DAS BUNTE BLATT
NUMMER 92= 1. JAHRGANG TAGLICHE UNTERHALTUNGS- BEILAGE FREITAG, DEN 6. OKTOBER 1933
Siebzefin Mann und ein Zivilist Was es alles gibt
Von Paul Szende
Donnerstag, den 10. September 1914, standen wir schon feit sieben Stunden marschbereit. Nachmittags kam der Befehl, unser Bataillon habe mit einem andern Landsturmregiment gemeinsam bis Powitno vorzubringen, während der übrige Landsturm in der Reserve bleiben solle. Unsere Aufgabe wäre gewesen, die Tiroler Edelweißbrigade, schon seit zwei Tagen in der Feuerlinie stand, zu verstärken und die russische Vorhut aus ihren frisch ausgehobenen Schützengräben zu vertreiben.
Der Befehl des Brigadekommandos schilderte die Lage als äußerst günstig; die Widerstandskraft des Feindes sei bereits gebrochen, es handle sich nur darum, ihm den letzten Stoß zu versetzen. Durch Erfahrungen gewißigt, schenkten wir aber diesen Angaben keinen Glauben. Wir spürten, daß das Einsetzen der Landsturmregimenter nur eines bedeuten konnte: Die Schlacht stand schlecht!
Wir waren keine Reserve, die in der lebten Stunde in die Waagschale geworfen wird, um eine günstige Entscheidung herbeizuführen; wir waren nur Lückenbüßer und Kanonenfutter, die eingesetzt wurden, wenn keine Hoffnung mehr bestand, einzig und allein darum, um den Feind auf einige Stunden aufzuhalten und dadurch den Linientruppen eine Galgenfrist für den Rückzug zu sichern. Die große Mehrheit der Brigade bestand aus Männern, die höchstens eine achtwöchige militärische Ausbildung und auch die vor mindestens fünfzehn Jahren mitgemacht hatten. Unsere Ausrüstung war mangelhaft, nicht ein einziges Maschinengewehr stand uns zur Verfügung, der Landsturm besaß damals feine ArtilIerie.
Wir nahmen den Befehl gleichgültig entgegen. Da kann man nichts machen!
Es war die sechste Woche des Krieges; sett drei Wochen standen wir bereits in der Feuerlinie. Wir kamen uns daher als alte Arieger vor, die nichts mehr aufregt, nichts in Erstaunen setzt. Wir marschierten den Waldsaum entlang; die hohen Bäume gewährten uns wenigstens gegen das Gewehrfeuer Schutz.
Bei dem Dorf Cuntow mußten wir halten, weil die russische Artillerie heftig Powitno beschoß. Es war unmöglich, weiterzugehen. Das Dorf war wie ausgestorben, seine Einwohner waren verschwunden; Pferde, Schweine und Ochsen irrten zwischen den Häusern herum oder brüllten verzweifelt in thren Stallungen. Die Mannschaft fing eiligst einige Schweine und Hühner. Unsere Kompanie hatte sogar das Glück, Gänse zu erwischen. Alles wurde sofort gerupft und gebraten, der Schatz im Küchenwagen geborgen. Die ganze Kompanie dachte nur daran, was für herrliches Nachtmahl es geben werde. Der Kanonendonner wurde immer stärker, die auf Powitno gerichteten, aber darüber hinausgehenden Schüffe erreichten bereits die östlich gelegenen Häuser von Cuniow, die in hellen Flammen aufloderten.
Als Kompaniekommandant erhielt ich um sechs Uhr den Befehl, weiterzugehen und den Train zurückzuschicken. Das bedeutete aber, daß der Küchenwagen mit den drei Gänsen und dem Spanferkel zurückgeschickt werden mußte. Der schöne Traum eines herrlichen Nachtmahls zerstob in nichts!
Fontamara
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„ Aber warum kam er denn nicht nach Fontamara heim?" fragte Marietta.
,, Wie ein Bettler heimkommen? Unmöglich!... Er blieb in Rom , wo ihm die Misere leichter zu tragen schien und machte die verschiedensten Dinge: Hundescherer, Glöckner, Friedhofsgräber, Händler mit Schuhlißen und Jubiläumspostkarten des Guglielmo Oberdan , Tellerspüler in verschiedenen Wirtshäusern. Je öfter er den Beruf wechselte, um so öfter war es das Gleiche. Tausende von Abruzzen - Bauern lebten und leben in Rom wie er, indem sie alles das machen, wozu die Andern sich nicht hergeben. Sie verbringen ihr ganzes Leben auf einer niedrigeren Stufe wie die„ Andern". Sie bleiben ein Leben lang Cafoni, ein Leben lang Lumpenproletarier. Man braucht in Rom nur auf die Straße zu gehen, um sie auf den ersten Blick zu erkennen. Sie gehen anders, schauen, lachen sprechen anders und kleiden sich anders als die„ Andern". Am Sonntag gehen die Andern" ins Stadion oder zu den Parioli, sie gehen in irgend eine Kleine Wirtschaft. Peppino Goriano war in Rom , als„ die Andern" ihre Demonstration für oder gegen den Krieg um Triest machten, aber er verschwand in einem kleinen Lokal der Porta Trionfale. Nach dem Krieg wanderten„ die Andern" auf das Arbeitsamt und er war Stammgast in einer Wirtschaft von Testaccio. Manchmal ging es in der Stadt drüber und drunter und ohne es zu wollen, war er dabei. Aber es kam ihn teuer zu stehen!
Zum Beispiel jener Tag, wo Poppino Goriano in der Straße Cola di Rienzo eine große Menge Menschen mit roten Fahnen Geschäfte stürmen sah. Er war mitten drunter und kam so in einen Schuhladen; aber als er wieder draußen war, hatte er ungleiche Schuhe in der Hand: zwei Damen tanzschuhe, alle beide für den linken und einen großen. Reitstiefel für den rechten Fuß... Was sollte er damit anfangen? Er begab sich also auf die Suche nach dem Andern, der die dazu passenden Schuhe mitgenommen hatte, bis er überall herumfragend mit einem feinen Herrn zusammenstieß, ber sich bereit erklärte, ihm zu helfen und zu sich nach Hause
Als Strafe für unsere fleischlichen Gelüste wurde uns das Nachtmahl schonungslos entzogen und wir selbst in das brennende Dorf getrieben.
Bevor wir abmarschierten, tauchte ein Feldpostwagen auf. Da wir noch einige Minuten Zeit hatten, benüßte ich die Gelegenheit, meiner Mutter eine Karte zu schicken. Ich wollte nichts Beunruhigendes schreiben. Wird aber diese Karte nicht vielleicht doch die letzte sein?
Wir gingen vorsichtig über die Höfe der brennenden Häuser vor und erreichten die Schrapnellzone. Links und rechts trepierten fehlgegangene Geschosse. Nun mußten wir stehenbleiben, um einem Sanitätszug den Weg freizulassen. Acht große Blessiertenwagen versuchten troß dem feindlichen Feuer nach Powitno zu gelangen. Es war ihnen kein Erfolg beschieden, einige Kutscher und Pferde wurden tödlich ge= troffen, die übrigen machten kehrt und verrammelten uns den Weg.
Wir versuchten nun, auf einem Karrenweg, der über Kartoffelfelder führte, zum Wald von Powitno zu gelangen. Hier kamen wir an einem großen Grabhügel vorbet, auf dem ein einfaches Holzkreuz mit folgender Inschrift stand: „ Siebzehn Mann und ein Zivilist."
Die Lage war wirklich nicht danach, zu lachen. Und dennoch mußte ich lächeln, als ich diese Inschrift sah.
Der ganze Hochmut des Berufsmilitärs, für den der Mensch erst bei demjenigen anfängt, der einen bunten Rock trägt, sprach hier noch aus dem Grab. Der Tod, die Geschosse des Feindes, die kannten diese Unterscheidung nicht, sie rafften Soldaten und Zivilisten gleichmäßig hinweg. Für das Militär aber ist der Zivilist kein Mann, und wenn er stirbt, dann ist das eben ein gewöhnliches Hinscheiden und kein Heldentod.
Inzwischen trat das Dunkel ein und unter seinem Schutz gelang es uns, Powitno zu erreichen. Die meisten Häuser waren schon ausgebrannt und zusammengebrochen, die glimmende Asche beleuchtete hell Höfe und Gärten. Wir fielen in Einzelreihen ab, einer folgte vorsichtig dem andern. Wohin wir kommen würden, wußte niemand, jeder sah nur seinen Vordermann. Oft mußten wir über brennende Balken steigen, die Sohlen meiner Schuhe waren so erhitzt,
daß ich manchmal die Empfindung hatte, als ob meine Füße
brannten.
Das ganze Dorf überzog ein furchtbarer Geruch. Ein großer Teil der Bewohner wurde vom Geschüßfeuer getötet und ihre Leichen verbrannten in den eingestürzten Häusern. Wir tamen an einem Hause vorbei, wo acht bis zehn verkohlte Leichen, Erwachsene und Kinder, nebeneinander lagen. Entsetzt schauderten wir zurück.
„ Die armen Leute," meinten einige.„ Wie kommen sie überhaupt zum Krieg? Wir, das ist was andres. Wir müssen. Das aber find feine Soldaten und trotzdem müssen sie daran glauben."
Schade, daß Powitno damals in russischen Besitz überging. Wie schön wäre es gewesen, wenn man dort einen neuen Grabhügel hätte errichten können, diesmal mit der Inschrift: " Zweihundert Mann und sechshundert Zivilisten."
einlud. Aber der noble Herr führte ihn nicht in sein Heim, sondern auf die nächste Polizeistation, wo er in Arrest genommen und als Plünderer angeklagt wurde. Beim Prozeß trat er mit vielen Arbeitern auf, die alle erklärten, aus „ politischen Gründen" am Sturm auf die Läden teilgenommen zu haben. Peppino dagegen gestand, er habe es getan, weil er Schuhe nötig hatte. Dafür bekam er zweimal soviel aufgebrummt wie die Andern.
Damals wurde auch jemand, der einen Andern auf der Straße umgebracht hatte, prämiiert und freigesprochen, wenn er den Mord aus politischen Gründen" begangen und zu einer schweren Strafe verurteilt, wenn er aus Not gehandelt hatte. Somit stellte Peppino nach reiflicher Ueberlegung fest, daß er sein ganzes Leben lang ein Pechvogel gewesen, weil er immer aus Hunger und nie aus Politit" gehandelt hatte und obwohl er nicht mehr ganz jung war, beschloß er in Zufunft, was immer kommen würde, nur aus„ politischen Gründen" zu tun.
Bei der Entlassung wurde Peppino vor die Polizei gerufen, die ihm folgende Wahl ließ:
„ Entweder du tust, was wir dir sagen, oder du mußt noch heute nacht Rom verlassen und nach Fontamara zurück." Peppino wußte, daß man in jenen Tagen seinen aus dem Gefängnis entlassenen Freunden den gleichen Vorschlag gemacht hatte. Und so nahm er bereitwillig an, in Politik" zu arbeiten, bekam 50 Lire Anzahlung und den Befehl, am Abend auf der Piazza Venezia „ Es lebe Nitti! Nieder mit Fiume!" zu schreien."
,, 50 Lire nur um zu schreien?" fuhr Michele Zompa dazwischen und drückte darin den Unglauben aller aus. ,, Nicht unterbrechen!" fuhr der falsche Prophet fort. " Du verstehst eben nichts von der„ Politik"... Am Abend war auf der Piazza Venezia eine große Menschenmenge versammelt, darunter Peppino Gorianos Freunde aus der Regina coelt. Peppino begann zu rufen:„ Es lebe Nitti! Nieder mit Fiume!" Während seine Freunde aus der Regina coeli sofort nach allen Seiten auseinanderstoben, sah er eine Gruppe Offiziere und Arditi auf sich zukommen. Aber er stand ja erst am Anfang seiner politischen Laufbahn und wollte den übernommenen Auftrag auch ausführen; daher fuhr er fort, das zu rufen, wozu ihn die Polizei beauftragt hatte und wovon er nicht ahnte, was es bedeutete. Er wurde von den Offizieren und den Arditi umringt und was nun passierte, konnte er nie genau erzählen, weil er sein Bewußt
Fliegende Aerzte in Australien Die riesigen Entfernungen und die Abge. in schiedenheit der einsamen Vorposten Australien haben den fliegenden Arzt und seine Ambulanz in diesem Erdteil zu einer wahren Notwendigkeit gemacht. Der australische ärztliche Luftdienst wurde im Jahre 1928 unter den Auspizien der australischen Inlandmission, einer Abteilung der presbyterianischen Kirche in Australien , ins Leben gerufen. Der Mittelpunkt seiner Tätigkeit befindet sich in Cloncurry, Queensland . Das Hauptquartier in Cloncurry ist mit Radioanlagen ausgestattet, die medizinische Anweisungen und andere Botschaften auf einer Kurzwellenlänge von 42 Meter an verschiedene fernergelegene Heime senden, denen spezielle Empfangs- und Sendeapparate zur Verfügung stehen. Die Station hat auch ein Flugzeug und eine Landorganisation und in dringenden Fällen werden die Dienste des Flugarztes und eines Piloten für Reisen angefordert, die oft 600 bis 800 Rilometer weit sind. Die fliegenden Aerzte rekrutieren sich aus den besten Kräften des australischen Aerztestandes. Der erste war ein berühmter Spezialist aus Sidney, der ein Jahr seines Lebens opferte und für einen Bruchteil seiner
normalen Einfünfte arbeitete, damit die Leute im Busch erstklassige Hilfeleistung erhielten. Seitdem haben sich noch drei andere hervorragende Aerzte gemeldet.
Begräbnisfunk
Eine amerikanische Funkgesellschaft will jetzt eine sonderbare Neuerung einführen. Es handelt sich um eine Funkgesellschaft in Saint Louis. Sie will zur Begräbniszeit ausschließlich Begräbnisprogramme senden. Für diese Sen dungen stellt sie eigene Lautsprechwagen zur Verfügung, die gegen vier Dollar jeden Kondukt mit Trauermusik versorgen. Die Musiker, die für die einfachste Begräbnismusik zehn Dollar erhielten, lehnen sich gegen diese Neueinführung auf. Aber die rationalisierte Trauermusik wird im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten kaum aufzuhalten sein. Die Funkgesellschaft soll auch schon von den verschiedenen Kirchen die Bewilligung für die Radiotrauermusik erwirkt haben.
Slugzeuge kontrollieren den Vogelflug
In den letzten Jahren sind Versuche ausgebaut worden, welche darauf hinzielen, die Vogelzüge von Flugzeugen erkunden zu lassen. Einige Ergebnisse liegen nun vor: Wilde Enten fliegen mit 37 Kilometer Stundengeschwindigkeit, Wildgänse mit ungefähr 85 und Krickenten sogar mit 110 Kilometer. Einige Male mußten die Flugzeuge von ihrem Plan abgehen, da die Vogelzüge durch das Motorengeräusch auseinandergebracht wurden. Einige gute Ergebnisse hat man mit dieser Methode in der Tschechoslowakei erzielt.
Was man sidi zuflüstert
Das deutsche Volk zerfällt jest in zwei Teile. Die einen marschieren, die anderen- sitzen.
sein verlor und erst im Spital des San Giacomo wiederfand..."
" Dann waren also die Offiziere gegen die Polizei? Wie war das möglich?" fragte Generale Baldiffera, der eine hohe Meinung von militärischer Disziplin hatte.
" Unterbrich mich nicht immer," rügte der falsche Prophet. " Du verstehst eben nichts von Politik.. Nach seiner Wiederherstellung fuhr Peppino fort, politisch zu arbeiten, das heißt, Prügel zu fassen zur Zeit oder am Ort, den die Polizei festsette. Einmal wurde er von Tramangestellten an der Porta Santa Croce blutig geschlagen, ein andermal von den Gasarbeitern an der Porta San Paolo , wieder ein anderes Mal von den Ziegelbrennern an der Porta Trionfale...
Wo er hinging und das von der Polizei bestellte Wort schrie, bekam er Hiebe.... Dabei war er gewöhnlich allein, denn seine Freunde aus der Regina coeli verdufteten stets, sobald Gefahr in Sicht war..."
„ Und Peppino? Warum ist er nicht auch durchgebrannt?" fragte Marietta angstvoll.
,, Um mehr zu verdienen," erklärte der Prophet.„ Er erhielt nämlich fünf Lire pro Tag von der Polizei und 25 Lire Zu schlag, wenn er ins Spital mußte. Die fünf Lire genügten nicht für seinen Unterhalt, er mußte unbedingt Prügel fassen. Es war natürlich kein Vergnügen, aber arbeiten ist noch nie ein Vergnügen gewesen. Man muß noch hinzufügen, daß die bestellten Worte wechselten. Nachdem er sechs Monate„ Via Nitti" gerufen hatte, mußte Peppino Goriano ein Jahr lang „ Abbasso Nitti" schreien. Aber die Wirkung blieb sich immer gleich; immer Prügel. Nach anderthalbjähriger politischer Tätigkeit" glich Peppinos Körper dem des Jesus am Kreuze, als Pontius Pilatus sagte:„ Ecce homo!" Peppino Goriano konnte wirklich als politischer Martyrer angesprochen werden. Kein anderer Italiener hat je durch Politik mehr ge= litten als er. Er gehörte nicht zu denen, die in den Häusern blieben und die Andern auf die Straße schickten. Er stand für sie ein. Es schlugen sich damals auch viele andere Italiener für ihre Ideen, aber sie waren mit Peppino Goriano nicht zu vergleichen, denn er schlug sich ja für die Ideen Aller, er gab sein Blut für Demokratie und Nationalismus, für Sozialismus und Kirche. In jeder Idee steckt ja ein guter Kern. In allen Ideen fand Peppino eben das Gute, daß er in ihrem Dienst fünf Lire täglich und 25 Lire Zuschlag für das Spital betam, ( Fortseßung folgt.)