DAS BUNTE BLATT

NUMMER 81 1. JAHRGANG TAGLICHE UNTERHALTUNGS- BEILAGE FREITAG, DEN 22. SEPTEMBER 1933 =

Die Schulfreundinnen

Es war an einem Vormittag in der Straßenbahn, neben mir saß eine noch junge Frau mit dem versorgten, blassen Gesicht der Proletarierin. Unter ihrem Siz stand die Ein­kaufstasche, ihre Hände lagen auf der abgegriffenen Hand­tasche und ihre Augen blickten so stumpf und müde vor sich hin, wie die eines Menschen, der vom Leben nichts mehr erwartet. Diese Hoffnungslosigkeit übertrug sich auf ihr ganzes Wesen so sehr, daß sie nicht einmal rasch genug auf­stand, um sich den Fensterplatz mir gegenüber zu erobern, und einer schlanken, überaus eleganten Frau den Vortritt Lassen mußte.

Mit einem furzen, feindseligen Blid rächte sie sich an der hübschen Frau, die ihr in allen Fragen des Lebens sieghafter und begünstigter als ihre eigene Person erschien. Dann fiel fie wieder auf ihren alten Platz.

Die andere aber saß anmutig und lächelnd am Fenster und ließ mit sichtlichem Behagen alle Blicke um ihre Erscheinung spielen. Es war keine ganz einfache Sache für die Beobachter, diese Frau richtig einzureihen. Für Halbwelt war sie noch zu hübsch und zu vornehm, für solides, gut fundiertes Bürgertum war ihre Eleganz zu schreiend und der Stunde und der Umgebung wenig angepaßt. Ich müßte mir meinen eigenen Roman um sie dichten, wenn ihn mir nicht schon wenige Minuten später das Leben selber echter und packender als jede Erfindung in die Hände gespielt hätte.

Denn währenddem ich mir noch das gepflegte und doch ein wenig ermüdete Gesicht meines Gegenüber besehe, geht in ihm eine Veränderung vor sich. Das steife Lächeln wird weicher und persönlicher, und die blauen Augen bleiben an den Zügen meiner Nachbarin hängen und lösen endlich eine Leise Frage aus:

, Sie können sich wohl nicht mehr an mich erinnern

Die Frau neben mir blickt staunend, mißtrauisch und ab­wehrend nach der Fremden. Ihr Leben bringt sie nicht oft mit ähnlichen Erscheinungen in Berührung.

Jessas, die Else... Nein, hast du dich verändert..." " Gelt, fa! Ja, es geht mir gut, ich tana' jetzt drinnen in der Stadt," und nennt den Namen eines erstklassigen Varietés.

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Als Girl," und unsicher über die Richtigkeit ihrer Aus­sprache fügt sie noch hinzu: Mit anderen in einer Tanz­truppe, so wie du angefangen hast?"

Na, das ist schon lange her, ich tanze längst schon Solo, herrliche Kostüme hab' ich, und das ist die Hauptsache."

So? Und tanzen braucht man gar nicht können, nur halb nackert muß man sein..."

Aber geh, was du schon wieder glaubst! Freilich hab' ich tanzen gelernt, aber nicht so wie die Zatler Misi, du weißt doch noch aus der Schul', die so viel Jahre auf die Akademie gegangen ist und dann erst kein Engagement bekommen hat. Ich hab' gleich ins Verdienen müssen und war viel herum, in Preßburg und in Budapest und dann in Rumänien , bis nach Konstantinopel bin ich gekommen..."

" Ja, davon habe ich einmal gehört, denn da hab' ich deine Mutter auf der Gasse begegnet und angeweint hat sie mich, daß du krank bist und so weit in einer fremden Stadt im Spital liegen mußt!"

Das waren auch keine schönen Zeiten für mich und doch bin ich froh, daß ich damals krank geworden bin, Typhus habe ich gehabt und das Konsulat hat mich zurückgeschickt, well ich noch keine sechzehn Jahre alt war. Wer weiß, ob ich sonst jemals noch zurückgekommen wär'. Aber der Typhus war mein Glück, und wie ich nach Wien gekommen bin, habe ich mir meine Engagements schon selber gesucht und den Vater nicht mehr dazu gebraucht der war damals auch schon tot..."

Fontamara

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ROMAN VON IGNAZIO SILONE Wovon spricht man hier dann eigentlich, wenn Cavaliere Pelino wie rasend in die Hauptstadt zurückommt?," fragte Innocenzo.

,, Man diskutiert ein wenig über alles," fing die Sorca­nera wieder an. Man diskutiert über Preise, Löhne, Steuern, Gesetze; heute diskutierte man über Ausweise, Krieg und Auswanderung."

Na also, gerade darüber sollt ihr nach der Verordnung des Podesta in Zukunft nicht mehr diskutieren," erklärte Innocenzo. Dies ist feine Spezialverordnung gegen euch, sie ist für ganz Italien erlassen worden... Man soll in öffentlichen Lokalen nicht mehr über Steuern, Gehälter, Preise und Geseze diskutieren..."

Also soll man nicht mehr denken!" schloß Berardo. " Richtig! Berardo hat es ganz genau verstanden!" rief In­nocenzo aus. Das ist der Sinn dieser Bestimmung. Man soll endlich mit den Diskussionen Schluß machen."

Innocenzos Befriedigung darüber, daß Berardo ihm recht gab, war so groß, daß er dessen Vorschlag annahm, die Ver­ordnung, die er selbst in unserer Gegenwart auf ein großes Stück weißes Papier aufschrieb, noch flarer zu gestalten, durch den Wortlaut:

,, Per ordine del podestà è proibito ragionare."

Auf Befehl des Podesta ist. Diskutieren verboten." Berardo schlug vor, das Plakat über dem Eingang zum Wirtshaus anzuschlagen. Seine Zuvorkommenheit ver­blüffte uns. Als wäre es damit noch nicht genug, fügte er hinzu:

Jeht wehe dem, der an das Plakat rührt.

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Der geistesgegenwärtige

Von Vera Stenzel Jannings

Das Mißtrauen an meiner Seite weicht allmählich einem kleinen Mitleid. Krant, fremd und fern der Heimat, welche Frau könnte sich solchen Werbemitteln perschließen? Sie hört jetzt mit anderen Ohren zu und die Fragen, die sie an die flink und halblaut erzählende Schulfreundin stellt, flingen nicht mehr so moralisierend und zurechtweisend. Diese Schulfreundin von ehemals aber nüßt ihren Vorteil und erzählt mit dem Tempo und der Buntheit eines geschickten Regisseurs. Kleine Zeitabschnitte des Lebens werden diskret gestrichen, andere wiederum mit doppelter Liebe ausgemalt. Film, Theater und Girltum überkreuzen sich und mit den Namen der Städte, die auf ein wüstes Auf und Ab des Glückes und der Verbindungen schließen lassen, könnte man in Plakatform die Wand eines geräumigen Reisebüros be­fleiden. Wie weit sie bei dieser Erzählung mit den eigenen Erlebnissen auslangt, wie weit sie solche der Kolleginnen vom Fach einschmuggelte, war schwer zu erraten. Die Fahrt zur Probe, ein paar rasch ausgetramte Fotografien und die vorschriftsmäßige Uebereinstimmung von Schuh, Tasche und Handschuhstulpe fonnten immerhin als einiger Beweis auf­genommen werden.

Die Frau neben mir aber hielt den Oberkörper vor­geneigt, um fein Wort zu verlieren, Seele und Sinne hielten alle Eingangstore für jene Welt geöffnet, die sie tausendmal verachtet und beschimpft hatte und die sie in diesem Augen­blick so gern gegen ihr eigenes farges Leben eingetauscht hätte. Während einer kleinen Redepause von drüben zog sie tief die Luft ein, als müßte sie sich im Zuhören eine kleine Erholung gönnen:

Und jetzt bist doch wiederum zu Hause bei der Mutter, wo es am schönsten ist?" sagte sie wie zur Rettung ihres eigenen fleinen Alltages.

Aber die Mutter ist doch längst zur Luzie gezogen, zu meiner älteren Schwester, weißt, die ist eine große Dame ge­worden und verdient sehr viel Geld. Mein kleiner Bruder ist auch dort..."

Wird der auch Artist?"

,, Nein, aber jetzt erzähl' einmal von dir, wie es dir geht und was du machst! Hast schon geheiratet?"

Die Frau neben mir setzt sich wiederum zurück, der eben noch halboffene, lauschende Mund wird zu einem harten schmalen Strich:

Du wirst doch noch wissen, wie unsereins lebt! Zuerst die Lehr' und dann die Arbeitslosigkeit und die Vorwürfe von den Alten, daß man ihnen in der Tasche hängt..."

Und die anderen, die noch mit uns in die Schule gegangen find?"

Ein paar sind schon verheiratet und die anderen, denen geht es so wie mir, sie fizzen und warten auf etwas, was nicht kommt!"

Der Wagen ist jetzt ganz nahe der Opernkreuzung, die hübsche Frau mir gegenüber richtet sich zum Aussteigen. ,, Weil ihr aber auch alle so dumm seid und immer nur fizzen wollt und nichts anfangen, ich bin halt hineingestiegen ins Leben und es geht mir gut..."

Da aber ist mit einem Schlag alles Menschliche zerstört, wie es sich zwischen diesen beiden entsponnen hatte. Gehässig und verächtlich funkeln die Augen meiner Nachbarin:

Du, du, sag' so etwas nicht! Es kann nicht jede ein solches Leben führen wie du..."

of ein wenig

Die andere aber war aufgestanden, zuckte bloß ein wenig mit den Schultern, aber ihre Augen lächelten nicht mehr, sondern blickten weit zurück in eine andere Zeit:

Ihr habt leicht reden, ihr habt immer euer Bett gehabt und euer Essen, aber ich... Na, vielleicht sehen wir uns wieder einmal, leb wohl!"

Innocenzo gab ihm die Hand und wollte ihn umarmen. Aber die Erklärung, die Berardo anschloß, dämpfte seine Be­geisterung.

-

Das, was der Podesta heute verordnet, habe ich immer ge­predigt. Immer. Mit den Herren diskutiert man nicht, das ist mein Grundsatz. Alles Unheil der Cafoni kommt vom Dis­futieren. Der Cafone ist ein Esel, der denkt. Daher ist unser Leben hundertmal schlimmer, als das der wirklichen Esel, die nichts überlegen oder wenigstens so tun Der " dumme" Esel trägt 70, 90, 100 Rilo; mehr trägt er nicht. Der" dumme" Esel braucht eine gewisse Menge Stroh. Der " dumme" Esel hat eine begrenzte Geschwindigkeit. Du kannst von ihm nicht das Gleiche erreichen, wie von der Kuh, der Ziege oder dem Pferd. Kein Argument überzeugt ihn. Kein Zureden seht ihn in Gang. Er versteht dich nicht oder er tut so. Der Cafone hingegen diskutiert. Der Cafone kann überzeugt werden. Er kann überredet werden, über die Gren­zen seiner Körperkraft hinaus zu arbeiten. Man kann ihn zum Fasten bringen. Man kann ihn dazu bewegen, sein Le­ben für den Herrn zu lassen. Man kann ihn in den Krieg gehen machen. Man kann ihm weismachen, daß es im Jen­seits eine Hölle gibt. Seht die Folgen von alledem. Schaut um euch und erkennt sie."

Für uns war das, was Berardo sagte, nichts Neues. Aber Innocenzo La Legge war entfeßt.

Ein unvernünftiges Wesen weigert sich zu fasten. Es sagt: wenn ich fresse, arbeite ich, wenn ich nicht fresse, arbeite ich nicht," fuhr Berardo fort. Vielmehr, es sagt das nicht einmal, denn dann würde es ja diskutieren, aber aus In stinkt macht es das so. Stellt euch einmal vor, daß die sechs= tausend Cafoni, die den Fucino bebauen, statt vernünftiger Wesen, das heißt zahm, belehrbar, mit Respekt vor den Cara­binieri, dem Priester und dem Richter, wirkliche, jeder Ver­nunft bare Lasttiere wären... Prinz Torlonia könnte betteln gehen!... Du bist hierher gekommen, teurer Innocenzo, und bald wirst du auf der dunklen Straße wieder

Als Jannings noch Anfänger auf der Bühne war, hatte er in einem Stück einen Brief zu lesen, der ihm vom Gerichts­vollzieher überreicht wurde. Um den langen Brief nicht auss wendig lernen zu müssen, hatte er es so eingerichtet, daß er sich den Text von dem Gerichtsvollzieher überreichen ließ. Der Darsteller des Gerichtsvollziehers wollte ihm ein mal einen Possen spielen und reichte ihm statt des Briefes ein leeres Blatt. Das aber brachte Jannings nicht in Verlegenheit:" Ich muß Ihnen ein Geständnis machen," sagte er, ich habe im Leben niemals eine Schule besucht lesen Sie mir den Brief vor." Aber auch der Gerichts­vollzieher war nicht so leicht ins Borhorn zu jagen: Gerne," meinte er, aber da muß ich mir erst meine Brille holen."- Ging ab und kam mit dem richtigen Brief zurück.

Aditzefin Monate

in tiefem Sdilaf

Ein junges Mädchen aus Chikago mit Namen Mina Patricia Maguire liegt seit achtzehn Monaten schlafend in einem Krankenhaus der Stadt, ohne daß es den behandelnden Aerzten bisher gelungen wäre, sie zum Erwachen zu bringen. Es ist ein in der Medizin einzig dastehender Fall, daß es bisher trop Anwendung aller bekannten Gegenmittel nicht gelungen ist, den Schlaf wenigstens vorübergehend zu bannen. Die Aerzte sind vor kurzem sogar zu der sehr ge­wagten Methode geschritten, der Schlafenden Typhus­bazillen einzuimpfen, in der Hoffnung, daß diese Bazillen die Schlafkrankheitsbakterien vernichten würden. Aber auch dieser Eingriff ist ohne Erfolg geblieben.

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Vereinigung

unglücklicher Ehegattinnen"

In Avignon wurde vor einigen Tagen eine Ver­einigung unglücklich verheirateter Frauen" gegründet. Das Ziel der Vereinigung ist es, den unglücklichen Frauen das Glück zu ersetzen, das ihnen in der Ehe versagt blieb. Die Statuten der Vereinigung sind streng moralisch. Die Mitglieder des Verbandes, die sich in gegenseitigen Aus­sprachen Trost zu spenden haben, dürfen nach 8 Uhr abends nicht mehr außer Haus weilen, solange zwischen ihnen und ihrem Gatten nicht die guten Beziehungen wieder hergestellt find oder die Scheidung nicht rechtsgültig durchgeführt wird.

Kinder erzäfilen

Freddy, kannst du denn gar nicht brav sein?*

Ich möchte ja, Mutti, jeden Abend bitte ich den lieben Gott, daß er mich brav werden lassen soll... Aber er will nicht!"

Der Papa hat die Vase zerbrochen, Mamas Heiligtum. Bobby sieht sich die Bescherung an. Nach längerem beider­seitigen Schweigen macht Bobby den Vorschlag:" Dad, wenn du mir einen Penny gibst, sag ich, daß ich es gewesen bin..."

*

Was liest du da für ein Buch, Bobby?"

Moderne Kindererziehung."

Warum liest du gerade das?"

Ich will sehen, ob ihr mich richtig erzieht."

met ber Sebrer feine Sof

,, Wer kann mir sagen," fragt der Lehrer seine Schüler woraus ein Fischnetz gemacht wird?" Billy meldet sich:

Aus einem Haufen kleiner Löcher, Mister Dayers, die mit Striden zusammengebunden werden." Von Vera Stenzel

in die Hauptstadt wandern. Was hindert uns dann, dich niederzuschlagen?... Sprich!"

Innocenzo wollte etwas stammeln, aber er konnte nicht; er war blaß wie eine Leiche.

Was uns hindert," fuhr Berardo fort, ist die Diskussion der Folgen, die ein Mord mit sich brächte. Aber du, Innocenzo, haft mit eigener Hand auf jenes Papier ge­schrieben, daß ab heute, laut Befehl des Podesta, alle Dis fussionen verboten sind... Du hast den Faden durch­geschnitten, an dem deine Sicherheit hing..."

Höre," gelang es Innocenzo endlich zu sagen, hör ein­mal. Du sagst, du seiest gegen Diskussionen, aber statt dessen möchte ich sagen, scheint, daß du mir zu viel diskutierst... Dein ganzer Vortrag war nichts anderes als eine Dis­kussion... Ich habe niemals einen Esel, will sagen einen unverständigen Cafone, so sprechen hören..."

Wenn das Diskutieren nur den Herren und der Obrigkeit Vorteile bringt," fragte ich Berardo, warum hat dann der Podesta beschlossen, alles Diskutieren zu verbieten?..." Berardo schwieg eine Weile. Dann antwortete er: ,, Es ist spät geworden. Morgen muß ich um drei Uhr auf. stehn, um in den Fucino zu gehn. Gute Nacht..." Und er ging.

Die Diskussionen mit ihm endeten immer so. Er redete, predigte ganze Stunden lang wie ein Pfarrer, sagte die absurdesten und radikalsten Dinge, die ihm in den Sinn famen, in einem Ton, der feinen Widerspruch duldete. Dann, wenn er fertig war, stellte ihm einer ein Bein, er kam in Verlegenheit und ging wortlos weg.

An jenem Abend kehrte Innocenz la Legge nicht in die Hauptstadt zurück.

Vielleicht waren es die Drohungen des Berardo. Vielleicht war es eine plögliche Schwäche, er zog es auf jeden Fall vor, die Nacht neben der Sorcanera zu verbringen.

( Fortsetzung folgt.)