zur

Ereignisse und Geschichten

Deutsche   Stimmen. Beilage zur Deutschien Freifieit".

Mittwoch, den 10. Januar 1934

ittwoch, den

Vom Schmerz und von der Vernunft

Zwei Generationen deutscher   Jugend für das Deutschland   von morgen

Die Bücher der ersten Autoren Deutschlands   erscheinen zumeist nicht mehr in dem Lande ihrer Heimat. Ihrer Hei­mat, deren Kulturkreis sie bildete, deren Sprache sie zur Vollendung führten, aus der sie die Wurzeln ihres Schaffens ihrer Heimat, die sie verstieß.

zogen,

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Die Bücher, die ich heute bespreche, sind nicht in Deutsch­ land   erschienen. Kein deutscher   Buchhändler darf wagen, sie in seinem Laden zu führen. Keine Ankündigung wird ihnen zuteil in jenen deutschen   Zeitungen, deren literarischer Teil bei jeder Neuerscheinung ihnen einstmals lange und erschöp­fende Besprechungen eintrug.

In diesen beiden Büchern spiegelt sich die Sehnsucht zweier Generationen deutscher   Jugend. Tol­ler ging durch den Krieg, Bruckner zeichnet die jungen Menschen nachher". So verschieden Werden und Erlebnis sind: es geht allen, allen um das Deutschland   von Morgen. für das sie atmen und leben und fast mehr noch als ehedem lieben, wenn es sie enttäuscht und ausstößt aus dem Reiche der Menschlichkeit und der Güte.

1. Kriegsgeneration

Ernst Toller  : Eine Jugend in Deutschland

Der einstige Vorsitzende des Zentralrats der bayrischen Räterepublik von 1919, der deutsche   Dichter Ernst Toller  , hat die Autobiografie seiner Jugend( Querido- Verlag, Amster­ dam  ) geschrieben. Er sagt in seinem Vorwort: Wer den Zu­sammenbruch von 1933 begreifen will, muß die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland   kennen, von denen ich hier erzähle." Toller, der Dichter der viel aufgeführten Dramen des längst verklungenen Expressionismus, Die Wandlung", Masse Mensch  ", Hinkemann", der eine der schönsten lyrischen Gedichtsammlungen der legten fünf­

daß er blind werden kann vor einer Zeit, die er nicht sehen will."

Toller erzählt eingangs, daß sein Urgroßvater Schutzjude des Großen Friedrich zu Samotschin  , einer kleinen Stadt im Netzebruch, war. Es ist seltsam, daß die Juden sich so gern ihrer Ahnen erinnern. Vor 150 Jahren saßen meine Vor­eltern schon in dieser oder jener Stadt am Rhein  , am Main  . Ist es der Fluch, der ewigen Heimatlosigkeit im Grunde, des Verfluchtseins, immer wieder den Wanderstab ergreifen zu müssen, der sie sich so an die Heimat der Kindheit, der Eltern und Ureltern klammern läßt? Ist es nicht auch über allem Rufen des Jüdd hepp hepp" beim Spiel und in der Schule das Deutschsein, das ihnen eingeboren wurde, ein doppeltes Schicksal, deutschsein und Jude sein, dem sie auch im fremden Land nicht mehr entrinnen?"

Während des Kriegs, in den erbarmungslos geschilderten Schrecken der Front, in den ersten Jahren der Revolution, sogar vor einem versuchten Fememord im Gefängnis hat der Tod nach Ernst Toller   gegriffen. Aber der Dichter fühlte nur die Beklemmung des eisigen Hauchs. Wie durch ein Wunder ist er erst den Granaten des Feindes, dann den Ge­wehrläufen der Weißen und Freischärler entgangen. Die ,, legale Machtübernahme" durch Reaktion und Hakenkreuz erlebte der Vierzigjährige in der Schweiz  . Er ist nicht mehr in das Land seiner Väter und seiner Jugend zurückgekehrt. Dies Buch hat er in der Fremde geschrieben. Knapp und sicher im Ausdruck, beherrscht in den Gefühlen. Es ist große Kunst in dieser Einfachheit. Sie macht Wunden strömen, Herzen erbangen, Fäuste trommeln gegen die Wände des Hasses und der seelischen Trägheit.

Es ist das schönste, was wir von Toller besitzen.

zehn Jahre, Das Schwalbenbuch", wie seine Dramen im Ge- 2. Nachkriegsgeneration

fängnis schrieb; er ist über das Erlebnis des Kriegsfreiwilli­gen an der Front zum glühenden Pazifisten, zum kämpfenden Politiker geworden. Im Gefängnis las er zum ersten Mal die Schriften der großen Sozialisten. Aus der Liebe mit der von der Internationale der Rüstungsindustrie und des Großkapi tals geknechteten ,, Masse Mensch  " kam er zum Sozialismus, dessen glühender Vorkämpfer er wurde.

Fünf Jahre hat Ernst Toller   in der Festungshaft Nieder­ schönenfeld   verbracht, Festungsjahre, die anders ausschauten als die des Kurt- Eisner- Mörders Graf Arco, der ausgehn konnte und Nachbargüter besuchen durfte, wie es ihm be­hagte.

Noch ein Festungsgefangener saß in jenen Jahren irgend­wo in Bayern  . Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler  . Toller berichtet von ihm: Ein Gefangener erzählt mir, er sei dem österreichischen Anstreicher Adolf Hitler   in den ersten Monaten der Republik   in einer Münchener   Kaserne begegnet. Damals hätte Hitler   erklärt, er sei Sozialdemokrat. Der Mann sei ihm aufgefallen, weil er., so gebildet und ge­schwollen" dahergeredet hatte, wie einer, der viel Bücher liest und sie nicht verdaut. Doch habe er ihn nicht ernst ge­nommen, weil der Sanitätsunteroffizier verraten hatte, im Krieg sei der Hitler, als er von der Front zurückkam, schwer nervenkrank in einem Lazarett gelegen, blind, plötzlich habe er wieder sehen können. Diese nervöse Erblindung machte mich nachdenklich. Welche Kraft muß ein Mensch haben,

Die Rassen", eine deutsche   Tragödie von Ferdinand Bruckner  

( erschienen im Verlag Oprecht und Helbling zu Zürich  ), ist ,, Die Rassen", Schauspiel von Ferdinand Bruckner  im Züricher   Stadttheater unter der Regie des ehemaligen Intendanten von Darmstadt   Gustav Hartung   urauf­geführt worden.

,, Dell' Dolor et della Regione" so schließt eines der be­kanntesten Schauspiele Bruckners: ,, Vom Schmerz und von der Vernunft". Diese Worte, mit denen Elisabeth von Eng­ land   sich entsagend und erkennend wendet, ehe der zufal­lende Vorhang die Zuschauer in ihre Gegenwart entläßt, sie könnten das Motto sein zu diesem Schauspiel. ,, Dell' Dolor et della Ragione" wir erleben im Geschick einiger Studenten einer rheinischen Universitätsstadt das Ereignis des fünften März 1933. Auch die bisher Abseitsstehenden werden in den allgemeinen Taumel der Erneuerung" gerissen, gepackt vom ,, Untertauchen des eigenen Ichs" in das Irrationale, das vor ihnen als Nation" aufflackert. Ueber Denunziationen, Verhaftungen und Mißhandlungen jüdischer Kollegen geht ,, die nationale Aktion" weiter bis zum Judenboykott.

Da ist ein jüdischer Student, dem Schläfenlöckchen ange­klebt werden, dem man die Hosen an den Knien abschneidet; und mit einem Plakat ,, Ich bin Jude" durch die Straßen der

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Universitätsstadt   führt. Da ist Helene, die jüdische Studen­tin aus reichem Haus, die jahrelang in äußerem Verzicht auf Luxus und Wohlleben mit dem geliebten christlichen Stu­denten zusammenhauste. Sie werden sich auf einmal ihres Judentums ebenso bewußt, wie die anderen ihrer arischen Sendung. Aber so sagt einer der jungen SA.- Akademiker zum andern: Auch ich kann nicht schlafen. Auch ich warte. Daß dieses Chaos endlich aufhört, Ich weiß, es sind die Wehen   der Geburt. Aber endlich muß es doch geboren werden. Was muß geboren werden?" Das Reich. Beten wir zu Gott, daß die Tatenstrotzerei nie aufhört. Nur das haben wir zu fürchten."

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Aber aus der Tatenstrotzerei", aus unzähligen Verhaf­tungen und Mißhandlungen wächst die Erkenntnis. Der große Rausch verfliegt. Was übrig bleibt, ist dies: ,, Mir macht es sogar immer mehr Spaß, wie sie vor mir zittern. Wie sie sich drängen, wenn ich meine Macht spielen lasse, und, was es einträgt, frag erst gar nicht. Daß die Welt mir gehört: wer

schon schenkt mir sonst dieses Gefühl als der Revolver in meiner Tasche. Unmoralisch ist nur eines: das Verrecken. Ich, der es nicht erwarten konnte, weiß heute: ,, das Ver­

recken kommt zuletzt".

Der andere, jener, der seine beiden arbeits- und erfolg. reichsten Jahre mit der ,, Artfremden", der Jüdin, verbracht hat, und sie nun auf Geheiß des studentischen Truppführers verhaften soll, wie vordem seinen jüdischen Kommilitonen; er warnt die noch immer Geliebte, nachdem das neue Deutschland   ihn wirklich erwachen ließ. Er sucht um die Befreiung seines im Rassenwahn verlorenen Ichs: Ein ungenügender Deutscher  . Ein ungenügen­der Christ, das schongar."

,, Die Generalversammlung dieser Erdkugel möge beschlie­Ben, daß jeder von den Milliarden als Mensch zu respektieren sei. Das große Herz, der große Geist, die Schöpfer unseres Lebens: halte ihnen eine Kugel vor, schon sind sie nichts. Wir haben das Nichts aus ihnen gemacht. Wir haben damit das Nichts aus uns gemacht."

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Wie endet es? Der Verräter" wird abgeholt. Doch vor­her sagt er dies: Vielleicht haben wir uns selbst um die Ecke gebracht? Wir waren eine schwache und hilflose Demo­kratie. Wir hätten eine starke aus ihr machen sollen. Das war die große Aufgabe der deutschen   Jugend. Wir haben sie versäumt. Ich jedenfalls habe mein Deutschland   versäumt. Aber an seiner Ewigkeit ändert das nichts."

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Der Vorhang fällt über den Verzweifelten einer unter­gehenden Welt. Neun Szenen ein deutsches Trauerspiel. Ein deutsches Trauerspiel. Die, um die es geschrieben wurde, tief im Schmerz und fern der Vernunft, sie wissen es nicht.

Wenn wir heut, fern von Deutschland  , diese Bücher ge­lesen haben und aus der Hand legen, dann faßt uns die Sehnsucht nach jenem Deutschland  , das einst das unsrige war. Es lebt in den Blättern, die seine Söhne in der Fremde geschrieben haben. Es ist das Deutschland  , für das der kleine SA.- Student in Bruckners Drama gefallen ist: Das Deutsch­ land   von Morgen! Ellinor Werrer,

Euer Aegyptischgeboren!

Zu der Anschrift ,, Euer Deutschgeboren!", die die Hitler­Jugend sich für ihre Schnorrbriefe erfunden hat, bringt Jakobi in der Nummer vom 12. allerlei Bedenken vor, philo­logische, staatspolitische usw. Man könnte auch finden, daß in einem Land, in dem Millionen von Menschen sinnlos von Amt zu Amt gehetzt werden, um nachzuweisen, daß sie nicht bloß geboren, sondern einwandfrei geboren sind, solche An­schrift durchaus zu dem übrigen paßt. Ich bin für Firmen­wahrheit; insoweit, die Leser der ,, Freiheit" mögen es ver­zeihen, fühle ich mich gleichgeschaltet. Die Schwierigkeiten, vor denen Jakobi in treuer Anhänglichkeit an die deutsche  Heimat die Volksgenossen warnen zu müssen glaubt, er­scheinen mir ganz anderer Art. Wie sag ichs meinem Führer? Wie hat in Briefen an ihn die Anschrift wahrheitsgemäß zu lauten? Euer Grenzlanddeutschgeboren? Oder gar Euer Oesterreichischgeboren? Bei Herrn Heß, Stellvertreter des Führers, müßte man wohl schreiben Euer Aegyptisch­geboren oder Euer Levantinischgeboren. Bei Herrn Darré, Ernährungsminister des ,, dritten Reichs", Euer Argentinisch geboren, bei Herren Rosenberg Euer Russisch oder Estländischgeboren usw. Auf welche Weise dem deutschen   Volk jedesmal auch wieder zum Be­wußtsein käme, woher die deutschen   Männer gekommen, an­gefahren oder angelaufen sind, von denen es zur Zeit be­herrscht wird und die sich anmaßen, tausende gut Deutsch­geborener wie z. B. den lübeckischgeborenen Heinrich Mann  ihres angestammten Vaterlandes zu berauben.

Dec kranke Aar

Am dürren Baum, im fetten Wiesengras Ein Stier behaglich wiederkäut den Fraẞ; Auf niederm Ast ein Adler saß,

Ein kranker Adler mit gebrochnen Schwingen. ,, Steig auf, mein Vogel, in die blaue Luft, Ich schau dir nach aus meinem Kräuterduft!" ,, Weh, weh, umsonst die Sonne ruft Den kranken Adler mit gebrochnen Schwingen!". ,, O Vogel, warst so stolz und freventlich Und keine Fessel wolltest ewiglich!" ,, Weh, weh, zu viele über mich,

Und Adler all, sie brachen mir die Schwingen!"

So flattre in dein Nest, vom Aste fort, Dein Aechzen schier die Kräuter mir verdorrt!" ,, Weh, weh, kein Nest hab ich hinfort, Verbannter Adler mit gebrochnen Schwingen!" ,, O Vogel, wärst du eine Henne doch, Dein Nestchen hättest du im Ofenloch!" ,, Weh, weh, viel lieber Adler noch, Viel lieber Adler mit gebrochnen Schwingen!" Annette von Droste- Hülshoff  .

Uebrigens, geboren ist man ja nur zum Zwecke des Lebens, Blonder aber schlechter müßte die Anschrift in den Schnorrbriefen der Hitler­ Jugend   daher nicht richtiger heißen: Euer Deutsch­leben?! Horst Priepel.

Ulbrich statt Johst  

Die Staatstheaterkrise

aus­

Der preußische Ministerpräsident hat anstelle des geschiedenen Hanns Johst   den Intendanten Ulbrich vom Staatstheater mit allen Vollmachten als den einzigen verant­wortlichen Leiter des staatlichen Schauspielhauses aus­gestattet. Die Frage, ob die einstweilige Beurlaubung des Dramaturgen Johst sein Ausscheiden aus dem Staatstheater nach sich ziehe, ist noch nicht entschieden. Aber man rechnet damit

Der deutsche" Film

,, Observer" schreibt über den deutschen   Film: Nach der Machtergreifung Hitlers   hat Göbbels   versucht, aus der deutschen   Filmindustrie eine mächtige Waffe der Propaganda zu machen. Inzwischen sind SA.- Mann Brand" und Der Hitlerjunge Quex  " erschienen. Aber schon beim Horst- Wessel  Film gab es Krach: Göbbels   verbot ihn und ließ ihn später unter anderem Namen wieder zu. Heute ist die Nazi­Propaganda im Film nur noch auf einem schöpferischen Ge­biet erkennbar: in der blonden Haarfarbe der Filmschau­spielerinnen. Allenfalls noch durch eine andere Tatsache unterscheidet sich der heutige deutsche   Film von dem frühe­ren: er ist künstlerisch erheblich schlechter geworden. Dia fähigsten Künstler sind emigriert.

Neuer Lenin  - Kult

Anläßlich des 10. Todestages von Lenin  , am 21. Januar, soll in der Leningrader Philharmonie ein Lenin- Orato rium zur Aufführung gelangen. Gleichzeitig wird ein Lenin­Film vorbereitet, der das Leben und Wirken des Sowjet­führers darstellen wird.

Fest steht und treu dec Grenadier

Das neue Pausenzeichen

Das neue Pausenzeichen des Danziger Rundfunksenders ertönt nach der Melodie des Soldatenliedes: ,, An der Weich­ sel   gegen Osten, stand ein Grenadier auf Posten"...

Zeit- Notizen

Die SA. rennt die Bude ein... Ein Kitschverfasser, W. Glaser, schreibt über ein Buch, das er der SA. gewidmet hat: ,, Ich hatte das Werk nicht geschrieben, damit es als Buch erscheinen sollte. Ich bin zu dem Roman gedrängt worden, weil die SA. mir buchstäblich die Bude ein. rennt..."

Die Wesenszüge des Führers. Eine Liegnitzer Papier­handlung inseriert ein Porträt des Potem pa Freundes, es kostet 6 Mark, was nicht viel ist, wenn man bedenkt, was das Bild kann: ,, Willenskraft und Energie, Ehrlichkeit und Güte sprechen aus diesem Bildnis und ver mitteln uns in seltener Weise die Wesenszüge des Führers". Natürlich: in seltener Weise!

Max Sauerlandt  . In Hamburg   ist der ehemalige Direktor des Hamburger   Museums für Kunst und Gewerbe, Max Sauerlandt  , nach kurzer Krankheit im 54. Lebensjahr ge­storben. In ihm verliert die deutsche   Museumswelt eine mar kante Erscheinung. Als Schüler Wölfflins promovierte Sauer­ landt   an der Berliner   Universität mit einer Arbeit über den italienischen gotischen Bildhauer Giovanni Pisano  . Seine Laufbahn als Museumsdirektor begann Sauerlandt   in Halle, wo er als Verteidiger und Ankäufer der ,, Brücke- Leute"( er schrieb eine Biographie über Nolde  ) kurz vor dem Kriege bei den Stadtvätern Anstoß erregte, was jene mutige Kunstrede des damaligen Oberbürgermeisters Rive veranlaßte,