Pariser Berichte

Pariser Straßenkalender

Wie wir hören, findet demnächst eine Ausstellung des Bühnenmalers des Joos- Balletts, Heckroth, im Lateinischen Viertel zu Paris   statt.

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Dem Vernehmen nach steht die Veröffentlichung eines Buches von Rudolf Olden   über den Militarismus bevor.

Der frühere Berliner   Journalist Dr. Ernst Feder sprach im Institut für Rechtsvergleichung der Sorbonne über das Göbbelssche Pressegeset. Dem Vortrag wohnten mehrere be­deutende französische   Rechtsgelehrte und der Professor für französisches Recht in Tokio  , der Japaner Sugiyama bei, der Ehrendoktor der Sorbonne ist.

Die französische   Regierung beabsichtigt einer Information der ,, Comoedia" zufolge in zwei Monaten die Ausgabe von acht neuen Marken, die von hervorragenden modernen Künstlern graviert sind.

Der Neffe Aristide Briands, M. Charles Billan, verehrte dem Palais des Beaux Arts der Stadt Paris   ein Porträt Briands aus dem Jahre 1917 von Bachet.

Am Freitag, 12. Januar, wird 6, rue Vital eine bis 18. Februar dauernde Anna- Pavlova- Ausstellung eröffnet, die u. a. eine Reproduktion des ,, Sterbenden Schwans" zeigt. Im Hotel des Societés savantes findet am Dienstag, 9. Januar, 21 Uhr, ein Vortrag von Georges Lefranc   über Henri de Man: Cahier de Révolution constructive, Nr. 1, chapitre III( Les classes moyennes) statt.

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Der Temps" stellt fest, daß aus dem Knaur", dem be­kannten deutschen Volkslexikon", die Franzosen Jaurès, Romain Rolland   und Zola   neben zahlreichen großen Deut­ schen   vertrieben sind, während Adolf Hitler   vom Dekorations­maler zum ,, Kunstmaler" befördert wurde.

Stavisky und Darius

Vom Hintergrunde des ,, schönen Alexander" Politische Riesenkrachs kommen grundsätzlich über Nacht, wir Vielgeprüfte wissen das vom Pelz des Ober Böß. Der Pelz ist diesmal die kleine Verhaftung des Sparkassen­direktors von Bayonne  , und schon wackeln in Paris  manche Sessel, und etliche Ordnungsherren, die mit dem viel­gewandten Rumänen und seiner ungarischen Freundin Emmy von Nagy in der schönen Gegend der Madeleine gespeist haben, bangen um ihre Pensionen. Doch das mögen an anderer Stelle die Politiker mit den Fachleuten ausmachen; uns interessiert hier mehr das Gastliche" des Falls: ge­wissermaßen der Hintergrund des Pariser Skandals, bei dem die Hitler  - Leute übrigens die Hauptleidtragenden sind.

Tatsache ist, daß Stavisky, der bel'Alexandre, zunächst ein guter Gast war. In Budapest  , wo er für die feudalen Optanten den Mittelsmann spielte, gab er nie unter 500 bis 600 Pengö, das sind immerhin 2000 bis 2500 Franken, für Mittagessen und Champagnerfeste aus. Die dafür auch im faschistischen Lande erforderlichen Fonds lieferten die An­sprüche der von Ungarn   getrennten Optanten aus den ab­getretenen Gebieten, die der Geriebene für 20 Prozent ihres Wertes bei 10 Prozent Anzahlung, also für 2 Prozent auf­kaufte. Teilnehmer dieser Festgelage waren sein Pariser Revuedirektor Hayotte, der übrigens wieder aufgetaucht ist und vernommen wurde, wie ein Pariser Abgeordneter

Bonnaure, der dabei immer eleganter wurde und die Kokette Emmy von Nagy mit ihrem roten Haar. Einer der vornehmen Leute, deren Titel er erwarb, war der Groß­

Wie lebt die arbeitende Frau in Paris  ?

Was den Fremden in Paris   am meisten feffelt, ist zweifelsohne das Tempo dieser Stadt. Unermüdlich flizen die Autos durch Gassen und Straßen. Man steht auf den Seinebrücken und ist von ihnen begeistert, man fährt auf den Eiffelturm und gewahrt unten die Raupen der Untergrund bahn, die Eisenbahnlinie, die nach Versailles   führt. Man ist nachmittags auf den Boulevards und sucht vergeblich nach einer Möglichkeit, über die Straße zu kommen. Und hält man sich gar eines Tages gegen sieben Uhr früh in einer Halle des Gare Saint- Lazare   oder irgendeines andern Pari­ ser   Bahnhofes auf, so ist man überwältigt von den unge­heuren Menschenmassen, die die einfahrenden Züge in die Stadt ausspeien.

Gleich am ersten Tag frappieren den Fremden auch die vielen geschminkten und angestrichenen Frauen. Vielleicht bilden Schminke und Puderdose unentbehrliche Bestandteile der französischen   Anmut? Und wer furz nach Geschäftsschluß durch das Tertilviertel bei der Rue Reaumur eilt, ist jedes­mal neu von der Grazie der Pariserinnen, die von ihren Arbeitsstätten kommen, entzückt, den vielen Midinettes, Cou­turieres( Schneiderinnen), Mustermädel, Verkäuferinnen und fleinen Angestellten, die nicht nur Zauberkünstler der Nadel, sondern auch des Lebens zu sein scheinen, das sie so denkt der Fremde in flingende Fröhlichkeit ver­

wandeln.

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Und wenn ich nun komme und behaupte, daß Lippenstift und Schminke wenig mit der französischen   Anmut, mehr mit der Parfümindustrie, am meisten aber mit dem Tempo von Paris   zu tun haben, so erscheint das wohl, milde ausge­drückt, an den Haaren herbeigezogen. Ich will mich daher der Beweisführung nicht entziehen:

Wenn Paris   noch schläft und nur die Lumpensammler einen Abfallfübel nach dem andern umstürzen und nach sei­nem Inhalt durchwühlen, setzt in einem Umkreis von zehn, awanzig Kilometer eine gigantische Völkerwanderung gegen das Zentrum ein. Hunderttausende von Menschen er­heben sich draußen in der Bannmeile, um nach Paris   an ihre Arbeitsstätten zu fahren. Der geringste Teil wohnt in der Stadt selbst. Je mehr Paris   Menschen anzon, desto höher wurden die Grundpreise, desto mehr wurden die Arbeiter an die Peripherie, in die Dörfer abgetrieben, wo die Woh­nungen noch billiger, die Luft beffer ist. Sie alle verbringen durchschnittlich jeden Tag drei, vier Stunden auf irgend­einem Verkehrsmittel, jene, die aus vierzig Kilometer Ent­fernuma nach Baris hineinfahren. noch sänger.

Und fahren die Vorortzüge in die Bahnhöfe in Paris   ein, so ist die Reise noch lange nicht zu Ende. Alles drängt aus den Wagen. rennt in fliegender Gile die Treppen zur Unter­grundbahn hinunter. Zu den starken Verkehrszeiten sind die großen Verbindungsgänge aber nicht selten verstopft. Man steht zu Hunderten, aneinandergepreßt wie Heringe, gedul­big wie Schafe, und wartet, zehn Minuten, oft länger, bis

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meister des Maltheserordens, ein anderer der Graf Julius kredit von Bayonne brachte unter Ueberschriften wie: Karolyi.

Haussuchungen und Polizeigänge haben inzwischen genug stattgefunden. Da war die schöne Gattin des Schwindlers, die mit ihren zwei hübschen Kindern überall abgebildet ist freilich sind das die Nebenbuhlerinnen in Gesellschaft des Gatten auch. Diese Dame, gegen die die Polizei galant war, hat die 50 Mille behalten, die die Polizei in ihrem Retiro fand. Dann ist da der Revuemann Hayotte, der inzwischen die Pleite des mit nominell 100 000 Franken zu Buch stehen­den Nachtlokals angesagt hat. Der Bürgermeister- Abgeordnete Garat   aus dem schönen Pyrenäenort, der ein wenig die Bonität der Stavisky- Bons nach der Höhe seiner Berge streckte, erscheint schwer bedroht. Dann der Kolonial­minister, der zu einer Zeit, wo Stavisky noch der große Mann war, zwei Empfehlungsbriefe für das städtische Unternehmen unterzeichnete.

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Eigentlich pikant für uns wird dieser Fall aber erst durch die Haussuchung bei der ,, Volonté  " und die Rolle, die dabei M. Pierre Darius, der Chefredakteur des hitler­freundlichen Mittagblattes, spielt. Der Herausgeber der Volonté  " ist M. Dubarry; dieser Mann verkaufte die ,, Volonté  " im Jahre 1932 an die Gesellschaft SAPIENS.  , deren Oberhaupt der vielseitige Stavisky war. Am 18. August 1933 ging die Sapiens( Sapiens heißt ,, weise") aber pleite, und nun durchsuchten die Krimmer den ganzen Laden teils der Sapiens, teils der Volonté  ", worüber der ergraute Dubarry mit sauersüßem Lächeln berichtet.

Hierbei kommt nun die Geschichte, um die es uns geht, zum Klappen. Wir erfahren, daß im November ein Blatt, das ,, Bec et Ongles"( also etwa: Zähne und Klauen" heißt und auch danach ist), dessen damaliger Leiter der heute hitler­freundliche Darius war, mehrere Artikel gegen den Stadt­

Das Frankfurter Konto

Ueber dem großen" Spionageprozeß des Meisters Sta­visky von Bayonne ist der kleine" der sowjetrussischen Dokumentenschmuggelei aus dem Marineministerium fast in Vergessenheit geraten. Dabei ist doch auch diese Atmosphäre abenteuerlich genug. Jetzt hat Martin, der Uebersetzer aus dem Marineministerium, der Geliebte der Spionin Lydia Stahl, allerhand Aufklärung über sein Konto in Frank­ furt am Main   gegeben. Dort war er nach dem Waffen­stillstand als Uebersetzer der Kommission Nollet, der Kontrollkommission für die neutrale Zone, beschäftigt. Sein Konto auf einer Frankfurter Bank, sagte Martin, sei die Frucht seiner Sparsamkeit. Er habe das Geld dort mehrere Jahre stehen gehabt und jetzt wegen der politischen Agita­tion in Deutschland   beschlossen, den Betrag nach Frankreich  zu überführen. Er habe sich an einen Fachmann dieserhalb gewendet, namens Pumbus, dessen Bekanntschaft ihm Lydia Stahl vermittelt habe. Die daraus ausgestellte Voll­macht sei die, die die Kommissare bei ihm gefunden hätten.

Wenn das keine Ausrede ist über die wahre Herkunft der deutschen Gelder, so scheint es zum mindesten zu beweisen, daß das Vertrauen in die Sicherheit des Landes der ge­frorenen Gelder" nirgendwo mehr sehr groß ist. Der deutsch  - französische Fußballkrieg

Durch die Maßreglung des Karlsruher Fußball vereins, der auf Bitten der französischen   Sportfreunde

die automatische Tür neue Menschenmaßen auf den Bahn­steig der Untergrundbahn hinausläßt. Endlich kommt die " Metro" herangebraust, die um diese Zeit alle halben Minu­ten fährt. Nun beginnt der Kampf ums Dasein erst recht. Ein Raufen um die Pläge setzt ein, das in seiner brutalen Rück­sichtslosigkeit seinesgleichen sucht. Wer die stärksten Ellbogen und rohesten Manieren hat, kommt noch mit. Der andre fann auf die nächste vollbesetzte Metro warten. Vielleicht hat er dort mehr Glück. Und hat man sich endlich hinein­gezwängt, kann man sich auch schon nicht mehr rühren. Man steht wie Sardinen in einer Schachtel. Die wohlriechenden Düfte, die aufsteigen, lassen sich schwer beschreiben, noch we­niger die erotische Atmosphäre, die in diesem Gedränge ent­stebt und zum Efelhaftesten gehört, das ich je erlebte.

Zu dieser Haft, die die Nerven untergräbt, zu diesem Kampf ums Dasein, der schon vor dem Tagwerf beginnt und in den widerlichsten Formen ausgefochten wird, zu dieser Völkerwanderung, die sich jeden Morgen nach Paris   ergießt, fommt ein zweites Problem der Pariser   arbeitenden Frauen, das die Widerstandsfähigkeit der Börsen und Körper er= schöpft: das Mittagessen.

Die Völkerwanderung gestattet es den wenigsten, ihr Mit­tagessen zu Hause einzunehmen Die weitaus größte Zahl ist gezwungen, irgendwo in der Stadt zu essen. Ja, wenn es in Paris   Institutionen ähnlich unserer Wöf" gäbe, dann sähe manches anders aus! Sie eriftiert aber leider nur in Embryoform in den Foyers feminins" und nur für Frauen. Die zwei oder drei Filialen, die bestehen, sind nur ein Tropfen auf einem heißen Stein. Man steht eine halbe Stunde und mehr auf der Straße Schlange, im Sommer in der unerträglichen Hize, im Winter in Regen und Kälte. So sind die meisten Arbeiterinnen auf die Restaurants a prix fire angewiesen, die überall aus dem Boden geschossen sind, garantieren sie doch ihren Besitzern eine gute. Kapitals= anlage. Man ist dort zu fünf bis sechs Franken. Das erste mal ist man begeistert, das zweitemal beginnt einem schon vor den in Soda gefochten Gemüsen zu grausen, und nach einer Woche hat man so über und über genug von dem gan= zen Betrieb, daß man am liebsten auf das ganze Essen ver­zichten würde.

Aber nicht nur gewissenlose Restauranteure, auch Unter­nehmer wollen aus dem Essen ihrer Arbeiter noch einen Ge­winn herausschlagen. In vielen Großbetrieben wird den Angestellten am Monatsende ein gewisser, verhältnismäßig viel zu hoher Betrag für das Mittagessen zurückgehalten. Tafür bekommt man jeden Tag eine Mahlzeit serviert. Wohlverstanden, man hat nicht etwa die Wahl, der Abzug findet auf jeden Fall statt, ob man nun im Hause ißt oder nicht. Man erlasse mir die Beschreibung einer solchen Mahl­zeit, die ch ibei einer großen Autoreifenfirma in den Champs­Elyfees täglich vorgesetzt befam. Mir wird noch übel, menn ich an den fleinen Speisefaal mit den blinden Spiegeln denke. Hier lieat ein typisches Beispiel vor, wie die patri­archalischen Sitten, die wir noch häufig in Frankreich   vor­finden, sich im kapitalistischen   System in gröbste Ausbeutung verwandeln,

,, Meine Tante im Südwesten" und ,, Meine Tante in Bayonne  ". Garat  , der heute viel beschuldigte Bürgermeister, klagte. Pierre Darius, damals Direktor von Zähne und Klauen", heute Chefredakteur des göbbelsfreundlichen ,, Midi", machte Ausflüchte. Und was geschah? Garat   zog etwa infolge freundschaftlichen" Transaktion?, fragt der ,, Popu­

einer

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laire" die Klage zurück. Kein Artikel erschien mehr. ,, Garat   hatte", sagte der Populaire" ,,, das Stillschweigen zu erkaufen gewußt".

Ein reines Vergnügen ist es daraufhin, den, Midi" zu lesen, nachdem in der früheren Arbeitsstätte des Herrn Darius, in Zähne und Klauen", jetzt ebenfalls eine Haus­suchung stattgefunden hat. Das treffliche Mittagblatt zer­bricht sich in einem gut aufgemachten Artikel fortgesett den Kopf über Herrn Hitler  : Man hat nur eins ver­gessen, Hitler zu fragen" ,, Er spielt seine Rolle, dieser Mann. Er spielt sie gut", so geht das in einem fort. Dazu muß man noch wissen, daß ein anderer hitlerfreundlicher Mann der Feder, der brave Jean Luchaire  , in dem um­gewandelten Blatte Notre Temps" den Einfluß der Affäre Stavisky auf den französischen   Franken beweint.

Vermerken wir hierzu noch, daß der Bürgermeister von Biarritz  , M. Irrigoyen, wie wir bereits meldeten, direkt gesagt hat, daß Stavisky auf deutsche   Vermittlung gearbeitet hat und lesen wir nach, was die ,, Freie Presse" in Straßburg   als abweisende Aeußerung Herriots über den Wanderredner Louis Thoma, den Mitarbeiter des dann sind wir im Bilde über Darius, wiedergegeben hat die wunderbaren Hilfsgestalten, deren sich der, nachgedun­kelte Schrumpfarier" Göbbels   in seinem Verkehr mit der französischen   Oeffentlichkeit bedient. Wir gratulieren unserem Propagandaminister zu diesen Erfolgen in Gallien  !

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den Heil- Hitler- Gruß mit erhobenem Arm bei dem Match in Nancy   und dem in Metz   unterlassen hatte, ist eine sehr ernste Situation im internationalen Sportwesen entstanden. Die Weisung an alle badischen Vereine, nicht mehr in Frankreich   zu spielen, so lange der römische Gruß" nicht zugelassen wird, ist eine ausgesprochene Provokation.

Erinnern wir uns, daß der römische Gruß", weit davon entfernt, eine deutsche vaterländische oder gar staatliche Angelegenheit zu sein, als eine durchaus ,, undeutsche" Ein­führung eines außerhalb des Deutschen Reiches geborenen Parteiführers zu bezeichnen ist.

Bei dem letzten Rugby- Match ist das deutsche Team eben­falls ohne Hitler- Gruß erschienen. Soll diese Rugby- Mann­schaft nun gleichfalls gemaßregelt werden?

Nicht die Bitte an die Deutschen  , im Ausland die Hände wie die Sportler aller anderen Länder geschlossen zu halten, ist eine Provokation- sondern die Ausführung des Hitler- Grußes vor einem Gastlande ist als Provokation zu bezeichnen.

Die geplante Weltolympiade in Deutschland  , für die bereits mehrere Absagen vorliegen und gegen die insbeson­dere von amerikanischer Seite propagiert wird, wird unter diesen Umständen sicher nicht gefördert werden. Uebrigens machen wir darauf aufmerksam, daß sie eine Weltpropaganda des Antisemitismus zu werden droht, wenn man dem nicht beizeiten entgegentritt.

Kein Wunder, daß viele arbeitende Frauen froh sind, ihr fertig gekochtes Mittagessen, das sie von zu Hause mitbrin­gen, auf irgendeinem Rechaud im Büro wärmen zu fönnen. Manche schlingen ihr Mittagmahl hastig in einem obskuren Kaffeehaus zu einem Schwarzen" hinunter, andre setzen sich im Sommer in die Parks. Doch muß man im legteren Falle behende oder ein besonderes Glückskind sein. Parts sind in Paris   nicht so häufig wie in Wien   zu finden.

Am Abend, nach sechs Uhr, beginnt die Völkerwanderung von neuem, diesmal in umgekehrter Richtung. Und da fich alles in die eine Stunde zwischen sechs und sieben zusammen­drängt, mit noch viel größerer Intensität. So werden zum Beispiel vom Bahnhof Saint- Lazare   in dieser einen Stunde 120 000 Menschen in 150 Zügen abgefertigt, das heißt mehr als zwei Züge in der Minute. Troß dieser gewaltigen Ver­fehrsleistung gelingt es dem einzelnen in der Regel nicht, seine Wohnung im Werkalltag bei Tageslicht zu genießen. Außer dem eigentlichen Tagewerk haben diese arbeitenden Mädel und Frauen noch ein zweites, drittes und viertes zu leiften. Die unendliche Reise, die Arbeit im Betrieb, zu Hause die Besorgung des Essens und der Wäsche, der Woh­nung und oft noch der Kinder. Wer wundert sich unter fol­chen Umständen noch, daß die Pariserinnen oft mit dreißig Jahren schon, sicher aber mit vierzig, verbraucht sind, aus­gelangt und fertig wie ein ausgewundenes Tuch? Wer ver­arat es ihnen, daß sie die natürlichen gefunden Gefichtsfar­ben, die ihnen die Haft und das Tempo der Stadt jeden Tag neu rauben, durch Lippenstift und Sch min fe ersetzen wollen? Schminke und Puderdose sind wohl auch Kokettier­mittel. In erster Linie aber wollen sie Gesundheit und Frische vortäuschen, die länast verloren sind. Der Fremde versteht es am Anfang nicht. Erst wenn er selbst einige Jahre in diesem Betrieb eingespannt war, spürt auch er seine Widerstandskraft erlahmen. Mademoiselle Agnes, vous perdez vos couleurs!"( Fräulein Agnes, sie verlieren Ihre Farben!) pflegte mir mein Hausbesorger nach zwei Jahren Aufenthalts in Paris   zu sagen.

Die Ueberlastung der meisten arbeitenden Frauen in Pa ris, lange noch bevor ihre eigentliche Arbeit beginnt, er­flart manches, was sonst unverständlich bleibt, ihre Flucht ins Kino, in den Flirt und die Koketterie, ihre Abneigung gegen Politik. Man ist viel zu müde, viel zu sehr vom Kampf ums Dasein in Anspruch genommen, um sich am Abend noch mit ernsthaften Dingen zu beschäftigen. Die Pariser   Ge­werkschaft der weiblichen Büroanaestellten umfaßte beispiels weise ganze zweihundert Mitglieder, bei einer Gesamtzahl von vielen Zehntausenden, die in diesem Beruf beschäftigt sind.

Aber wenn die Pariser   Arbeiterin auch noch nicht zur Besinnung kommt, dieses Leben bringt ihr doch eines. das vom sozialistischen   Standpunkt aus nicht zu vernachläffigen ist. Diefe Frauen, wie schwere Basten auch auf ihnen liegen, sie lieben alle ihren Beruf, weniger uni feiner selbit willen, als meil er sie aus der Enge des Hauses herausführt und sie dem Manne gegenüber unabhängig macht.

Agnes Deutsch.