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Fretheil

Nummer 92-1. Jahrgang

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Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, 6. Oktober 1933 Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt:

Reichstagsprozeß

Seite 3

Rätsel um van der Lubbe

Seite 4

Göring radikaler Pazifist

Seite 8

Torgler zerfetzt die Anklage

D. F. Am neunten Verhandlungstage näherte sich der Ein Mann gegen Vagabunden und Komödianten

Leipziger Prozeß zum ersten Male tragenden Säulen des Anklagegebäudes, wenn man bei dessen brüchigem Aufbau überhaupt von Fundamenten und Säulen reden will. Der Borsitzende fragte den wieder stumpf dasigenden van der Lubbe, ob er den Abgeordneten Torgler kenne, ob er ihn je gesehen, ob er im Reichstage mit ihm zusammen gewesen sei. Van der Lubbe erhob sich mühsam, stand geknickt mit tief gesenktem Kopf da und sagte nach einigem Zögern: Nein. Er hält es mit dem Neuen Testament: ,, Eure Rede sei Ja, Ja- Nein, Nein. Was darüber ist, das ist vom Uebel." Nur daß Lubbe meistens Ja und Nein auf dieselbe Frage antwortet. Im Falle seiner an geblichen Bekanntschaft mit Torgler verstand er sich aber zu einer Ausnahme. Die verneinte er mit großer Be stimmtheit. Ob das Torgler helfen wird? Wir möchten es bezweifeln. Man wird sagen, daß der sonst so wahr heitsliebende Herr Landstreicher van der Lubbe in diesem Punkte lügt. Ob der Herr Hauptangeklagte van der Lubbe Ja sagt oder Nein, ist vielleicht für das Gesamturteil das­selbe. Wir werden uns mit dem größten Vergnügen be­richtigen, wenn wir uns irren sollten.

Dimitroff stellte wieder Fragen an Herrn van der Lubbe, die diese Zierde der Anklage verwirren konnten, und man weiß doch, daß der kranke Holländer der Schonung be­darf. Darum wurden die Fragen Dimitroffs schroff zu rückgewiesen. Außerdem wurde dieser temperamentvolle Bulgare, der sich an der bescheidenen Hilflosigkeit des zarten Jünglings van der Lubbe ein Beispiel nehmen sollte, mit dem Hinauswurf bedroht, wenn er noch weiter durch seine überflüssigen Fragen die doch sonnenklaren

auch nur seinen Namen gekannt."

Tatbestände verwirren sollte. Dieser bulgarische Revo Torgler: Ich habe nie in meinem Leben van der Lubbe kennen gelernt, habe ihn nie gesehen, gesprochen oder lutionär soll sich nur nicht täuschen. Es ist durchaus nicht notwendig, daß er bei der Verurteilung zum Tode unbe dingt präsent ist. Nur bei dem großen Staatsakt der Hin­richtung ist seine Gegenwart unentbehrlich, da ihn dann der Herr Vorsitzende unmöglich vertreten kann. Uebrigens wird die Situation dann so sein, daß Dimitroff auch ohne präsidiales Eingreifen die deutsche Gerechtigkeit nicht mehr durch seine Fragerei aufhalten kann.

Die Todesschlucht von Los Angeles

Los Angeles , 4. Oft. Im Griffith- Park, der etwas außer­halb von Los Angeles gelegen ist, brach heute ein entsetzlicher Waldbrand aus. Zuerst schien das Feuer nur unbedeutend zu sein; von einem heftigen Wind angefacht, breitete es sich jedoch schnell aus. Eine Kolonne des Arbeitsdienstes, die bei der Bekämpfung des Brandes mithalf, wurde vom Feuer in eine Schlucht eingeschlossen. Es gelang nicht, sie zu befreien. Leider muß damit gerechnet werden, daß mit den 52 ent­setzlich verkohlten Leichen, die bisher geborgen worden sind, genen Leichen wurden an den Abhängen der Schlucht ge­die Liste der Opfer noch nicht erschöpft ist. Die bisher gebor­funden, während man noch nicht weiter in die Tiefe der Schlucht hat vordringen können, da der Boden noch mit

glühender Asche bedeckt ist.

von Flammen umgeben. Auf ihre entsetzlichen Schreie hin suchten ihnen die Kolonnen, die in anderen Teilen des Parks an der Arbeit waren, zu Hilfe zu kommen, aber es war völlig unmöglich, zu den Unglücklichen zu gelangen, obwohl viele unter Todesgefahr versuchten, durch die Flammen vorzu dringen. Dabei wurden über hundert Personen verletzt, die teils Brandwunden oder Rauchvergiftungen davongetragen haben. Machtlos mußten die Rettungsmannschaften zugegen sein, wie im gespenstigen Feuerschein des brennenden Waldes ihre unglücklichen Kameraden einen qualvollen Tod fanden und wie die Todesschreie der Opfer das Knistern und Rauschen des Waldes übertönten. Sie berichten, wie die Opfer sich, schon halb verbrannt, in ihrer Todesangst ineinander verkrallt hätten; einige waren vor Schreck wahnsinig geworden und begannen zu singen. Die Todesschlucht ist etwa 500 Meter lang und 125 Meter tief. Das gesamte Parkgelände, das zum größten Teil zerstört ist, umfaßt rund 200 Morgen. In der Stadt herrscht tiefe Trauer. Ueber den Häusern wehen die Fahnen auf Halbmast. Der Stadtrat tritt heute vormittag zusammen, um eine Hilfsaktion für die Hinterbliebenen einzuleiten. Von Präsident Roosevelt und der Bundesregierung sind Beis leidstelegramme eingetroffen. Der Gouverneur von Kali. fornien ist aus San Francisco unterwegs nach der Un­

Van der Lubbe zeigte sich wieder als Ehrenmann. Er Kolonne Arbeitsdienst vom Feuer eingeschlossen- 52 Leichen geborgen nimmt die ganze Schuld der Brandstiftung auf sich. Inner­halb einer Viertelstunde hat er eine der gewaltigsten Brachtbauten dieser Erde ganz allein in Brand gesteckt. Ganz allein! Man muß sich das alles noch einmal ver­gegenwärtigen: Seit Tagen wußte die nationalsozia listische Regierung, daß unser armes deutsches Vaterland unmittelbar vor dem Ausbruch der bolschewistischen Revo­lution stand. In den zu Katakomben ausgebauten Bier­hellern der früheren Brauerei, auf deren Grundstück das Karl- Liebknecht- Haus stand, hatte sie die genauen Revo lutionspläne gefunden. Es roch auch schon nach bolsche­mistischem Brand: im Schloß, im Rathaus, an Wohlfahrts ämtern. Kohlenanzünder waren in ganz Berlin kaum noch zu haben, weil van der Lubbe sie en gros aufgekauft hatte. Es zeugt für die blond- blauäugige germanische Herzenseinfalt des Herrn Polizeiministers Göring und seines biederen Berliner Polizeipräsidenten, daß sie von der asiatischen Tücke der Bolschewiken nichts ahnten. So war es denn möglich, daß ein notorischer Bagabund, ein Ausländer noch dazu, am frühen Abend mit Kohlenan zündern und brennenden Stoffen durch den ganzen Reichs­tag promenieren konnte. Er legte Brandherde überall: im Restaurant, in Sitzungszimmern, auch im Plenarsaale. Er suchte sich in Ruhe die brennbarsten Stellen aus. Große Vorhänge zündete er mühsam an und schleifte dann diese funkensprühenden Portieren Hunderte Meter weit durch das Gebäude. Niemand sah ihn, nimand störte ihn. Feuer knisterte, Flammen zuckten auf, Rauch durchzog die Hallen. Niemand merkte etwas, niemand roch etwas, denn an scheinend gab es am Vorabend der kommunistischen Revo­lution im deutschen Reichstagsgebäude nur diesen holländischen Fürsorgezögling. So scheint es wirklich in Auslandsstimmen zu dem nationalsozialistischen Mordanschlag

der Anklageschrift zu stehen, und ein hoher Senat des Reichsgerichts prüft diese Mär ernsthaft.

In dieser kläglichen Komödie steht Torgler neben seinen bulgarischen Gesinnungsfreunden aufrecht und würdig. Seine Antworten find fest und eindeutig. Niemand im Saale kann ehrlich glauben, daß dieser Mann sich mit diesem Burschen van der Lubbe im Reichstage stundenlang beraten, ja auch nur gezeigt haben konnte. Was da um geheimnisvolle Gestalten mit dem Hut tief ins Gesicht zusammengeredet wird, sind Räubergeschichten. Zeugen, deren Qualität sich wohl noch offenbaren wird. ( Ausführlicher Bericht siehe Seite 3)

von

Wie erst später bekannt wurde. handelt es sich bei den Opfern um Erwerbslose, die in den Arbeitsdienst ein­gestellt und in der Nähe bei Straßenbauten beschäftigt waren, als das Feuer ausbrach. Sie wurden sogleich zur Be­kämpfung des Waldbrandes abkommandiert.

Schnelligkeit in dem mit zahlreichen Eukalyptus- Bäumen

Das Feuer verbreitete sich mit geradezu unglaublicher

und anderen ölhaltigen Bäumen und Sträuchern besetzten Walde, zumal auch der Boden durch monatelange

Dürre völlig ausgetrocknet war. Schon wenige Minuten, nachdem die Arbeiter die Schlucht betreten hatten, waren sie glücksstätte.

Wien und die Weltmeinung

Frankreichs Meinung

Paris , 5. Oft. Der Temps" schreibt: Das Attentat, daß begangen wurde, ruft in der ganzen Welt die lebhafteste Ent­am Dienstag in Wien gegen den Bundeskanzler Dollfuß rüstung hervor. Es fann unter den gegenwärtigen um ständen kein abscheulicheres politisches Verbrechen geben als dieses, welches den Staatsmann beseitigen wollte, der die Unabhängigkeit Desterreichs in seiner Person ver­

förpert, d. h. das Dasein dieses Landes selbst, dessen Schicksal über Krieg oder Frieden in Europa entscheiden fann. Ein politisches Verbrechen, auf welche Gefühle man es auch immer zurückführen will, ist immer ebenso hassenswert

wie sinnlos, hassenswert, weil es einen Angriff gegen das menschliche Leben darstellt, sinnlos, weil es selbst die Idee verdammt, der zu dienen es vorgibt...

dem warmen Empfang begangen wurde, der dem Bundes­

Es ist bezeichnend, daß dieses Attentat einige Tage nach fanzler durch die Völkerbundsversammlung zuteil wurde.

Die begeisterte Zustimmung, die Kanzler Doufuß begrüßte, als er in feierlicher Weise von der Genfer Tribüne, den Vertretern Hitler- Deutschland ins Gesicht, den unerschütterlichen Willen seines Landes verkündete, frei zu bleiben und sich seiner unabhängigen Eristenz völlig würdig zu entwickeln, bewies, welche Achtung die Ver­treter aller Nationen, die berufenen Wortführer der Welt­