DAS BUNTE BLATT

NUMMER 77 1. JAHRGANG TAGLICHE UNTERHALTUNGS- BEILAGE SONNTAG, DEN 17. SEPTEMBER 1933

Warum?

Von Arpad febes

An einem Frühlingstag des Jahres 1917 suchte mich ein kleines, fahlköpfiges, gebrochenes Männlein auf. Es war der Vater meines besten Freundes und einstigen Schul­tameraden.

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halten hat. Ich weiß, der Arme wollte uns noch sehen, be­vor er... Eilen wir nun, bitte, er erwartet Sie." ,, Was spricht er?" fragte ich unterwegs. Er kann leider nicht mehr reden, sein Kehlkopf ist kaputt.

,, Was hören Sie von Hans?" fragte ich besorgt. Ich Er schreibt alles auf ein Blatt Papier  . So sprach er uns habe von ihm schon lange teine Nachricht bekommen." Sie werden auch keine mehr bekommen!"

Ich wurde ganz betroffen.

" Was ist denn geschehen? Ist er verwundet? In Ge­fangenschaft geraten?"

,, Nein," sagte der Alte mit einem tiefen Seufzer, weder das eine noch das andere."

Sondern?"

Er ist zu Hause."

Hans ist zu Hause?"

Ja, im Spital."

Was fehlt ihm denn?" Tuberkulose!"

Ich schwieg bestürzt. Ich sah den langen, hageren Jungen mit der großen Hornbrille gleichsam vor mir so wie damals, als er in voller Ausrüstung ins Feld abmarschierte: der Rucksack, die Reserveschuhe, die Decke, das Zeltblatt, der Brotsack, das Gewehr, die scharfen Patronen, der Spaten  - all das zusammen offiziell 42 Kilogramm, in Wirklichkeit aber mehr als 50 Kilogramm. Nicht piel weniger, als der gute Junge selbst wog.

Was meinen die Aerzte?" fragte ich.

Der Alte winkte entsagend mit der Hand. Ich entnahm es seiner Miene, daß sein Sohn unrettbar verloren sei.

Wortlos starrte ich auf den gebrochenen Mann vor mir. Er war als fleißiger und bescheidener Beamter einer großen Versicherungsanstalt jahrelang tätig gewesen. Um sein spär­liches Einkommen zu erhöhen, ging er nach den Amts­stunden zu Kaufleuten und Handwerkern agentieren, um seinem Unternehmen eine Versicherung für Schaufenster und dergleichen aufzubringen. Daheim warteten in der kleinen Wohnung seine Frau, seine drei Töchter und sein einziger Sohn jahraus, jahrein schon am fünfzehnten jeden Monats hart auf den Monatsersten. Der Junge war der Augen­stern der ganzen Familie. Durch ihn erhofften sie sich eine Besserung ihres fümmerlichen Daseins, die Versorgung der Mädchen und der Eltern. Mit dem vom Mund abgesparten Gelde ließ man ihn studieren. Und nun waren alle Zukunfts­pläne dahin. Raum hatte der Junge die Reifeprüfung ab­gelegt und eine Anstellung in einem Bankhaus angenommen, wodurch die Familie ein wenig aufatmete, tam eine Muste­rung nach der andern, und bei einer der letzten wurde auch der kurzsichtige, magere Jüngling assentiert, ohne Rücksicht darauf, daß er von einer Brustfellentzündung noch kaum genesen war. Und nun lag er todkrank im Kriegsspital.

Ich habe sie persönlich aufgesucht, weil ich Sie bitten will, nicht zu erschrecken, wenn Sie Hans wiedersehen werden. Wir wollen nicht, daß er erfahre, wie schlecht es um ihn bestellt ist."

All and sp

Ist es denn so arg?" Leider, leider wird er sterben, mein armer, guter Junge," sprach der alte Mann mit versagender Stimme, und die bisher krampfhaft unterdrückten Tränen rollten über die tiefen Furchen seines Gesichtes.

Weinen Sie nicht, vielleicht gibt es doch noch eine Hilfe." " Oh, wenn Sie erst seinen stelettartigen Körper sehen werden! Dabei darf man es ihn aber nicht merken lassen. Die Aerzte staunen, daß er es überhaupt solange ausge­

Sontamara

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ROMAN VON IGNAZIO SILONE  Die meisten von uns gingen damals als Taglöhner in den Fucino. Wir mußten um 3 Uhr aufstehen und vor Sonnenaufgang auf dem Marktplatz der Kreisstadt sein, um dort ein Arbeitsangebot abzuwarten. Früher mußten nur die Allerärmsten von uns auf dem Marktplatz stehen, aber jetzt waren für alle schlechte Zeiten gekommen... Das kleine Stückchen Land, das jeder Cafone besaß, war mit Hypotheken belastet, und brachte kaum genug ein, um die Zinsen zu zahlen. Auf dem Markt war von Grundbesitzern und großen Pächtern das Ueberangebot an Gafoni benutzt worden, um die Löhne zu drücken. Wie tief sie auch sein mochten, immer gab es noch Leute, die sie aus Hunger unter­boten. Viele kamen dahin und lieferten sich ohne vorherige Festsetzung des Lohnes aus, zu jedem Elend bereit.

Vom Marktplatz des Fucino mußte man, je nach der Lage der Grundstücke, noch zwischen zehn und fünfzehn Kilo­meter laufen; diese reihten sich an die vier Kilometer, die man schon hinter sich hatte. Die gleiche Strapaze wiederholte fich jeden Abend beim Heimgang.

Auf dem Hin- und Herweg wurde um die Wasserfrage von Tag zu Tag heftiger gestritten.

Es kam zu schweren Verlegungen. Michele Zompa büßte durch einen Stoß mit der Rebschere fast die Hälfte seines Hinterteils ein. Dem Baldovino Sciarappa wurde, wie einer Wassermelone, der Kopf gespalten; Antonio Ranocchia von seinem Schwager der Arm gebrochen. Zwischen Pontius Pilatus   und mir drohten die Dinge noch viel schlechter zu gehen, denn keiner von uns war bereit, nachzugeben, und jeder von uns ging, von seinen Söhnen begleitet, möglichst gut bewaffnet, zur Arbeit. Wenn wir uns begegneten, grüßten wir uns nicht mehr, aber wir musterten uns so, als wollten wir uns beteuern, daß ein Zusammenstoß unver­meidlich sei.

lezzthin Mut zu, er schrieb, es werde alles wieder gut werden.

Und wir müssen stark bleiben und unseren einzigen Sohn sterben sehen. Wir dürfen nicht einmal daheim jammern und wehklagen, denn wir müssen vor unserer Mutter start sein. Die Gute sist stundenlang unbeweglich da und starrt wie geistesabwesend vor sich hin. Und ich soll mich beherrschen, der ich einen 22jährigen Sohn zu Grabe tragen muß! Auch Sie dürfen um Himmels willen nichts merken lassen, wenn Sie auch bei seinem Anblick zu Tode erschrecken werden."

Dann erinnerte sich der Alte, daß sein Sohn die Spuren der Tränen in seinem Gesicht bemerken könnte. Von diesem Augenblick an kam fein Laut mehr über seine Lippen und er bemühte sich im vorhinein, eine lächelnde Miene aufzusetzen. Tief ergriffen betrachtete ich diesen heldenhaften Mann, der vielleicht morgen schon seinen Sohn und damit auch sein eigenes Leben zu Grabe tragen wird. Aber heute strengt er sich noch zu lächeln an, während er innerlich verblutet. Wir langten beim Spital an. Trotz aller Fassung über­lief mich ein eisiger Schauer, als ich meinen Freund erblickte. Daß du nur wieder daheim bist, liebster Hans," redete ich ihn an und wollte seine schweißklebende, skelettartige Hand ergreifen. Aber er zog sie vor mir zurück. Er will offenbar verhindern, mich anzustecken," zuckte es mir durch den Kopf. Sein Vater blickte mit besorgtem Lächeln auf den Sohn. Hans wollte etwas sagen, aber ein heftiger Husten anfall erschütterte seinen Körper. Der Vater sprang hinzu und bat ihn flehentlich, nichts zu reden. Er drückte ihm Papier und Bleistift in die Hand. Er wird schreiben und Sie werden antworten," sagte er an mich gewendet. Hans warf einige Zeilen aufs Papier.

" Der Vater möge hinausgehen," las ich die mit Stenografie geschriebenen Worte.

,, Gut, Hans, ich werde reden und du wirst mir schriftlich antworten."

Ich bat den Alten, ein wenig spazieren zu gehen.

" Ich freue mich so, dich wieder zu sehen, Hans," begann ich. " So sind wir beide ja doch wieder beisammen. Wir haben beide genug mitgemacht, mußte ich doch sogar mein rechtes Bein verlieren... Auch du wirst bald wieder genesen, wir werden uns zusammensetzen und von den guten alten Zeiten plaudern, von gemeinsamen Erinnerungen, von der Schule, unseren Professoren. Später einmal werden wir vielleicht sogar zu viert ausgehen, jeder mit seiner jungen Frau am Arm." In der Hand des Kranken bewegte sich das Papier. " Was hast du da geschrieben?" fragte ich und betrachtete das Blatt üge nicht!" Diese zwei Worte standen auf dem Papier. Ich starrte ihn erschauernd an. Dieser Junge weiß alles!" Im nächsten Augenblick bemühte ich mich, Hans weiter zu täuschen.

Warum sollte ich lügen?" fragte ich. Müde warf seine Hand aufs Papier: Ich sterbe."

Für einen Augenblick wurde es still. Dann brachte ich doch die Worte hervor:

Schreckgespenst an. Das soll ich sein. Jeder verheimlicht es. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern, die Aerzte. Ich lasse sie in dem Glauben, als wüßte ich nicht alles. Aber ich leide schrecklich. Du jedoch sei anders. Du bist mein alter Freund. Sprich lieber gar nichts. Ich weiß, du hast es nicht leicht. Ich selbst will reden. Noch ein einziges Mal. In der Lade findest du ein Schriftstück. Ich habe es bei Nacht geschrieben... Meine Angehörigen wollte ich noch sehen, und mit dir sprechen. Nimm es hervor!"

Ich zog wortlos die Lade heraus und nahm den mit steno­grafischen Zeichen beschriebenen Bogen zur Hand.

,, Stede ihn ein," schrieb Hans. Siehst du mich?" Ich nickte bejahend, dabei schnürte es mir die Kehle zu. Dann mußt du alles sehen." Er schloß die Augen und seine Finger ließen erschöpft das dünne Blatt los.

Die Mutter trat sorgenvoll in den Saal. Ich erhob mich. " Jetzt gehe ich aber, Hans. Ich habe dich sehr ermüdet. Morgen komme ich zeitlich wieder zu dir..."

Tieftraurig fam ich nach Hause. Ich nahm die verworrenen Zeilen meines Freundes zu Hand und las:

Die Bukowina hat mich umgebracht. Ich habe keinen einzigen Feind gesehen, keine einzige Patrone abgeschossen. Ich habe nicht gemordet. Nur dieses Bewußtsein allein verleiht mir jetzt, wo ich von dieser Welt scheiden muß, ein wenig Beruhigung. Denn ich muß gehen, ehe ich noch für meine Angehörigen auch nur das geringste getan habe, tun konnte. Warum?!

Du weißt: ich war immer schwach und kränklich, und dennoch wurde ich assentiert. Man brauchte Menschenmaterial, Kanonenfutter.

Im Norden drangen die Unsrigen vor, wir marschierten vorwärts. Berge, nichts als Berge. Die Rüstung zog einen hinab. Die Unsrigen gingen zurück. Wir marschierten zurüd. Berge, wieder Berge. Ich hustete. Die Deutschen   unter­nahmen einen Gegenangriff: Berge, Täler, Berge. Ich hustete da bereits Blut. Ach was," sagte man am Hilfsplay, das ist ganz unbedeutend." Sie gingen noch oft zurück, dann wieder vor, ich aber fiel zusammen. Weißt du, was mich umgebracht hat? Die Berge. Die Rüstung. Das Ge­wehr. Die scharfen Patronen, die ich hin und her schleppen mußte. Durch die ganze Bukowina. Was ging mich die Bukowina an? Was ging meine Eltern die Bukowina an? Für wen haben sie mich großgezogen? Für sich, als einen Helfer in ihrem schweren Daseinstampf, oder für die Bukowina?

Jrgend ein Gemeinsamskeitsgefühl müffen aber die Buko­wina und ich doch gehabt haben. Ich habe viel darüber nach­gedacht, und selbst hier, unmittelbar an der Schwelle des Todes, kann ich darauf keine annehmbare Antwort finden. Ich möchte es gerne fragen, aber ich vermag nicht mehr zu sprechen und ich habe niemanden, den ich befragen könnte. Du aber schreibe einmal darüber und frage in meinem Namen im Namen all der Millionen Russen, Ungarn  , Franzosen  , Deutschen  , Türken, Beamten und Bauern, Arbeiter und Gewerbetreibenden kann ich nicht sprechen- frage also bloß in meinem Namen, warum ich mit 22 Jahren schon sterben muß...?"

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Warum?!

( Einzig autorisierte Ueberseßung aus dem Ungarischen von Maurus Mezei.).

Aber, sprich doch keinen Unsinn!" 393 loobut

Zitternd fuhr die Hand übers Papier:

Lüge nicht auch du. Du tue es nicht! Sieh' dir dieses

wanderte, überholte ich Pontius Pilatus   in dem Augen­blick, als er den Straßenwärtern sagte:

Also, ihr habt verstanden, die Hauptsache ist, daß ihr mir für meine Bohnen Wasser laßt, die andern mögen trepieren." " Zuerst trepierst du," schrie ich und warf mich auf ihn, in jeder Hand ein Messer.

Berardo Viola   und die Schuhwache der Carabinieri sprangen zu, der Mord wurde verhindert.

Daraufhin begleitete mich Berardo noch einige Tage, um die Wiederholung eines Zusammenstoßes mit Pontius Pi­ latus   zu verhindern.

Er konnte in der Wasserfrage aus dem einfachen Grunde ruhig den Friedensengel spielen, weil er fein Land besaß, weder bewässertes noch vertrocknetes und daher auch keine den anderen entgegengesettes Interesse. Das einzige Stück Land, das sein Vater ihm hinterlassen, hatte er vor zwei Jahren verkauft in der Absicht, nach Amerika   auszuwandern; dann hatte er die Ueberfahrtserlaubnis nicht bekommen und war in Fontamara geblieben, wie ein Hund, der keine Kette mehr am Halse hat, die errungene Freiheit aber trotzdem nicht genießen kann und ausgehungert nun ständig das verlorene Gut umkreist. Er war im Grunde alles andere als ein Friedensengel.

Enkel des berühmten Briganten Viola, des letzten Bri ganten unserer Gegend, der 1867 von den Piemontesen hin­gerichtet worden war, hatte Berardo vom Großvater Seele und Körper geerbt: eine fast gigantische Erscheinung, knorrig wie der Stamm einer Eiche, der Kopf hart und quadratisch wie ein Amboß, die riesigen Augenhöhlen eines Besessenen, frech, kühn, impulsiv, schlagfertig, ohne Gottesfurcht, dem Wein ergeben, verschwenderisch, gegen seine Freunde frei­giebig, aber eigensinnig und gewalttätig. Infolge seiner förperlichen Ueberlegenheit übte er auf etliche junge Leute von Fontamara einen Einfluß aus, dessen einzige Wirkung oft Gewalttätigkeit und Zerstörung war, nie aber zu praf­tischem Nüßen führte.

So wurden zum Beispiel, nachdem Berardo ein endgültiges Nein aus Amerika   erhalten hatte, dem Don Carlo Magna die Rebstöcke eines ganzen Weinberges abgesägt und als Antwort auf den berühmten Scherz mit dem Esel und dem

Eines Morgens, als ich mit meinem Sohn in den Fucino Seelsorger die Wasserleitungen der Kreisstadt an ver.

Das größte Maul und das kleinste Hirn Wohnen meist unter derselben Stirn.

S

Arno Holz  .

schiedenen Stellen zerstört; ein anderes Mal wurden die zementenen Kilometersteine der Hauptstraße im Umkreis von 15 Kilometer zertrümmert; was die Wegweiser für die Automobilisten betrifft, so blieben sie für gewöhnlich nie länger als zwei bis drei Tage an ihrem Plaze stehen.

Als in Fontamara zum erstenmal das elektrische Licht aus­blieb, sagte Berardo kein Wort, aber zwei Tage danach waren auf der Fahrstraße zwischen der Kreisstadt und den benach­barten Gemeinden sämtliche Lampen zerbrochen. don

Mit den Städtern diskutiert man nicht", das war Berardo Violas ganze Theorie.

Und er erklärte:

Das Gesetz ist von Städtern gemacht und wird von Richtern angewandt, die alle Städter sind; es wird aus­gelegt von Advokaten, die alle Städter sind. Wie kann da ein Bauer recht bekommen?...."

Wenn ihm jemand einwandte:

Wenn aber die Arbeitgeber den Lohn der Taglöhner heruntersetzen, tun diese dann unrecht, wenn sie verhandeln?" Antwortete er prompt:

Sie verlieren nur Zeit. Die Taglöhner, die sich mit den Herren in Verhandlungen einlassen, verlieren nur Zeit. Der Lohn wird trotzdem niedriger. Ein Arbeitgeber läßt fich niemals überzeugen. Ein Arbeitgeber handelt nach seinen Interessen. Er drückt den Lohn nur dann nicht weiter, wenn er merkt, daß dies gegen seine Interessen ist... Wie geht das zu? Das ist ganz einfach. Für das Jäten im Kornfeld wurde der Lohn der Buben von 7 Lire auf 5 heruntergesetzt. Meinem Rat folgend haben die Buben nicht protestiert, aber statt das Unkraut auszureißen, haben sie es nur mit Erde zugeworfen. Nach dem Frühjahrsregen haben die Herren entdeckt, daß das Hundsgras höher stand als das Korn... Das wenige, was die Herren durch die Herabsetzung des Lohnes verdient zu haben glauben, werden sie in einigen Wochen zehnfach an der Ernte verlieren... Der Lohn der Schnitter fällt? Sinnlos, zu protestieren. Sinnlos, zu dis­futieren. Es gibt nicht eine Art, das Korn zu schneiden, sondern zehn. Jede entspricht einem bestimmten Gehalt. Ist der Lohn gut? Ist die Ernte gut. Ist der Lohn schlecht? Wird die Ernte noch schlechter sein.

Fortfegung folgt).