Linzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands Nummer 78 1. Jahrgang Saarbrücken , Dienstag, 19. Sept. 1933 Chefredakteur: M. Braun Wie heißt das schlimmste Tier mit Namen?" So fragt ein König einen weisen Mann. Der Weise sprach:Von wilden heißt's Tyrann und Schmeichler von den zahmen." Lessing . Sensation in London Verbindung van der Lübbes mit Rbhm und Dr. Bell festgestellt «Die Llebesllste"- Dr. Sacks Doppelrolle Im Londoner Reichstagsprozeß, über den wir heute «n zwei Stellen mit besonderer Ausführlichkeit berichten, wurde am Sonnabend die Verbindung van der Lübbes mit dem nächsten Gehilfen des deutschen Reichskanzlers. Stabschef R ö h m nachgewiesen. Van der Lübbe war ferner ein Vertrauter des Dr. Bell, des nationalsozia­listischen Abenteurers, der vor einigen Monaten als einer der Hauptmitwisser in Oesterreich hart an der bayrischen Grenze erschossen wurde. Daß Rechtsanwalt Dr. Sack, den sich Torgler jetzt als Verteidigerfrei gewählt" hat. seinerzeit der Verteidiger des Dr. Bell gewesen ist, rundet das Bild ab. In London wird eines der größten Ver- brechen der Weltgeschichte geklärt, in Leipzig wird das- selbe Verbrechen vernebelt und vertuscht werden. Unser Deutschland geht in Schande. London , 16. Sept.(Jnpreß.) Die heutige Vormittags- sitzung im Londoner Gegenprozeß brachte einen der großen Höhepunkte der Verhandlung: einen neuen sensationellen Beweis dafür, daß van der Lübbe nicht nur mit dem Faschis- mus sympathisiert hat, sondern das direkte Werkzeug der nationalsozialistischen Rcichstagsbrandstifter gewesen ist. Van der Lübbe war auf seinen Reisen nach Deutschland durch homosexuelle und andere Beziehungen mit den höchsten Stellen der SA. in Verbindung gekommen. Es trat ein unbekannter Zeuge aus, dessen Namen den Mitgliedern der Juristischen Kommission genau bekannt ist, der aber mit Rücksicht auf seine in Deutschland lebenden Angehörigen seinen Namen nicht öffentlich nennen kann. Dieser Zeuge hat sich in den Jahren 1830 bis 1832 etwa fünfzehnmal mit Dr. Bell getroffen. Der Zeuge lernte Bell im Tscherwonzenprozeß kennen, wo Bell als ein Werkzeug der Fälscher angeklagt war. Der Aben­teurer Bell wurde später außenpolitscher Mitarbeiter des Stabschefs Röhm. In dieser Eigenschaft traf ihn der Zeuge später mehrfach wieder und bekam dabei im Verlaus einer Unterredung die Liebesliste des Stabschefs Röhm zu Gesicht, aus der sich auch der als holländischer Name ausfallende Name van der Lübbes befand. Es gab eine große dramatische Szene in dieser Vormit- tagssitzung, als der berühmte französische Anwalt Moro Giafferi den Zeugen fragte, ob er mit seinem Ehrenwort für seine Erklärung einstehe. Darauf antwortete der Zeuge, daß er, obwohl er wisse, baß seine Aussage sein eigenes Leben und das Leben seiner Ange- hörigen in Deutschland bedrohe selbst für den Fall einer Identifizierung seiner Person, hier austrete und die Wahrheit sage. Er sage nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Wahrheit. Eine zweite Sensation gab es, als der Zeuge von dem amerikanischen Anwalt Hays gefragt wurde, wer im Tscher- wonzenprozeß der Verteidiger Bells gewesen sei, wer Bell an der Preisgabe seiner Auftraggeber in den hohen staat- lichen Stellen Deutschlands zu hindern versuchte. Der Zeuge verweigert zuerst die Nennung des Namens. Hays sagte dem Zeugen: War es nicht Dr. Sack? Jetzt bejahte der Zeuge. Hays fragte weiter: Ist dieser Dr. Sack, der damals das Interesse der staatlichen Stellen wahrnahm, identisch mit dem heutigen Verteidiger Torglers? Der Zeuge bejaht wieder, was bei den Journalisten und im gesamten Zuhörerraum die größte Bewegung hervor« rief. Aus allen seinen Erfahrungen schloß der Zeuge, der Bell als einen politischen Abenteurer von Rang charakterisierte, daß Bell nur wahrheitsgemäße Mitteilungen gemacht hat. Nach etwa zehn Zusammenkünften während des Tscher- wonzenprozesses hatte der Zeuge zwei Jahre lang Bell nicht gesehen. Im Januar 1832 erhielt er an eine vorher mit Bell vereinbarte Adresse ein Telegramm, in dem dieser um eine Zusammenkunst bat, die auch stattfand. Bell stellte sich jetzt als außenpolitischer Mitarbeiter Röhms vor und machte dem Zeugen Mitteilung über einen Mordanschlag, der von der Führung der Hitlerpartei gegen Röhm und ihn, vorbereitet sei. Bell bat den Zeugen um Material über die Konkurrenz- gründe in der nationalsozialistischen Führung, vor allem über den Fememörder Oberleutnant Schulz, der seinerzeit Kommandeur der schwarzen Reichswehr war und nach Bells Mitteilung die Aktion gegen Röhm organisierte. In diesem Zusammenhang fragte der Zeuge den Bell, der sich über die Undankbarkeit seiner früheren Austraggeber beklagte, ob er dasselbe nicht seitens Röhm befürchtete. Bell antwortete:Diesmal habe ich mich ge- sichert" und zog ein gelbes Blatt Papier aus der Tasche mit den Worten:Sehen Sie hier: das ist RöhmS L i e b e S l i st e." Der Zeuge fährt fort: Es war ein großes gelbes Blatt Papier , auf dem untereinander eine Reihe von Vornamen und zwei ausgeschriebene Namen standen. Beim Vornamen Ernst sagte mir Bell lachend, das sei kein Vorname, son- dern Graf Helldorfs Adjutant. Einer der aus- geschriebenen Namen war der eines deutschen Adligen, der zweite einM a r i n u s v a n d e r", von dessen Zunamen ich nur die Buchstaben... ubbe" deutlich lesen konnte, während der Anfangsbuchstabe für mich unleserlich war. Hinter dem Namen war noch das Wort Holland " eingefügt. Ich erinnere mich darum so deutlich daran, weil es ein ungewöhnlicher Name war und weil ich es wegen des Vornamens zuerst für ein Pseubo- nym hielt. Auf Grund der sensationellen Aussagen des Zeugen, die eine ungeheure Bewegung auslösten, folgt ein eingehendes Kreuzverhör, das Moro Giafferi mit den Worten beginnt: Ihre Aussage ist von äußerster Wichtigkeit, und wir müssen Sie darum aus Ihre Ehre und Gewissen fragen, ob Sie für diese Aussage mit Ihrem Ehrenwort einstehen. Zeuge: Ich kenne genau die Gefahr, und weiß, daß meine Aussage mein eigenes Leben und das Leben meiner Ange- hörigen bedroht, aber ich trete selbst für den Fall der Identifizierung meiner Person hier auf und sage die Wahrheit. Ich sage nicht mehr» aber auch nicht weniger als die Wahrheit. Moro Giafferi: Ist Helldorf, als dessen Adjutant Sie Ernst", der auf Röhms Liebesliste stand, bezeichnet haben, ibentisch mit dem Grafen Helldorf, der in der Oberfohren- Denkschrift als einer der Anstifter des Reichstagsbrandes genannt wird? Frau Bakker Nort< Wie kam es, baß sich Bell an Sie wandte und Vertrauen zu Ihnen hatte? Zeuge: Da im Tscherwonzenprozcß der Anwalt Bells geraten hatte, die Namen der Hintermänner nicht zu nennen, Bell aber als Angeklagter alles Interesse hatte, sich zu sichern und sich als Werkzeug hinzustellen, war es für ihn nur zweckmäßig, die Namen dieser Hintermänner auf irgend eine Weise in die Oeffentlichkeit zu lancieren. H u i b t: Waren Sie der einzige Journalist, der mit Bell zusammenkam? Zeuge: In Berlin während des Tscherwonzenfälscher- Prozesses: ja,' während der Fememord-Affäre wandte sich Bell meines Wissens nach auch an denVorwärts", und zwei Wochen, nachdem er mir die Feme -Affäre entdeckt hatte, erschienen alle seine Mitteilungen in der sozialdemo- kratischenM ü n ch e n e r P o st". Sie wurden später bewiesen und erhärtet in Prozessen, die zwar nicht gegen die Urheber, aber gegen die Werkzeuge der Feme angestrengt wurden und die mit Verurteilung zu Gefängnisstrafen endeten. Am läge vor dem Brand Nachdem dieser Zeuge entlassen war, wurde der frühere Parlamentsberichterstatter und politischer Reporter der Vossischen Zeitung" P h i l i p p s b o r n als Zeuge zum Komplex Torgler vernommen. Der Zeuge kannte Abgeordnete aller Parteien und kannte auch Torgler gut, mit dem er vielfach Unterredungen hatte. Die Hauptunterhaltung hatte er am Tage vor dem Brand im Cafe Friediger in Berlin . Philippsborn schilderte diese wichtige Unterhaltung folgendermaßen: Ich hatte ein wichtiges Dokument erhalten über die Pläne der Nazis in der Wahlnacht. Ich habe Reichsbanner- führer darüber informiert und habe Torgler auch«m eine Unterredung gebeten. Sie dauerte von 4S.45 Uhr. Ich legte Torgler das Doku- ment vor. Torgler erwiderte, nach unseren Informationen ist das alles sehr wahrscheinlich. Wir unterhielten uns bann über die Wahlaussichten der Kommunisten. Ich sagte ihm, in Journalistenkreisen flüstere man von einem Verbot der KPD. noch vor den Wahlen. Torgler erwiderte: Das ist uns bekannt, aber mir werden der Negierung nicht den Gefallen tun, die Dummheit zu begehen, die sie von uns gehofft." Ich sagte:In Journalistenkreisen spricht man von geplanten kommunistischen Teilaktionen." Torgler wies auf seine Rede im Preußischen Staatsrat hin. Diese Rede war allgemein als sehr ernst und gemäßigt, geradezu al? staatsmännisch bezeichnet worden. An diese Rede knüpfte Torgler an und sagte, es habe sich seitdem an seiner Hal- tung nichts geändert. Torgler erklärte dann noch wieder- holt:Es wird keinerlei Einzelaktion von feiten der Kom- munisten geben." Ich hatte den Eindruck, daß es Torgler unbedingt ernst war. Ich habe darüber Aufzeichnungen ge- macht, die hoffentlich bald in Paris sein werben. Frage: Halten Sie es für denkbar, daß Torgler , wenn er den Reichstag in Brand stecken wollte, sich eines Aus- länders bedient hätte, ohne sich vorher bei der Kommunist!- sehen Partei des betreffenden Landes zu erkundigen? Philippsborn: Ich halte das für völlig aus- geschlossen»-*""(Siehe auch«eile 3.) Ernst Torgler D. F. Im Jahre 1907 trat in die sozialistische Iugend- bewegung Berlins ein hochaufgeschossener 14jähriger Kaufmannslehrling ein: Ernst Torgler . DieseFreie Jugendbewegung", wie sie sich nannte, war damals etwas Funkelnagelneues. Viel mehr Haß als Gunst begleitete ihre jungen Tage. Eigentlich war alles gegen sie: die Parteiführung und die Gewerkschaftsführung, die Polizei und die Gerichte, die Kirche und die Schule, die Meister und die Gesellen, die Kapitalisten und die Arbeiter. Man versuchte die Bewegung auszublasen und auszurotten, tot- zureden und totzuschweigen, zu schikanieren und zu ironi- sieren, zu ängstigen und zu strafen, sie zu verbieten und sie aufzulösen. Sogar das Reichsvereinsgesetz schlang einen neuen Paragrafen um diese Iugendvereine, um sie zu erwürgen. Die Burschen und Mädels aber, wanderten und sangen, lachten und tanzten und kämpften gegen Polizisten und Staatsanwälte mit einer listigen Zähig- keit, die viele von ihnen nie mehr verließ. Ueber das ganze Reich trugen diese jungen Sozialisten, allein auf sich gestellt, ihre Bewegung. Viele dieser Pioniere sind 20 Jahre später Politiker von Ruf, aber längst in zwei und drei Parteien: Sozialdemokraten und Kommunisten und Zwischengruppen. In Kampf und Ver- folgung gehärtete Brüderschaften zerbrachen. Im Ge- fängnis faß der eine, und der andere war Polizei- Präsident. Von der Ministerbank griff einer den Ge- fährten von einst in der linksten Oppositionsecke an, und wilde Beschimpfungen antworteten ihm. Der Kaufmannslehrling Ernst Torgler war inzwischen Gehilfe geworden und war in einem Berliner Konfektionshause ein gewandter Verkäufer. Während des Krieges war er zu denUnabhängigen" und dann zu den Kommunisten gegangen. Im Jahre 1924 wählten sie ihn in den Reichstag . Die kommunistische Fraktion wurde damals von einem der Ehrgeizigsten aus jener Gruppe Iugendkämpfern von 1907 geführt, von dem Kölner Walter Stoecker . Der, um höflich zu bleiben, charakter- lich sehr biegsame Rheinländer hatte es verstanden, in allen Fährnissen kommunistischer Programmatik und Taktik immer gerade nochlinientreu" zu bleiben oder rechtzeitig zu werden. Es schien nicht so. als ob ihm einer aus der Fraktion, in die immer mehr Neulinge ein- rückten, gefährlich werden könnte. Da kam der 31jährige Abgeordnete Ernst Torgler . Er redete genau so fließend, genau so oberflächlich, genau so freudig und daher allmählich genau so oft wie der Fraktionsfllhrer Stoecker. Bald zeigte sich, daß Torgler ihm überlegen war. Schon rein physisch, was bei dem unerhört aufreibenden Beruf eines parlamentarischen Führers sehr bedeutsam ist. Das immer frische Auftreten, die unverbrauchte Stimme und ihre Kraft bedeuten viel. Torgler war aber auch fleißiger als sein Fraktionsführer oder verstand besser, über seine Zeit zu disponieren. Er hielt nicht nur politische Brandreden, er wurde auch ein sachlicher Mitarbeiter in den Ausschüssen, zumal in dem, der den Reichshaushalt berät und bis zum EndeHaupt- ausschuß" genannt wurde. Ganz zuletzt, als der deutsche Parlamentarismus schon in der Agonie lag, wurde Torgler sogar Vorsitzender dieser wichtigsten Kommission des Deutschen Reichstags. Längst war seine führende Stellung in der kommunisti - schen Fraktion unbestritten. Stoecker fiel aus irgend- welchen Gründen in Ungnade. Er kehrte nicht mehr in den Reichstag zurück und Torgler trompete immer wieder von der Tribüne des Hohen Hauses. Mit jener etwas knabenhaften Freude am rednerischen Spiel, die not- wendig ist, um in einem Parlament zu glänzen. Wer darüber innerlich schon hinaus wuchs, ist mindestens für das Plenum einer Volksvertretung verdorben. Ernst Torgler wäre nie darüber hinaus gewachsen. Er lernte myc technisch, nicht geistig-seelisch dazu. Er wurde ein Parlamentsdebatter mit vielen Einzelkenntnissen ohne Vertiefung und großen Blick auf die Zusammen« hänge, aber er war doch manchmal sehr unbequem, wurde geschätzt und da und dort, wenn auch selten, ein wenig gefürchtet. Manchmal hatte man den Eindruck, als wüßte er es besser als manche Radaukommunisten und gehe nur nicht so richtig aus sich heraus, weil sonst die Linientreue hätte ins Wanken kommen können. War er überhaupt ein richtiger Kommunist? Wahrscheinlich unterschied er sich innerlich von manchenlinken" Sozialdemokraten !, 0 T-^nfalls war er Nurparlamentarier und kein sr. nnn und kein Verschwörer. Seine Geschäf- t T'' 2 ln den vielen Sälen und Zimmern des Reichs«