Fretheil

Nummer 77-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Sonntag- Montag, 17. Sept. 1933 Chefredakteur: M. Braun

Wenn jemand Geld verdienen will, so mag er Koton fabrizieren oder Tuche oder auf der Börse spielen. Aber daß man um schnö­den Gewinnstes willen alle Brun­nen des Volksgeistes vergifte und dem Volke den geistigen Tod täglich aus tausend Röhren kre­denze,- es ist das höchste Ver­brechen, das ich fassen kann!

Lassalle.

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Wir Göring von Gottes Gnaden!

Prunkfeste in der Höhe- Grollen Grollen in der Tiefe

In Berlin ist am Freitag der neue preußische Staatsrat er­öffnet worden. Die Einrichtung selbst ist bedeutungslos. Der Staatsrat ist eine Dekoration. Sogar der in der vormärz lichen Zeit neben dem absoluten König von Preußen ge­legentlich zusammentretende Staatsrat war einflußreicher als dieses neue Gebilde, als dessen Schöpfer der Minister­präsident Göring sich rühmt.

Bedeutungslos ist der Staatsrat, aber bedeutungsvoll bleibt die Art seiner Einführung. Das wilhelminische Zeit alter des Gottesgnadentums, des Prunks, der Reden hoch vom Himmel her mit flirrendem Wehrgehänge und roman­tischen Phantasien ist wiedergefehrt. Alles ist wieder da: die siegreichen Feldherren der Armee und der Flotte", wie die neue Majestät Hermann Göring ekstatisch ausrief, der Präsentiermarsch und die Ehrenkompanie, die Preußen­standarde und der alte preußische Adler, der nun wieder das Schwert und die Blize in seine Klauen erhalten hat. Aber es ist noch eins dazugekommen: Zur Erinnerung an die herr­lichen Zeiten, die Wilhelm verhieß, und die Adolf und Hermann dem deutschen Volke gebracht haben, ist dem preußischen Adler das Hakenkreuz auf der Brust verliehen worden. Die Krone fehlt noch, aber sie wird wohl auch wiederkommen, wenn die Zeiten noch herrlicher werden.

Der Allerhöchste Herr, Reichskanzler Abolf Hitler fehlte. Er fand nicht die Zeit, die paar hundert Meter aus der Wilhelmstraße zur Feier hinüberzugehen. Er ließ seinem intimsten Feinde Göring sagen:" Der heutige Tagsoll der Ihre sein." Dankbar dafür, daß er den Glanzpunkt des Festes allein bilden durfte, rühmte Göring seinen Führer und brachte ihm ein dreifach donnerndes Siegheil aus, aber niemand von den Kundigen glaubt an die Echtheit des Rufes. Der Riß zwischen Göring und Hitler ist tief, wahrscheinlich unheilbar. Sonst wäre es nicht möglich, daß der deutsche Reichskanzler dem größten Festakt ferngeblieben wäre, den das neueste alte Preußen zur Wiederkehr des totalen Obrigkeitsstaates veranstaltet hat.

Die Rede Görings gleicht auch im Stile genau den militä­risch betonten Ansprachen Wilhelm II. : kriegerisch, gottes­fürchterlich und volksverachtend.

Wir übergehen die kläglichen Schimpfereien auf die Volks­vertretungen, die diesmal bis auf die Konfliktsjahre zwischen Landtag und Bismard in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zurückgingen. Europäisches Aufsehen wird es

Führer und Volk

,, Sitler aber einigte das Volk." Göbbels am 14. September 1983.

Das Volk wurde geeint auf der ganzen Linie." Göring um 15. September 1983.

E3 mehren sich die Zeichen, daß die wahre Stimmung des deutschen Volkes ganz anders als festlich ist. Trotz aller Paraden wird mehr geschimpft als Heil Hitler" gerufen. Aussprüche wie die des Göbbels und die des Göring be= weisen, daß die Herren entweder sich und andere belügen oder auf den Höhen ihrer Stellung die Stimme des Volkes nicht mehr hören. In den Tiefen flingt es anders als da oben. Nehmen wir zum Beweis eine parteiamtliche Kund­gebung eines süddeutschen nationalsozialistischen Kreisleiters, die als eine schwere Dissonanz in das preußische Festspiel hineinschrillt.

,, Warnung!"

In den vergangenen Wochen ist es wiederholt vorges kommen, daß in versteckter Form gegen die Amtswalter der Bewegung gehegt wird. Es wird dabei der Versuch gemacht, durch Ausschlachtung des privaten Lebens dem einen oder dem andern einen Strick daraus zu drehen. Diesen Unverschämtheiten, meistens ältere und verdiente Pag. anzuschwärzen, werde ich in Zukunft mit aller Schärfe entgegentreten. Die bes rufenen Stellen der Partei bemühen sich unter den größten Anstrengungen fortlaufend, die arbeitslosen Volksgenossen wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Mit einer geradezu wahnwißigen und maßlosen Ge hässigkeit kommen nun einzelne Volksgenossen gez laufen, um angeblich zu beweisen, daß dieser oder jener Mann den ihm übertragenen Plaz gar nicht verdient habe. Wenn wir uns die Mühe machen, Volksgenossen nach Leistung und Tüchtigkeit unterzubringen, so laffen wir uns burch das Gegröle von mißgünstigen und übels wollenden Zeitgenossen in unserer Arbeit nicht

erregen, daß der Führer Preußens, der neue Uniformgeneral

bas Scheitern der letzten großen Militärvorlage vor dem Deutsche Nationalhymne

Kriege für dessen Verlust verantwortlich machte. Zwar weiß die Militärliteratur aller Sprachen, einschließlich hervor­ragender deutscher Militärwissenschaftler, daß dies nicht zu­trifft, aber das ist nebensächlich. Entscheidend ist: Göring proklamiert am Vorabend der Abrüstungskonferenz den deutschen Rüstungswillen in zugespister Form und liefert damit denen Material, die auf das Scheitern der Abrüstungskonferenz durch deutsche Schuld hinarbeiten.

Die neue Staatsidee, diese Autokratie einer Führer­Elique und ihrer bewaffneten Söldner wurde so formuliert:

Im neuen Staat geht die Autorität von oben nach unten, die Verantwortung aber immer von unten nach oben. Vers antwortlich sind Sie dem Nächsten, der über ihnen zu stehen berufen ist. Die letzte Verantwortung trägt der Führer, und er trägt sie vor seinem Gott und seinem Volt. Und dann an anderer Stelle:

Der Staatsrat soll beraten, er soll helfen, der Staatsrat foll mitarbeiten, aber meine Herren, die Berantwortung frage ich allein und bin dazu berufen worden von meinem Führer. Die Verant wortung fann mir teiner abnehmen, und ich fann und darf sie mit niemand teilen.

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Das ist Wilhelm II. in Rürassieruniform und Lohengrin­helm: Sic volo, sic jubeo so will Ich, so befehle Ich." Einer ist Herr und König, Ich allein." Ich bin das In­strument des Himmels."

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Wo hätte je Görings Vorbild Mussolini in solchem Wahn gesprochen und alle Verantwortung für eine große Nation allein auf sich genommen? In der Uebersteigerung des Führersgedankens liegt die Gewißheit des früheren oder fräteren Untergangs des deutschen Autofratensystems unzu­länglicher Geister.

Sie wollen die Verantwortung ganz allein tragen, und sie werden sich vor dem kommenden Volksgericht zu ver­antworten haben. Aber nicht sie allein, sondern alle die mit, bie diesen blutigen Betrug an einem großen Volfe ermög licht, geduldet, unterstüßt haben.

irre machen. Weiterhin werden die Maßnahmen der Ge. meindeverwaltungen und der berufenen Gemeindevers tretungen in einer Art und Weise kritisiert, daß dadurch eine Atmosphäre des größten Mißtrauens geschaffen wird. Durch Verbreitung irreführender Nach richten über gar nicht existierende steuerliche Maßnahmen der Regierung soll eine Panikstimmung bei der Bevölkerung hervorgerufen werden. Bestimmte Ele mente schenen sich nicht, in den Industrie, und Gewerbes betrieben sowie in den öffentlichen Lokalen durch ebenso freche wie verlogene und dumme Behaups tungen die Aufbauarbeit im nationalsozialistischen Staat zu sabotieren. Ich warne alle Volksgenossen hiermit nachdrücklichst davor, fich irgendwelche aus Bosheit oder Dummheit geäußerte Bemerkungen, welche gegen unseren Staat gerichtet sind, zu eigen zu machen! Vor allen Dingen warne ich die Gastwirte, daß die Gäste fich in abfälligen Bemertingen gegen den jezigen Staat auslassen sowie diesen Staat und seine Organe vers ächtlich machen. Die Gastwirte müssen damit rechnen, daß sie dafür haftbar gemacht und ihre Lokale in Zukunft geschlossen werden. Ich warne auch jene üblen Miesmacher, welche ihre besondere Aufgabe darin sehen, durch geistesarme Bes merkungen die Maßnahmen der Regierung ins Lächerliche zu ziehen. Ebenso warne ich auch noch jene Kreaturen, welche sich jetzt berufen fühlen, die Vergangenheit ihrer Mitmenschen nach dunklen Stellen durchzuschnüffeln, um damit ein Geschäft zu machen. Wer glaubt, den aktiven oder passiven Widerstand betreiben, den gesunden Aufbaus willen des deutschen Boltes zerstören zu müssen, muß damit rechnen, daß er in eindringlicher Weise die

acht des Staates au spüren bekommt und dorthin kommt, wo es als ein gemeiner Saboteur des nationalsozialistischen Staates hingehört. Vaihingen- Filder, im September 1988.

Fischer, Streisleiter."

Auf die Melodie des Horft- Weffel- Liedes zu fingen. Wir brauchen Brot, ihr gebt uns Wachtparaden und laßt den braunen Rundfunk auf uns los, für unser Geld spielt ihr die Herrn von Gottes Gnaden, tein Feuerwerk, kein Feft ift euch zu groß.

Der Winter kommt, wir haben keine Kohlen, der Arbeitsdienst zieht uns den Rüden krumm, und unsre Kinder laufen auf zerrissnen Sohlen in eurem Gottesgnadenreich herum.

Denkt ihr, weil ihr dem Volt den Mund vernietet, wird es in Zukunft auch vom Schweigen satt? Es nügt euch nichts, daß ihr das freie Wort verbietet, der Hunger spricht sehr lant in Land und Stadt. Es kommt der Tag, da wird sich uns verbünden, wer Freiheit liebt und Todesfurcht nicht kennt. Da werden wir ein rotes Feuerwerk entzünden, in dem das ganze dritte Reich" verbrennt.

Sugin.

Dieses Gedicht, das aus dem Reiche stammt, mag zugleich eine Antwort an die neueste Ankündigung des Reichs­propagandaministers sein, die dem deutschen Volke 150 000 Versammlungen verheißt.

Beginn: 21. September

Die soeben erscheinende Nr. 37 der Neuen Welt­bühne bringt folgenden Aufsat von Willi Schlamm unter der Ueberschrift Eine Warnung": In diesem Prozeß geht es um Deutschland . Möge niemand den Preis übersehen. Möge jeder darauf vor­bereitet sein, daß in diesem Prozeß nichts, ausnahmslos nichts unmöglich ist.

Wie alles andre versagt der deutschen Wirklichkeit gegenüber auch die Fantasie. Was gestern keinem Aben­teuerromancier eingefallen wäre, verschwindet heute als Fünfzeilennachricht des Wolffbüro in den Zeitungen. Wer ist nach solchem Training eines halben Jahres noch primi­tiv genug, Edgar Wallace zu lesen? Wie fade, behäbig und einfallslos wirkt auch der blutsüchtigste Kriminal­schmöker alter Fasson nach einem halben Jahr deutscher Tatsachenberichte! Aber wir sind noch immer immum gegen die Attacken Attacken der genialen Infamie. Der Propagandaminister hat der Umwelt gegenüber einen ge­waltigen Vorsprung: Er steht mit vollem Bewußtsein außerhalb ihres Koordinatensystems von Sittlichkeit und Logik. Sie hingegen hats nicht aufgegeben, mit den alten Kategorien zu messen.

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Was ist ein Geständnis? Europa meint, ein Geständnis sei, da der Beschuldigte sei, da der Beschuldigte aus Reue oder unter dem Druck der Jndizien Druck der Jndizien ein Delikt zugegeben habe, der wertvollste Beweis seiner Schuld. Das ist aber eben bloß der liberalistische" Begriff von Geständnis. Und Deutsch­ land hat mit all dem aufgeräumt. Es hat sich der alt­germanischen Einrichtung der Geständnisprobe erinnert, die dem Angeklagten das Leugnen erst dann im Prozeß anrechnete, wenn er auch beim Bersten der Wirbelsäule nicht gestand. Nur, daß eben heute nicht mehr die Wirhel­säule gebrochen wird( was schlimmstenfalls bei Ueber­griffen richtigen Griffen untergeordneter Organe passiert). Ueberhaupt haben die Buschneger inzwischen Delheizung, Wasserspülung und allen andern Komfort der Wissenschaft dazubekommen; das erschwert den primitiven Zivilisierten die Erkenntnis der wahren Lage. Vor der Aussichtslosigkeit, etwa einem braven englischen Tuberkuloseforscher begreiflich machen zu wollen, daß deutsche Kollegen die Tuberkulose als naturnahes Mittel rassischer Zuchtwahl betrachten sie tun das!, möchte man verzweifeln. Das kultivierte Europa wird an seiner dürftigen Fantasie wohl zugrundegehen.

Da gibt es zum Beispiel eine ganze Fachliteratur über die seelische Wirkung von Rauschgiften. Es wäre nötig, darin vor dem Reichstagsbrandprozeß zu blättern.

Wir wissen noch nicht, ob Torgler , Dimitroff , Popoff, Taneff physisch gemartert worden sind; zwar hat Göring in einer Rede vor fünf Monaten höhnisch von Gängen gesprochen, in denen auf Torglers Schatten geschossen wurde, aber vielleicht war das eine Greuelnachricht.

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