nationale Wendung der Arbeiterbewegung mehr als Schreibtische und die Büroräume erhalten werden konnten, der irrte sich. Ebenso irren alle, die glauben, daß es heute noch sinnvoll sei, im alten Trott der Parteigespanne weiterzu­fahren, wenn der Weg auch ein Holzweg wird und kein Mensch in den Karren mehr einsteigen will. Worauf eẞ an­kommt, ist, daß eine von Grund auf neue Arbeiterbewegung, zusammen mit Angestellten und Kleinbauern als Opposition in den ständischen Organisationen, in den Werkstätten, in den Kontoren und in den Kaders der Arbeitsdienstpflichtarmee langsam die Enttäuschten zu neuer Arbeit gewinnt. Das Ziel fann dann nicht ein Zurück zur Weimarer Republik   sein, deren psychologische und rechtliche Grundlage und deren so­ziologischer Unterbau in den Parteien weitestgehend zer­stört ist. Auf die Diktatur des Obrigkeitsstaates kann nur die Diktatur des Volksstaates folgen. Ein wirklicher Volks­staat kann nicht mehr in dem Liberalismus einer formalen Demokratie sich erschöpfen, er muß das Gesicht der arbeiten­den Klassen tragen. Ohne jener Elitetheorie recht geben zu wollen, die von dem Franzosen Georges Sorel   gepredigt, von Mussolini   und Lenin   angewandt und von Hitler durch seine Idee einer Rassenelite entstellt wurde, wird man sich doch darüber klar sein müssen, daß es gilt, an die Stelle schwerfälliger Parteiorganisationen einen beweglichen Stamm von jungen Kräften zu setzen, der die Initiative des revo lutionären Handelns übernimmt.

Nur keine Illusionen! Man glaube nicht, daß, in einem Zeitalter, in dem die Eroberung des Staatsapparates den Stegern weitestgehende technische Mittel an die Hand gibt, um sich, selbst bei einer kritischen wirtschaftlichen Entwick lung, wie sie zu erwarten ist, kraftvoll zu behaupten, es mög­lich sei, durch Einzelmaßnahmen und Revolutionsspielereien etwas zu erreichen. Auch baue man nicht zu fehr auf außen­politische Verwicklungen, die ein neues Bild ergeben könn ten. Am allerfalschesten wäre es freilich, hente noch auf Kon flitte zwischen Nationalsozialisten, Stahlhelm und Reichss wehr zu sehen. Erst wenn die Enttäuschung in den eigenen und getreuesten Reihen des Nationalsozialismus eingetreten ist, erst wenn der deutsche Untertan in der Schule der Dif­tatur den Segen jener Freiheit schäßen gelernt hat, nach der er sich heute nicht einmal sehnt, ja, die er als liberalistisches ueberbleibsel bekämpft, erst dann ist der Augenblick für eine Opposition gekommen...