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Freiheit

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Nummer 136-1. Jahrgang Saarbrücken , Mittwoch, den 29. November 1933

Chefredakteur: M. Braun

Deutsche Monarchie

Sehnsucht und Hoffnung der Konservativen

Ein Aufsatz des ,, Manchester Guardian"

Das große englische Blatt schreibt unter der Ueberschrift Die Konservativen":

Ungleich den Nazis waren die Konservativen die Tradi­tionalisten. Sie waren mehr den Gewerkschaften verwandt als den Nazis. In der Tat ist der Unterschied zwischen dem alten Preußen der Hohenzollern und dem Preußen der Re­ publik geringer als der Unterschied zwischen dem Preußen der Republik und dem heutigen Nazi- Preußen. Aber in tbrem Kampf gegen die Linke verbündeten sich die deutschen Ronservativen mit den Nazis, ohne zu bedenken, daß der Razistaat, einmal etabliert, Konservative, Liberale und Srzialisten gleichermaßen verschlucken würde. Sie waren so an die Ausübung der Macht gewöhnt und sie waren macht­voll selbst in der Republik , daß fie, ohne weiter nachzu­denken, annahmen, sie würden, sei erst einmal Hitler der Sieger, so die Oberhand bekommen, wie sie sie einft vor der Revolution besessen hatten. Eine Demokratie ist keine Demo­tratie, wenn sie nicht eine konservative Bewegung umfaßt, roie umgekehrt, eine Diktatur, fie mag faschistisch oder fom= munistisch sein, weder liberal noch konservativ sein kann. Die deutschen Konservativen haben mit dem Dulden des Nieder­werfens der Demokratie durch die Faschisten ihr eigenes Ende herbeigeführt.

Einiges Einsehen kam ihnen in den letzten Monaten vor der Diktatur. Sie waren bereit, sich mit den Gewerkschaften gegen die Nazis zu verbünden. Aber da war es zu spät.

Die Stahlhelmführer

Was ist nun aus ihnen geworden? Was denken und fühlen sie über die Zerstörung, die fie felbft mit herbei­geführt haben?( In der Tat wäre die Diftatur ohne ihre Hilfe nicht möglich gewesen.) Viele von ihnen akzeptieren die Diktatur, nicht nur nach außen, sondern auch aus innerer Ueberzeugung. Nicht so diejenigen der deutschen Konserva­tiven, die den Traditionen des alten Preußentums treu ge­blieben sind. Was sie denken, offenbart sich in zwei neuer­lichen Dokumenten, in welchen das feinste und ehrlichste Denken und Fühlen einen tragischen Ausdruck findet. Diese Dokumente sind von größtem Interesse, nicht nur aus diesem Grund, sondern auch weil sie die Diftatur und ihre Methoden in lebhafter und eindringlicher Art und Weise beleuchten. In der Tat zeigen die konservativen Autoren eine weit tiefere Einsicht in die Nazibewegung als irgend einer der fozialistischen oder kommunistischen Schreiber, die sie mit so verständnißloser, wenn auch berechtigter Wut angreifen.

Diese Dokumente sind Briefe zweier Führer des Stahl­helms, der militanten Organisation der deutschen Konser­vativen, die vergeblich versucht hat, die soldatische Tradition des alten Preußens zu erhalten.

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Viele der hochdenkenden Stahlhelmführer sind erfüllt mit tiefem Pessimismus fie vergleichen die internationale Page Deutschlands von heute mit jener der Jahre, die dem großen Krieg unmittelbar vorangingen. Und was Krieg ist, das wissen sie viel besser als die Braunhemden, von denen nur wenige ie aktiven Dienst getan haben, während der Stahlhelm hauptsächlich aus ehemaligen Soldaten besteht. Viele von ihnen und mit ihnen eine wachsende Zahl deutscher Konservativer, die nicht dem Stahlhelm angehören die vor einigen Monaten noch Hitler unterstützt haben, find heute über die Katastrophe entsetzt, die über ihr Land gefommen ist, sind erschüttert über die barbarischen Methoden der Diktatur, sind erschreckt von der in Deutsch­ land herrschenden Rechtlosigkeit, und sind voller Kummer über den fast vollkommenen Rusammenbruch alles dessen, was gut war an der deutschen und besonders an der Preußischen Sivilisation.

Die einzige Hoffnung

Manche Beobachter Deutschlands behaupten, daß das wahre Deutschland " endlich sich thüllt, daß Deutschland fich selbst gefunden" habe. Eine solche Behauptung wird nicht geteilt von deutschen Konservativen, die so echt deutsch " find, wie irgend jemand und die mit einem Deutschland vers bunden waren, das ohne jeden Zweifel echt" war, obwohl es jetzt untergeht. In einer unwissenschaftlichen Raffenlehre, erfunden von einem Franzosen, Graf Gobineau , populari­fiert durch einen Engländer, Houston Stewart Chamberlain. tönnen sie weder fich selbst noch das wahre Deutschland " finden. Sie, die felbft feit den Tagen der Deutsch­Ordensritter als die Verteidiger der Zivilisation gegen den öftlichen Barbarismus betrachten, die feit der Reformation gefürchtete Kämpfer für den protestantischen Glauben waren, die immer nordischen Realismus und Strenge hochgehalten heben gegen die Theatralit, die Sensation und die Opern­baftigkeit, fie können nichts von all dem entdecken, wofür fie lets einstanden, in einem Despotismus, der seine Ideen aus

dem faschistischen Italien bezieht, seine Methoden aus dem bolschewistischen Rußland und ausgeübt wird von einem österreichischen Erweckungsprediger.( Man könne sich nichts Unpreußischeres als Hitler vorstellen.)

Die Schreiber der beiden Briefe können nicht namentlich genannt werden, weil die Konzentrationslager der Diktatur nicht nur für Juden und Marristen" reserviert sind. Es muß genügen, wenn gesagt wird, daß die Schreiber ein­flußreich find, soweit von Einfluß in einer Organisation gesprochen werden kann, die, wie der Stahlhelm, von den Nazis zerbrochen, gedemütigt und halb aufgesaugt wurde. Ob ihr Glauben und ihre Meinung, die sie mit großer innerer Festigkeit aufrechterhalten, irgendeine Chance auf Lebensfähigkeit in Hitlers drittem Reich" befizen, das kann allein die Zukunft zeigen. Ihre Hoffnung, soweit sie noch Hoffnung haben, liegt in einer konstitutionellen Monarchie, die mit Hilfe der regulären Armee und des Stahlhelms die Herrschaft des Gesetzes wiederherstellen würde und retten, was von den Trümmern der deutschen Zivilisation noch zu retten ist. Insoweit als irgend ein organisierter Versuch ( und unter dem Terror der Diktatur sind solche Versuche ebenso schwierig wie sie gefährlich find) zur Verwirklichung derartiger Hoffnungen gemacht wird, dienen die beiden Briefe, die unter den vertrauenswürdigsten Stahlhelm­führern umlaufen, als eine erste informelle Direktive oder als eine Vorlage fünftiger Diskussionen. Es ist deshalb nicht ganz ausgeschlossen, daß eine gewisse historische Bedeutung ihnen über das Interesse, das sie an und für sich haben, zu= zumeffen ist.

Wir werden die beiden Stahlhelm- Briefe nachtragen,

Merksie was?

Aus dem Inhalt

Aussichten für Chautemps

Seite 2

De. Sack protestiert Seite 3

Deutsche Kaufkraft

Seite 4

Reichskanzler

gegen Bundeskanzler Seite 5

Inseratenteil beachten!

Gefängnis für Ruhrkaplan"

Staatsanwalt beantragt ein Jahr drei Monate 6 Monate.

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Urteil

In Essen wurde der katholische Kaplan Dr. Klinkham­mer wegen Beleidigung des Reichskanzlers und Störung des politischen Friedens zu sechs Monaten Gefäng nis verurteilt. Dr. Klinkhammer war während der mehr­tägigen Verhandlungsdauer auf Antrag des Staatsanwalts vorläufig in Haft genommen worden.

Die Verurteilung Dr. Klinkhammers, der unter dem Namen Ruhrkaplan" früher in der Hauptsache für die kirchlich soziale Arbeit tätig war, erfolgte wegen Aeußerun gen, die er in Predigten am 12. März und 20. April d. J. in einer Abendandacht zur Feier des Geburtstages

des Reichsfanzlers getan hat. Das Urteil lautete auf Vergehen gegen§ 130 a StGB. ( sogenannter Kanzel­paragraph) in Tateinheit mit Vergehen gegen§ 3 der Not­verordnung des Reichspräsidenten vom 21. März 1983. Der Staatsanwalt hatte ein Jahr drei Monate Gefängnis be= antragt. Die Untersuchungshaft wird angerechnet, ein Haft­befehl abgelehnt, jedoch wird die Schußhaft, in der sich Dr. Slinkhammer seit Freitag voriger Woche wieder befindet, aufrechterhalten.

In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, daß nach der Beweisaufnahme der Angeklagte Angelegenheiten des Staates auf der Kanzel erörtert und den öffentlichen Frieden gestört haben. Auch habe die Beweisaufnahme ergeben, daß die Aeußerungen auf die Zuhörenden in einer Form wirken mußten, wie es in der Anklage behauptet wurde, denn der Angeklagte habe nicht vor Gelehrten und Philosophen, sondern vor einfachen Arbeitern gesprochen. Bei der Strafzumessung sei zu berücksichtigen, daß dem Angeklagten als Geistlichem und Seelsorger große Verantwortung auerlegt sei und seine Worte auf den 3u­hörerkreis besonders eindringlich hätten wirken müssen. Es könne keine Rede davon sein, daß der Angeklagte ein Opfer feines geistlichen Standes geworden sei, denn er ſtebe nicht als Geistlicher unter Anklage, sondern weil er gegen das Gesetz verstoßen habe. In ähnlichem Sinne hatte sich euch der Staatsanwalt in Erwiderung von Ausführungen der Verteidiger dahin geäußert, daß er keineswegs die Staats­treue der Katholiken generell in Zweifel gezogen habe, daß überhaupt der Angeklagte nicht wegen seines geistlichen Stan des, sondern lediglich wegen seines strafbaren Vergehens vor Gericht stehe. Die Staatsraison dulde keine unterschiedliche Behandlung.

Soweit der gleichgeschaltete Bericht. Die katholischen Ar­beiter an der Ruhr werden das Urteil anders empfinden: als die Nache des Systems gegen einen der wenigen aufrechten Priester und als Drohung, sich auch religiös der Gewalt des Diktaturstaates zu fügen.

Bollwerk Schweiz

Schlag auf Schlag kommen die Meldungen über fozialistische Siege aus der Schweiz . Basel , Zürich , Neuenburg , Lausanne und am legten Sonntag Genf sind die großen Stationen des neuen sozialistischen Aufstiegs. Eine Reihe von Wahlen in fleineren Orten vervollständigt das Bild. Ueber die Hintergründe dieser Wahlerfolge wird uns aus Zürich geschrieben:

Die Antwort der Schweiz auf das Erstarken der faschi stischen Strömungen in der Umwelt, auf den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und auf die faschisti­schen Borstöße in Oesterreich ist die Wendung zur Sozialdemokratie. In den bürgerlichen Parteien erstarken zugleich die Gegner der antimargistischen Ein­heitsfrontpolitik mit den Faschisten.

Hand in Hand mit dieser innenpolitischen Entwicklung zur demokratischen Selbstbehauptung geht die Erstarkung der kulturellen Gelbstverteidigung. Sie äußerst sich vielleicht weniger stürmisch, aber deswegen nicht minder deutlich.

Je stärker in Deutschland die völkische und Rassenidee betont wird, um so kräftiger erkennt die Schweiz ihre besondere Mission in der Vereinigung gleich berechtigter völkischer Gruppen zu einer Nation beson deren Gepräges. Jhre Grundlage ist nicht die Sprach oder gar eine mystische Blutsgemeinschaft, aber dafür eine durch nichts wegzudeutelnde Charakterverbundenheit, die auf jahrhundertelanger Schicksalsgemeinschaft beruht. Die bäuerliche Selbstverwaltung, von der die Geschichte der Schweiz ausgeht, hat nicht nur die Politik des Landes geformt, sondern auch den Geist der Eidgenossenschaft. Die heroischen" Jdeale des dritten Reiches" sind dem Schweizer schlechthin fremd. Für die Schweiz gehört die Ablehnung zentralistischer Jdeen, wie sie dem Faschismus zu eigen sind, zu ihrem Wesen. Faßt der Faschismus alle Kräfte des Volkes straff zusammen, um es als nationale Einheit dem Feind entgegenzuwerfen, so ist die mit der