DAS BUNTE BLATT
NUMMER 111-1. JAHRGANG TAGLICHE UNTERHALTUNGS- BEILAGE
Der Notbefielf
Eine belanglose, aber tragisɗfie Geschichte aus der Emigration
Die Strümpfe waren aus besserer Zeit, warm, porös, auch solid, doch nicht ganz zu Schuhsohlen geeignet. Dem Oberleder der Schuhe sah man die Brüchigkeit der Grundlage nicht an. Das war der einzige Trost in diesem Verfall vergangener Herrlichkeit. Von der Heimatlichen Erde war kein Stäubchen mehr auf den Sohlen vorhanden, um die Brüche zu verdecken.(„ Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?"- Danton .) Kurz, fie sahen aus, als wollten sie sich durch Spaltung fortpflanzen. Bei Regenwetter gab es ärgerliche glitschige Situationen.
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Da kam das„ Heil". Natürlich aus Deutschland . Eine liebe Hand sandte als Muster ohne Wert den„ Notbefehl", Gummisohlen, Sandpapier und eine Tube Gummiklebstoff " Perplex". Die tiefste Bedeutung des Wortes perplex ging mir erst später auf.
Das Muster ohne Wert kostete 1,70 Franken Zoll, eine Wehmutsträne in den Freudenbecher. Kameradschaftliche Anteilnahme half aus diesem Dilemma. Dann begann die ungewohnte Arbeit: Aufrauhen der trockenen Ledersohle mit dem Sandpapier, zweimaliges Ausstreichen des Klebstoffes, Schutzstoff von der Klebefläche der„ Dauersohle" herunter
ziehen und dann diese Sohle fest auf die getrocknete Leder
sohle pressen. Dann hinaus ins feindliche Straßenleben. Stolz in der Brust usw.
Ah, wieder Grund unter den Füßen zu fühlen, nicht mehr unsicher zu schreiten wie Petrus auf dem See! Das hebt die Persönlichkeit. Meine Leidensgenossen von der Emigration fanden mich sofort unternehmungslustig" und stichelten wegen meines Alters. Die Armen wissen anscheinend nichts von seelischer Erhebung.
Mein Tritt war leicht, frei, unhörbar. Ich konnte wieder längere Spaziergänge ohne ängstliche Rücksichten machen. Mir war, als hätte ich wie Jfaros die Erdenschwere über wunden. Aber, ach, wie gut, daß meine proletarische Hertunft mich an die. Wechselfälle des Schicksals gewöhnt hat! Als ich ein halbes Stündchen durch die Straßen stolziert war und das Glück begann, zur Gewohnheit zu verblassen, sah ich wie ein frecher Knirps von ungefähr sechs Jahren sich zu mir neigte und auf meine Schuhe starrte. Seinem Blick folgend war ich für den Augenblick perplex und schämte mich bis zum Erröten. Die Dauersohlen hatten sich boshafterweise unter meinem elastischen Schritt verschoben und zueinanderstrebend die Deckung soweit verlassen, daß mein linker Schuh den Betrachter lebhaft an Charlie Chap lin erinnerte. Mit der instinktiven Entschlußsicherheit des Bedrohten verschwand ich in einem Hauseingang. Angelehnt, in der klassischen Haltung des Dornausziehers riß ich die Sohlen herab, paßte sie den Schuhen wieder an und flatschte sie mit der flachen Hand fest. Nur nicht entmutigen lassen! Eine halbe Stunde hatten sie doch gehalten. Das war für den Anfang nicht schlecht. Mit der Zeit wird die Adhäsion besser. Vielleicht war der„ Perplex" noch etwas feucht.
Nunmehr aber hatte ich das Gefühl, als ob meine Schuhe den Blickpunkt aller Passanten bildeten. Ich wurde unsicher, hatte keine Freude mehr an den Schaufenstern und blieb vor ihnen nur stehen, die Sohlen zu kontrollieren. Bis zur nächsten Flucht in einen Hausgang dauerte es nur zehn Minuten, dann wiederholte sich das gleiche Spiel. Der schöne Herbsttag hatte sein Lächeln verloren und nach der fünften Wieder
Sontamara
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ROMAN VON IGNAZIO SILONE Was nun?
Der Unbekannte, der große Unbekannte war gefunden, war da.
Bei der Nachricht, daß der Unbekannte, der große Unbekannte erwischt sei, rannten Journalisten, faschistische Führer und hohe Staatsbeamte zur Polizeistation, wo wir gefangen jaßen. Der große Unbekannte war: ein Cafone.
Die Polizei hatte ihn eigentlich in der Stadt gesucht, aber blieb ihr ein einziger Stadtbewohner unbekannt? Jeder ist fatalogisiert, gestempelt, überwacht, gekannt. Auch der radikale Städter( der radikale Städter ganz besonders) ist tatalogistert, gestempelt, überwacht, gekannt. Aber die Cafoni? Wer kennt denn die Cafoni? Hat es je eine Regierung in Italien gegeben, die die Casoni kannte? Und wer hätte je alle Cafoni katalogisiert gestempelt, überwacht und gefannt? Cafoni sind zahlreich wie die Fliegen.
Also: Der Unbekannte, der große Unbekannte war ein Cafoni. Immer wieder wurde Berardo aus der Zelle geholt, um einem neuen Funktionär gezeigt zu werden, der den Cafont, den großen Unbekannten, ausfragen oder einfach sehen wollte. Während der Nacht wurden wir vorsichtshalber getrennt und in drei verschiedenen Zellen untergebracht, aber an den darauffolgenden Tagen wurden wir wegen gewisser Verhöre wieder zusammengesteckt.
Der Kommissar wollte viel von Berardo wissen. Er wollte wissen, wo die geheime Druckerei, wer der Drucker sei und ob es noch komplicen gäbe. Aber Berardo antwortete nicht. Berardo kniff die Lippen zwischen die Zähne und biß sie blutig zum Zeichen, daß er unerschütterlich schweigen wolle. Bei jedem Verhör sah er schlimmer aus. Beim ersten hatte er nur einen blauen Fleck unter dem rechten Auge, aber in den folgenden war er kaum wiederzuerkennen: Lippen, Nase, Ohren und Augenbrauen wiesen Spuren erlittener Gewalttätigkeiten auf. Dessen ungeachtet schwieg er und gab auf die Fragen des Kommissars feine Antwort. Da er die gespaltenen Lippen nicht mehr zusammenkneifen konnte,
holung beschloß ich, heimwärts zu lenken, soweit dies Wort für einen Flüchtling noch einen Sinn hat.
An der Bahnhofstraße gab es zum Unheil Häuser mit elektrischen Türöffnern und ich trabte mit dem Entschluß der Verzweiflung weiter, trabte im wahrsten Sinn des Wortes, und jeder Tritt hatte einen merkwürdig flatschen= den Nachhall. Ein Blick überzeugte mich, daß die Sohlen sich bis zur Hälfte verschoben hatten und die Schuhe frappant an Entenfüße, Schwimmfüße erinnerten. Eine Revis sion dieses Zustandes war ohne Aufsehen unmöglich. Augenblick des Starts ein Dienstmann . Der schwere Koffer auf seiner Schulter drückte meinen Oberkörper zur Seite, zugleich fühlte ich mich an den Füßen gefesselt. Der Mann brummte etwas, einen Fluch oder eine Entschuldigung. Als er vorüber war, schwankte ich wie ein entwurzelter Baum. Unglück ahnend sah ich nach meinen Schuhen. Eine Schwimmhaut war verschwunden. Ich suchte sie vergebens ringsum und sah nur noch im letzten Augenblick an den mächtigen Stiefeln des Dienstmanns ein dunkles unorganisches Etwas von fernher grüßen. Dann trabte ich weiter über den Plazz
Als ich den Platz überqueren wollte, rammte mich im
zu einer allgemeinen Zufluchtsstätte. Sie war ayetten
leichterung leer. Dort riß ich die wenigstens zur Hälfte treugebliebene Dauersohle" herunter und versenkte sie in Zeitungspapier gewickelt in die Tasche. Der Notbehelf hatte versagt.
Ich konnte mich in der Folge nicht entschließen, die verbliebene Sohle wegzuwerfen. Ein Kamerad erbat sie, um Absatzschoner daraus zu machen. Damit nichts umkomme! Orlov Kristen.
Das Schicksalsauto von 1914
Das Auto mit der schicksalsschwersten Vergangenheit, das berühmteste Auto der Welt, dient jetzt als Kraftdroschke in Jezero, einem kleinen Ort in Bosnien . In ihm wurde der Erzherzog Franz Ferdinand , der Thronfolger Defterreichs, und seine Gemahlin am 28. Juli 1914 in Sarajewo erschossen, nachdem schon wenige Minuten vorher eine Bombe auf den Rücksitz geworfen worden war. Es ist das Auto, das indirekt zur Entfesselung des Weltkrieges beitrug. Nach der Mordtat erlebte es ein wechselvolles Schicksal. Nach dem Kriege, nachdem es längst aus dem Dienst bei den Behörden entlassen war, wurde es in allen Großstädten ausgestellt, dann aber entdeckte man, daß es durchaus noch leistungsfähig war. Es wurde vollkommen überholt und neu lackiert und hat viele Jahre schlecht und recht verschiedenen Besitzern zur vollen Zufriedenheit gedient. Jetzt ist es in den Besitz eines bosnischen Tarichauffeurs gelangt, der nicht wenig erstaunt war, als er von der Geschichte des Wagens erfuhr, dem man noch heute sein für ein Auto geradezu sagenhaftes Alter nicht ansieht. Erst als man ihm unter dem Lack das Wappen des Hauses Habsburg zeigte, glaubte er an die Behauptung des Geschichtsforschers, der nach langen Ermittlungen endlich diesen Wagen finden konnte. Am Rücksiz sind die Beschädigungen durch die Bombe noch deutlich zu erkennen und an der rechten Seite ist die Einschußöffnung der Kugel zu sehen, die den Tod des Erzherzogs verursachte.
SAMSTAG, DEN 28. OKTOBER 1933
Machi 18 Jahren
das Gedächtnis wiedererlangt
Preßburg . Eine nicht alltägliche Geschichte spielte fich is den letzten Tagen an der österreichisch- tschechoslowakischen Grenze ab. Der 54jährige Bauer Adam Janoschik war im Jahre 1915 zum Kriegsdienst eingerückt und etwas später in die russische Gefangenschaft geraten. Durch einen Schrapnellschuß verlor er das Gedächtnis. Er wußte nicht anzugeben, wer er sei, wie er heiße, er wußte sich nicht an seine Familie und seine Vergangenheit zu erinnern. Janoschik wurde später an Desterreich ausgetauscht und lebte mehrere Jahre
an der tschechoslowakischen Grenze in Kittsee , wo er sich als Arbeiter verdingte. Vor wenigen Tagen kehrte plößlich sein Gedächtnis zurück. Er erinnerte sich seines Namens, seiner Familie und seiner Heimatgemeinde. Daraufhin suchte Janoschik den erstbesten Grenzposten auf und bat, seine Frau in Zborow in der Slowakei zu verständigen. Es wurde feſtgestellt, daß Janoschik seinerzeit für tot erklärt worden war und von seiner Familie betrauert wurde. Seine Frau wurde sofort verständigt. Sie tam sofort nach Kittsee , wo sie ihren Mann wiedererkannte, obwohl er stark gealtert war. Die Grenzbehörden ließen Janoschik sofort ohne Papiere über die Grenze in seine Heimat. Endlich hat der Unglückliche nach fast zwei Jahrzehnten wieder zu sich selbst gefunden.
Was nicht im Lesebuchi stefit
Mein Glaube an die Regierenden ist im großen und ganzen minimal; mein Glaube an die Regierten ist im großen und ganzen unbegrenzt.
Charles Dickens ( Speechen , 309) Das Reich des Geistes ist ein heiteres und freies, daß in thm eher der Mißbrauch sei als die Fessel.
darf den Menschen stören, wenn er sich ein Weib
in der Ehe verbindet.
Adalbert Stifter Menschenblut schreiet zu Gott, und ein Eroberer hat keine Ruhe. Matthias Claudius .
Nur in tyrannischen Staaten können geheime Ver bindungen löblich sein. Bis jetzt dürfen sich die Gleichge sinnten noch öffentlich die Hand reichen, und wir wollen hoffen, die Gutgesinnten machen einen Teil der Nation aus, der nicht so gering ist, um sich verstecken zu müssen.
August Graf von Platen
Welcher Nation ist das öffentliche Urteil, laut ausge sprochene Ehre und Schande, offene Gewalttätigkeit, unbes fugtes Unrecht, schamlose Niederträchtigkeit und dummfrecher Frevel Frevel welcher Nation sind diese öffentlichen Mißhandlungen und Missetaten gleichgültiger als der deutschen?
Es ist nicht das Geld, das ein Land bereichert, sondern der Geift, ich meine den Geist, der die Arbeit organis fiert. Der beste Staat ist der, der die geringste Ans zahl von unnügen Menschen enthält.
Boltaire
preße er die Zähne aufeinander, um dem Kommissar seinen schleppten ihn wie Jesus Christus nach der Kreuzabnahme. unerschütterlichen Willen zu zeigen.
Eines Abends kam auch ich in ein Sonderverhör. Ich wurde in einen Keller geführt, auf eine Holzbank geworfen und mit auf den Rücken gelegten Armen mittels Lederriemen gebunden. Dann war es, wie wenn ein Feuerregen niederfiele, wie wenn mir der Rücken aufgerissen und Feuer hineingesteckt würde. Wie wenn ich in einen endlosen Abgrund stürzte... Als ich wieder zu mir kam, sah ich Blut aus meinem Munde fließen und langsam von der Bank heruntertropfen. Ich leckte es mit der Zungenspitze auf und schluckte es hinunter; so sehr brannte mein Schlund.
Am folgenden Tag wurde der Avezzaner freigelassen. Berardo und ich kamen wieder in die gleiche Zelle, zusammen mit irgendeinem X, der ganz nach Spizel aussah. Ich raunte das Berardo ins Ohr, aber er antwortete:
,, Das ist mir ganz gleich. Ich habe alles, was ich zu sagen habe, bereits gesagt."
Aber als ich ihm mitteilte, daß der Avezzaner in Freiheit war, sagte er voller Freude:
,, Endlich! Du ahnst nicht, wie wichtig dieser Bursche für uns Cafoni ist. Ihn aus den Händen der Regierung befreit zu haben, ist ein großes Glück Aber jetzt müssen wir zusehen, hier herauszukommen... Dieses Spiel verliert seinen Sinn, wenn es zu lange dauert."
Dieses Spiel zu beginnen, war leicht gewesen, es zu beenden sollte sehr viel schwerer werden.
Als Berardo dem Kommissar sagte, seine erste Aussage sei nur ein Wit gewesen, begann dieser zu lachen und schickte ihn in die Zelle zurück mit den Worten:„ Entweder du ge= stehst alles, was du weißt, oder es nimmt ein schlimmes Ende."
Am gleichen Abend hatte Berardo wieder ein Sonderverhör. Diese Verhöre hatten etwas Wildes an sich, denn Berardo verteidigte sich. Er konnte keinen Schlag erhalten, ohne ihn zurückzugeben. Um ihm Arme und Beine zu binden, brauchte es acht bis neun Polizisten. Eines Abends tat er, als wolle er sich diesmal widerstandslos foltern lassen. Wäh rend ein Mann versuchte, ihm einen Strick um die Knie zu wickeln, fiel er über diesen her und packte ihn mit den Zähnen so fest beim Genick, daß die andern Polizisten Berardo auf die Kinnbacken schlagen mußten, damit er seine Beute los ließ... Endlich brachten sie ihn in die Zelle zurück; sie hielten ihn unter Schultern und Beinen und
„ Er ist draußen und ich bin hier," sagte Berardo am folgenden Tage.„ Im Grunde ist auch er ein Städter... Gr freut sich jetzt seines Lebens und ich stehe hier... Ich bleibe hier und laß mich für ihn umbringen... Warum kann ich nicht alles erzählen?... Alles, was du weißt, alles, was du ahnst und dazu noch die Dinge, die du nicht weißt und noch
weniger ahnst?"
Der Häftling, den wir für einen Spizel hielten, hörte mit großem Interesse zu.
Als wir neuerdings vor den Kommissar geführt werden follten, wußte ich nicht, ob Berardo gut daran tat, alles, was er vom Avezzaner gehört hatte, zu berichten oder ob er damit nur noch schlimmer machte.
,, Seid ihr bereit, alles zu gestehen?" fragte der Kommiffar. " Ja," antwortete Berardo.
Der Kommissar hielt ihm ein Flugblatt hin. In großen Buchstaben stand darüber:„ Es lebe Berardo Viola ." " In dieser Zeitung," sagte der Kommissar, in dieser geheim gedruckten Zeitung stehen viele Einzelheiten über die Behandlung, die euch die Polizei, ganz zu Recht, vom Tag eurer Inhaftierung bis heute hat angedeihen lassen... Nach dem ihr bereit seid, alles zu gestehen, beginnt damit, wie ihr diese Nachrichten von der Zelle aus an die Zeitung befördert
habt..."
Berardo antwortete nicht.
" In dieser Zeitung," fuhr der Kommissar fort, ist viel von Fontamara die Rede.
Man schreibt von der Verlegung eines Wasserlaufs... von einem Tratturo... von der Frage des Fucino... vom Selbstmord eines gewissen Teofilo... vom Tod einer ge wissen Elvira... und von ähnlichen Dingen. Es ist klar, daß nur ein Fontamarese solche Artikel schreiben konnte... Erklärt, wie ihr diese Artikel aus eurer Zelle zu der Zeitung geschafft habt?..." Berardo antwortete nicht. Wie hypnotisiert starrte er auf das Blatt, das der Kommissar ihm vorgelegt hatte und in tn dem sein Name und der Name Elviras stand, auf dem großen Buchstaben stand:
„ Rede endlich!" bohrte der Kommissar. " Unmöglich, Herr Kommissar!" gab Berardo ruhig zur Antwort. Jest will ich lieber sterben..."
( Fortsetzung folgt)