JUSTIO TO

Freiheil

Nummer 126-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Donnerstag, 16. November 1933 Chefredakteur: M. Braun

10010

Lateinschrift?

Ja oder Nein? Vielfach ist der Wunsch geäußert worden, unsere Zeitung in Antiqua­schrift zu setzen. Um unseren Lesern die Möglichkeit zu geben, selbst zu. entscheiden, ob sie diese Aenderung wünschen, werden wir von heute ab für einige Tage unsere Beilage Deutsche Stimmen" in Antiqua­schrift bringen. Wir bitten um mög lichst viele Meinungsäußerungen aus unserem Leserkreise und von unseren Verkäufern, ob sich der Uebergang zur Antiquaschrift für die Zeitung empfiehlt.

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Die geheime Anklageschrift

Die Oberreichsanwaltschaft ohne Schuldbeweis gegen die angeklagten Kommunisten

Bod dunyando

Dic Anklage cin juristischer Skandal

Bor uns liegt eine Abschrift der bisher unver öffentlichten Anklageschrift in der Strafsache gegen van der Lubbe und Genossen 15 J 8633, also des amtlichen Anklagematerials zum Prozeß gegen die Reichstagsbrandstifter. Wir fennen auch den Weg und die Methode, die es ermög lichten, in den Besitz der Anklageschrift an tommen. Es ist anerkennenswert, wie tapfer Freunde des Rechts sich um die Beschaffung der Auflageschrift bemüht haben. Fragt man aber, ob das Ergebnis die Gefahren lohnt, so kommt man zu einem Nein". Diese Anklageschrift ist nur an sehr wenigen Stellen der Veröffentlichung wert. Es ist eine in jeder Beziehung minder­wertige Arbeit, tief unter jeder juristischen Durchschnittsleistung. Man darf hinsichtlich der Zengenaussagen keinerlei Sensationen mehr er= warten. Ban der Lubbe leugnet jeine Beteiligung an der Tat nicht. Für die Schulb ber übrigen Angeklagten aber bringt die Anklageschrift nicht den Schatten eines Beweises vor. Sie führt dieselben friminellen oder nationalsozialistischen Zeugen vor, die nun seit Monaten schon das deutsche Reichsgericht und die gesamte deutsche Recht: fprechung bloßstellen. Die Anklageschrift ist genan so armselig und willkürlich konstruiert wie der ganze bisherige Prozeßverlauf.

Hochverrat und Brandstiftung Sämtlichen Angeflagten wird vorgeworfen

a) unternommen zu haben die Verfassung des Deutschen Reiches gewaltsam zu ändern; b) vorfäzliche Brandstiftung, und zwar in der Absicht, Aufruhr zu erregen. Herangezogen werden die 88 des StGB. 81 Nr. 2, 82, 306 Nr. 2 und 3, 307 Nr. 2, 308, 43, 47, 73.

Es handelt sich um die Paragrafen des Hochverrats und der Brandstiftung. ferner des Versuchs, ein Ver­brechen oder Vergehen zu verhüten und der gemein­schaftlichen Ausführung.

Außerdem ist der§ 5 der Verordnung zum Schutze bon Staat und Volt vom 28. Februar 1933 und der§ 1

Die Nazi- Prahlhänse

Sämtlichen in Saarbrücken erscheinenden Zeitungen geht folgende

Amtliche Bekanntmachung

Bus

Gelegentlich der Kundgebung am Niederwald hatte das Organisationskomites anfänglich eine Zahl von 64 Sonderzügen nach Rüdesheim vorgesehen. Nach Feststellung der tatsächlich gelösten Fahrkarten konnte die Beförderung

der Teilnehmer

Auf 42 Züge eingeschränkt werden.

In den letzten Tagen des Monates September wurde die Eisenbahndirektion von der Leitung der NSDAP . benachrichtigt, daß die für Mitte Oktober in Beurig­Saarburg vorgesehene Kundgebung die Einlegung von ungefähr 30 Sonderrügen nötig mache. Am 10. Oktober waren nur 16 500 Fahrkarten gelöst, wodurch für die Hinfahrt die Einlage von 15 Zügen und für die Rückfahrt 13 Züge erforderlich

geworden wären.

am

Am 13. Oktober teilte der Chef der Propaganda mit, daß nur noch ein Zug Samstag und 4 Züge am Sonntag in Frage kämen. Die 4 Sonderzüge nach Saarburg , die für den Sonntag vorgesehen waren, wurden auf Verlangen der

Antragsteller Bicht gefahren.

des Gesetzes über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 herangezogen.

Die erst genannte Verordnung bestraft Hochverrat und Brandstiftung mit dem Tode. Die zweite Verordnung ermöglicht den Galgen für die Verurteilten.

Anerkennung für Dimitroff

Ueber Dimitroff, der schon in der Anklageschrift als der intelligenteste und gefährlich ste der drei Bulgaren bezeichnet wird, erfährt man, daß er in Bulgarien das Real­gymnasium bis Untertertia besucht hat, dann Lehrling in einer Druckerei war, als deren Chef der spätere Minister­präsident Radolslawoff bezeichnet wird. Dimitroff war eine Reihe von Jahren Schriftsezer, dann Sekretär der bulgari­schen Gewerkschaften, nach dem Weltkriege wurde er Kommu­nist. Er begann seine internationale Laufbahn. Im Sep­tember 1923 nahm er führend an dem Aufstand in Bulgarien teil, die Bewegung wurde niedergeschlagen. Seitdem lebte Dimitroff in mehreren Ländern im Exil.

Flugblatt und Mitgliedsbuch

Die Anklagefchrift erwähnt kein Wort davon, daß van der Lubbe in der Brandnacht oder später Verbindungen mit der Sozialdemokratie zugegeben habe. Die amtliche Lüge des meineidigen Ministerpräsidenten Göring , auf die er die Unterdrückung der gesamten sozialdemokratischen Presse stützte, ist also schon in der Anklageschrift preisgegeben worden. Selbst der gewiß nicht empfindliche und von klein­lichen Bedenken angefränfelte Untersuchungsrichter scheute sich, eine so unsinnige Behauptung zu übernehmen. Dagegen sagt die Anklageschrift, daß van der Lubbe bei seiner Festnahme das jetzt in dem Hauptband I, Hülle Bl. 54 befindliche Flugblatt" Auf zur Einheitsfront der Tat" bei sich hatte". Festgenommen wurde van der Lubbe von dem Polizeibeamten Poeschel, der ausdrücklich unter seinem Eid und gegen ihn liegt nicht der Beweis, nicht ein­mal der Verdacht des Meineids wie gegen seinen Minister­präsidenten vor ausgesagt hat, daß van der Lubbe kein Flugblatt bei sich hatte. Wo dieses Flugblatt herkommt, bleibt also ungeklärt. Während des Prozesses ist es bisher in seiner Hülle ges blieben.

-

Wir erinnern uns nicht, daß in irgendeinem Prozeßbericht die Verlesung dieses Flugblattes erwähnt worden wäre oder daß sich das Gericht die Mühe gemacht hätte, den Ursprung dieses Flugblattes festzustellen. Nicht behauptet wird in der Anklageschrift, daß van der Lubbe ein Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei bei sich getragen hätte. Auch diese Lüge des preußischen Ministerpräsidenten ließ sich für die An­flage nicht verwerten.

Die Brandstiftung war vorbereitet

Man erfährt aus der Anklageschrift, daß van der Lubbe, um sein Tun nur recht auffällig zu machen, schon vor dem Zer­trümmern der Fensterscheiben und vor dem Einsteigen die Kohlenanzünder in Brand gesteckt hat. Die Sach­verständigen Professoren Josse, Dr. Wagner und Ge­richtschemifer Dr. Schatz haben schon in der Untersuchung dargelegt, daß van der Lubbe nicht der alleinige Brandstifter sein kann. Der Brand im Plenarsaal müsse von mehreren Personen sachgemäß vorbereitet worden sein. Gerichts­chemiker Sch as hat sich nach der Anklageschrift dahin ge­äußert, daß wahrscheinlich Petroleumderivat, ent­weder Leuchtpetroleum oder Schwerbenzin, ver­wendet worden sei. Das mit diesen Flüssigkeit getränkte Material sei im Saal verteilt und mit 3ündschnüren oder Filmstreifen, wahrscheinlich mit diesen letzteren, in Brand gesetzt worden. Schatz ist der Ansicht, daß auch im Stenografenraum ein besonderer Brandherd gewesen sei.

Am Abend des 2. 11. 1933 ging bei der Eisenbahndirektion eine schriftliche Bestellung für 8 Züge mit zusammen 7425 Personen ein. Einer der bestellten Züge mußte im Hinblick auf die Anzahl der angemeldeten Der unterirdische Gang Reisenden in 2 Züge zerlegt werden. Andererseits wurde einer der 3 ab Saar­ brücken bestellten Züge nicht in Anspruch genommen, was der Eisenbahnverwal tung erst unmittelbar vor der Abfahrtszeit des Zuges mitgeteilt wurde. Befördert wurden in den 8 Zügen insgesamt rund 5 600 Reisende. Diese ständigen Aenderungen der Anträge durch die Antragsteller zeitigen Belbstverständlich ernste Unzuträglichkeiten. Sie haben unnütze Arbeiten und Ausgaben im Gefolge. Um diesen Unzuträglichkeiten zu begegnen, wird die Eisenbahndirektion künftig in allen Fällen, in denen es sich um mehr als 4 Züge

bandelt.

von

dem tarifarischen Recht Gebrauch machen, die Bestellung

abzulehnen, wenn nicht 8 Tage vorher Strecke, Zeit, Wagenklasse und ungefähre Zahl der Reisenden bekanntgegeben wird. Ebenso wird für die Ver­Kangenheit wie auch für die Zukunft bei Nichtinanspruchnahme bestellter Züge in allen Fällen von dem Rechte Gebrauch gemacht, daß der Besteller die bereits erwachsenen Kosten 28 sahlen hau

Der preußische Ministerpräsident Göring hat ausgesagt, daß nach seiner Meinung die Täter den unterirdischen Gang zum Hause und Garten des Reichstagspräsi denten benutzt haben. Die Anflagefchrift aber bezeichnet das als ausgeschlossen. Die Türen zum unterirdischen Gang seien fest verschlossen gewesen. Wenn die Täter durch den Gang entfommen waren, hätten fie also genaue Renntnis der Dertlichkeit haben und sämtliche Türen aufschließen und wieder verschließen müssen. Be aller Unglaubwürdigkeit des preußischen Ministerpräsidenten ist bedauerlich daß der Gerichtshof io wenig der Vermutung Görings Beachtung schenft.

Der eilige Nationalsozialist

Zu den vielen unrichtigen Angaben der Anklageschrift ge. hört auch die Behauptung, daß Torgler und Koenen die beiden einzigen Abgeordneten gewesen seien, die sich an dem Abend des Brandes im Reichstag aufgehalten hätten. Inzwischen ist festgestellt, daß der nationalsozialistische Abge­ordnete Dr. Albrecht erst gegen 10 Uhr das Haus verlassen hat. Nach seinen Angaben ist er freilich erst in den Reichstag gerannt, als er hörte, daß das Gebäude brenne. Es haben ihn zwar Zeugen aus dem Hause eilen sehen, bisher aber hat niemand bezeugt, wann er den Reichstag betreten hat. Der fommunistische Abgeordnete Torgler , der vor der Ent­deckung des Brandes den Reichstag verlassen hatte, sitzt seit 9, Monaten in Haft, davon 5 Monate in Fesseln. Der natio= nalsozialistische Abgeordnete, der Brandes, fluchtartig" das Haus verlassen hat, befindet sich aber während des nicht nur in Freiheit, der Untersuchungsrichter hat ihn nicht einmal beachtet. Und erst die Pressekritik hat die Verneh­mung des Dr. Albrecht erzwungen.

Logische Purzelbäume

An einer Stelle wird gesagt: Wahrscheinlich sind am Nach mittag die letzten Einzelheiten der Brandlegung besprochen worden." Einige Seiten weiter aber wird gesagt, daß dafür, daß van der Lubbe Torgler schon früher ge­kannt hätte, feinschlüssiger Beweis erbracht" sei. Man stelle sich vor: Der Untersuchungsrichter selbst be­zweifelt, daß Torgler van der Lubbe jemals gesehen hat, und nun soll der kommunistische Führer der Reichstagsfraktion sich in einen belebten Raum des Reichstags jetzen, um mit einem bis dahin wildfremden Menschen die Brandstiftung des Reichstagspalastes zu besprechen.

Das ist alles!

Oberreichsanwalt Werner und Untersuchungsrichter Vogt, die die Geschmacklosigkeit hatten, sich vor dem Reichs­gericht mit der Ehre des deutschen Richtertums zu brüsten, müssen in dem schändlichen Machwerk, das sie eine Anklage­schrift nennen, in dürren Worten zugeben, daß gegen Dimi troff nicht der geringste Schatten eines Beweises für die Be­teiligung an der Brandstiftung vorliegt. Man weiß, daß Dimitroff wie Torgler 5 Monate. Lang in Ketten gelegen haben. Man erinnert sich, wie Dimitroff immer wieder, wenn er sein Recht wahrt, aus dem Saal befördert wird, wie der preußische Ministerpräsident diesen Mann Verbrecher und Gauner beschimpft, wie er ihn mit dem Galgen und mit dem Totschlag bedrohte! Nun wohl, was hat die Anklage diesem Bulgaren vorzuwerfen: Nichts! Sie behauptet lediglich ins Blaue hinein, wir zitieren wörtlich:

" Daß Dimitroff an der Vorbereitung in irgendeiner Weise mitbeteiligt gewesen ist, sei es auch nur in der Form, daß er durch Beratung oder psychische Einwirkung die Tat der anderen Beteiligten gefördert und ihren Täterwillen ge ftärkt hat."

Das ist wörtlich alles. Darauf wagt die deutsche Justiz die Freiheitsberaubung, die Fesselung, die Mißhandlung, die Aechtung, die Bedrohung eines Ausländers durch die höchsten Beamten des Landes zu stützen! Es ist eine Schmach für Deutschland !

Die Weltrevolution in Seidenberg

In einem besonderen Teil der Anklageschrift werden die hochverräterischen Bestrebungen der Kommunistischen Partei behandelt und ihre wiederholten Aufstände. Aber der letzte Aufstand liegt 10 Jahre zurück: Hamburg 1923. Von da ab hat die Anklageschrift nur noch sehr dürftiges Material. Nebenher freilich widerlegt sie in einem einzigen Satz die eidlichen Aussagen der Minister Göring und Göbbels , die behaupten, daß die bolichemistische Gefahr im Februar riesengroß gewesen sei und wir unmittel bar vor kommunistischen Aufständen uns befunden hätten. Die Anklageschrift straft die beiden Bolschewistentöter Lügen, indem sie sagt, daß im Jahre 1933 durch die neue Regierung ein energischer Kampf gegen die Kommunisten geführt worden sei, der in Deutschland allenthalben bei der ordnungsliebenden Bevölkerung lebhaften Widerhall" gefunden hat. Wer da glaubt. daß der Untersuchungsrichter fich die Mühe gemacht hätte, dokumentarisches Material für hochverräterische Aktionen der Kommunisten heranzuziehen, täuscht sich.

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