nenoitsins?"

Freihei

Nummer 69-2. Jahrgang

Aus dem Inhalt

Rußland im Völkerbund?

Seite 2

,, Abgestufte" Sanktionen

Seite 2

Hunde- und Katzenlleisch

Seite 3

Juristen an der Saar

Seite 7

Ueberall Spione

Chefredakteur: M. Braun

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, 23. März 1934

Seite 7

Siegficif!" ofine Echo Gestern und heute

Führerreden ohne Beifall

DF. Das also war die Eröffnung der Arbeitsschlacht des Jahres 1934. An dreißig Stellen zugleich wurde der Feind gepackt. Ueberall mit Feiern und Fahnen. Mit Sieges­reden, noch ehe der Angriff auch nur sich entwickelt hatte. Mit Plänen, Plänen, Plänen und mit Erdarbeiten aus öffentlichen durch Wechsel geschaffenen Krediten.

In den Redaktionen häufen sich die Siegestelegramme der Obersten Heeresleitung schon vom ersten Tage. Aus allen Landesteilen werden Neueinstellungen in der Industrie be­richtet. Von der Landwirtschaft ganz zu schweigen. Denn man weiß ja, daß die Bauern sich um die Landhelfer reißen und die abgerissenen, ausgemergelten Wohlfahrtserwerbs= Losen in heller Begeisterung unter stürmischen Heil- Hitler­Rufen aus den Städten zur Landbestellung eilen. Daß einige Hunderttausend dieser Elendsgestalten zwangsweise aufs Land verschickt werden und unter demselben staatlichen Terror an die Tiefbaustellen getrieben werden müssen, weil sie sich mit schlechten Kleidern und mit vom Hunger ge= schwächtem Körper vor der schweren Arbeit fürchten, sind nur fleine Störungen der Großfampftage. Wenn da und dort solche unterernährten Truppen der Arbeitsschlacht ihren wohlgepolsterten Offiziersbonzen den Gehorsam verweigern und als Deserteure eingesperrt werden müssen, so betont das nur die allgemeine stürmische Offensivstimmung.

Stimmung! Die mußte es doch dort geben, wo der Oberste Kriegsherr dieses Feldzuges gegen die Arbeits­losigkeit sich den Truppen zeigte. Man fennt das ja aus den patriotischen Geschichtsbüchern. Wenn die, Majestät und

ihre Paladine vor thre mehr oder minder siegreichen Trup­pen treten, macht sich die Liebe der Soldaten in jubelnder Begrüßung Luft. Darauf haben wir gewartet, als wir am Radio die Göbbels und Hitler zur Front der Arbeitsschlacht reden hörten. Aber wo blieb die Begeisterung? Wo waren die Jubelrufe? Wo wurden die Feldherren stürmisch von ihren begeisterten Arbeitstruppen umdrängt? In der Radio­Uebertragung war nichts davon zu spüren und nichts davon zu hören.

Man kennt diesen Dr. Göbbels als schmissigen, fantasie­vollen Funkreporter. Diesmal versagte er. Seine ein­leitenden Worte an der Autobahn- Baustelle zu unter­haching bei München wuchsen sich zu einem endlosen ledernen, papierenen Vortrag aus. Die Massen nahmen sie auf wie eine akademische Vorlesung. Nicht ein einziges Mal zu­ftimmung. Dünner Beifall am Schluß.

Dann der große Feldherr der Arbeitsschlacht allerhöchst­selbst! Was ist das? Hat er sich Ovationen durch eine große Gefte seiner napoleonischen Herrschermiene verbeten? Nur sehr mäßig und sehr schwach dringen die Zurufe an unser Ohr. Er redet. Er schreit. Er zetert. Er brüllt. Alle Kraft: stellen seines vierzehnjährigen Repertoires werden noch einmal in den Aether trompetet. Aber der Widerhall bleibt aus. Zehn Minuten und länger fein Bravo und kein Heil­ruf. Endlich geben einige Bonzen das Signal und einige Dußend nehmen das Zeichen auf. Aber der Beifall verrinnt rasch. Stärker wurde er nur einmal, als der Reichskanzler mit aller Stimmgewalt sich verschwor, daß er den Preis­steigerungen mit aller Macht entgegentreten werde. Wie, wurde nicht gesagt.

Hinter einem Saße der Kanzlerrede hätte die Stimmung der Zuversicht mit elementarer Wucht durchbrechen müssen. Das war, als er sagte:

men, als er fagte: 2119 129 C

Die große Depression

,, leber 2,7 Millionen Erwerbslose sind im ersten Arbeits­jahr der nationalsozialistischen Volks- und Staatsführung wieder in die Arbeit und damit in die Produktion gebracht worden."

Eifiges Schweigen rund um den Kanzler. Die Arbeiter halten die Lippen fest geschlossen. Keine Hand rührt sich. Vielleicht ballt sich so manche zur Faust. Niemand spendet dem Reichskanzler an diesem Höhepunkt seiner Rede Beifall. Keiner glaubt ihm. Hier am Bauplatz steht er nicht vor seinen Prätorianern oder vor sensationshungrigem Theater publikum. Hier blickt er den Opfern der kapitalistischen Krise und der faschistischen Pfuscher in die Augen. Die lassen sich nicht täuschen. Ihr eigenes Schicksal sagt und beweist ihnen: der Kerl lügt!

Dreifache Heilrufe am Schlusse sollen die Situation retten. Aber noch immer ist das Heil" den deutschen Arbeitern un­gewohnt. Es klingt nur gedämpft, und rasch fällt die Musik mit dem Horst- Weffel- Lied und dann mit dem Deutschland

über alles" ein.

Was war da los? Waren etwa nicht genug begeisterungs­fähige Menschen da? Der amtliche Bericht sagt, daß allein 2700 Mann Münchener Belegschaft der Reichsautobahn an­getreten waren. Ferner hatte die Reichsbahn in sechs Sonderzügen 5000 Arbeiter der DAF. an Ort und Stelle gebracht. Außerdem sind 2000 Mann des Arbeitsdienstes in Unterhaching herangezogen worden. Dazu als Staffage die Delegierten von den übrigen 12 Reichsautobahner in schauluſtig aus München herausgekommen waren, wie uns Deutschland . Im Hintergrunde dann die Zehntausende, die

auch die amtlichen Berichte erzählen.

Warum die Kühle der Massen? Die fühlten, daß da nicht mehr selbstsichere gläubige Propheten sie hochrissen, sondern daß ermüdende schon zweifelnde Führer in der Verteidigung stehen. Was gelten da noch die Rückblicke auf die 14 Jahre ,, marxistische Mißwirtschaft"? Das Volk antwortet: Nun seid Ihr selbst ein Jahr an der Macht, und es geht uns schlechter und schlechter." So stirbt die Begeisterung. Die Diktatoren auf steiler Höh wissen sehr gut, warum sie nicht mehr Fackelzüge und rauschende Siegesfeste veranstalten, sondern rufen und rufen Volk an die Arbeit"!

Das Volk möchte arbeiten. Allerdings nicht nur an irgend= welchen Erdbewegungen zu Löhnen, die kaum höher sind als eine Armenunterstüßung, sondern zu menschenwürdigem Einkommen im Produktionsprozeß einer einst hoch ent­wickelten Industriewirtschaft. Jeder in seinem oft unter großen Opfern erlernten Berufe.

Dafür ist noch immer keine Aussicht vorhanden. Das wissen die deutschen Arbeiter. Das weiß allmählich jeder Deutsche , und darum können die Fahnen und die Blechmusik nicht mehr über die allgemeine seelische Depression hinweg­täuschen. Gewaltige und kostspielige wirtschaftliche Experi mente werden in Deutschland vollführt. Keins davon kann die Hindernisse, die einem neuen Wirtschaftsaufstieg entgegen stehen, hinwegräumen. Das ist nun schon beinahe das all­gemeine Empfinden des deutschen Arbeitsvolks. Darum erlebte man an der Baustelle zu Unterhaching das Wunder: Hitler läßt die Hörer kalt. Er redet ohne Beifall. Siegheil?

Im Chor flingt es wie Unheil.

Ein Bombe in Berlin

Zwei Verletzte

Wem galt das Attentat?

Berlin , 22. März. Das halbamtliche Deutsche Nach richtenbüro meldet: In unmittelbarer Nähe des preußischen Ministeriums des Innern wurde am Mittwochnachmittag von unbekannter Hand ein Sprengtörper geworfen,

bei dessen Explosion ein Chauffeur und ein Passant leicht verlegt wurden.

Berlin , 22. März. Die in ganz Berlin verbreiteten Ge­rüchte, daß es sich bei dem Bombenwurf an der Ede Unter den Linden und Wilhelmstraße um ein Attentat auf den Ministerpräsidenten Göring und den Führer der SA. Berlin Ernst gehandelt habe, dürften nicht das Richtige treffen. Beide haben zwar im Auto die Ecke passiert, um zu der Einweihung des Schiffshebewerts nach Niederfinom zu fahren, aber das ist lange vor dem Bombenwurf gewesen.

Es ist notwendig, von der täglichen Begegnung mit einer Stadt zu berichten. Diese Stadt ist Saarbrücken , Er­scheinungsort dieser Zeitung, Herberge einer menschlichen und politischen Situation, die in Europa nicht ihresgleichen hat.

Ueber Saarbrücken liegen nicht nur die Wolken ewigen Kohlenrußes, die die Stadt trots der Lichtkulisse ihrer Bahnhofstraße in Schwärze hüllt. Es ist, als ständen ihre Be­wohner unter dem Zwange eines Fiebers; Menschen an der Grenze, die einen Pistolenschuß weit entfernt ist, bis zum Bersten gefüllt und gehetzt von einer nahen Entscheidung. Jeder Gang ist für den Wissenden wie ein Gang durch Spaliere, deren Fronten sich gegenseitig betrachten und ab­schätzen. Wer bist Du? Gehörst Du zu uns? Während durch die Membrane unzähliger Lautsprecher die Heilrufe des ,, d. itten Reiches" Erlösung künden, brütet unter den Menschen an der Saar unheilvoll der Haß, jagt sie die Angst, ballen sie die Faust gegen einen Feind. Das ist die Atmosphäre.

Und die Szene? Immer wieder junge Männer mit schwarzen Schirmmützen und schwarzen Stiefeln, gewichst von Ge­sinnung. Mädchen gehen in Reihen. Jede Dritte trägt die braune Weste, die den frischen Wuchs verbirgt, um den Bund zu offenbaren. Seit den Verboten der Regierungs­kommission sieht man kaum noch Abzeichen, aber man schlägt fast mit jedem Blick dem Passanten sein Hakenkreuz entgegen. Ein allzulanges Haar unter dem Hut, ein der Straffheit ermangelndes Schlendern; es macht dich dieser ge­heimen Ordensverschwörung verdächtig! Emigrant? Separa­tist? Marxist? Französling? Aus den Augensternen blitt Dir ein Abstimmungsdatum entgegen; 1935! Man hat, an einem schönen Vorfrühlingstage, schon einmal die Neigung, dies nicht ganz ernst zu nehmen. Aber wer in der Sonne einer dieser schwarzen Scharen begegnet, deren Bizeps deutlich organisiert ist für kommende Dinge, bereit in fanatischem kärchen und der Märzenprimeln. Gehorsam, der ist beschützt vor den Illusionen der Weiden­

Das seltsamste; diese Menschen können lesen, was ihnen beliebt. Sie können sich antifaschistische Zeitungen ver. schaffen, wenn sie wollen, trotz des Terrors wider die Ver­kaufsstände. Warum sie ihre von Hitler gedemütigte Presse bevorzugen? Mit der Erklärung des systematischen Boykotts kommt man allein nicht aus. Es handelt sich um eine Faszina­tion des Glaubens, die mit sozialpsychologischer Einfühlung nicht zu deuten ist. Ein Problem politischer Besessenheit, von Unzähligen fast religiös erlebt; Menschen in heller Furcht vor der Erkenntnis der Wahrheit, um diesen Glauben an das Berufensein eines Führers" nicht zu verlieren, damit sie sich selbst nicht verlieren in den seelischen Abgründen des Zweifels.

Es lohnt nicht, obwohl wir ihre Bedeutung für den politischen Kampf nicht unterschätzen, von den noch zahl­reicheren Mit- und Nachläufern zu reden. Wer Sinn für den hintergründigen Humor menschlicher Erbärmlichkeit besitzt, hat an der Saar unaufhörliche Gelegenheit zu Genießer­freuden. Befehl: Fahnen heraus! Aengstliche Köpfe ragen aus den Fenstern. Was tut der Nachbar, oben, unten, nebenan? Ach, eben erst wurde das Tuch frisch gewaschen! So wird das Ganze zu einer prachtvollen Demonstration von Hakenkreuzlappen im Bekenntnis der Treue für die nächste Wochenschau in den Kinos.

Das Saargebiet hat, obwohl es so weit nach Westen vors geschoben ist, den heißen Atem der Freiheit unter dem Druck des militärischen und bürokratischen Preußentums, in der Abhängigkeit von der nach patriarchalischen Maximen herrschenden Schwerindustrie nie mit vollen Zügen verspürt. Diese Menschen an der Saar ach, sie erleben nicht nur den Mythos des dritten Reiches" mit der Seele. Sie erleben noch etwas dazu, was ihnen prall auf dem Leibe sigt; das Wunder der Organisation, von geschickter Massenkunde, die zugleich die Masse verachtet, diszipliniert, den Zauber der midi, al mot Berge versetzenden Gewalt, die Ordre der Uniform und der Karriere im Herzpunkt ihres unbezweifelbaren Deutschtums. Das ist nicht das ganze Saarbrücken . Aber alles, was darin heute laut ist, in einer finsteren Ekstase. Wer hier arbeitet und deutsches Menschengut im Bewußtsein der Freiheit nicht preisgeben will, der empfindet diese Lage als einen ständigen Griff an seine Kehle. Howald.

Zur Zeit der Explosion befand sich der Ministerpräsident schon wieder auf dem Rückwege nach Berlin . Verletzt wurde neben dem Chauffeur, der sich in Lebensgefahr befindet, der Besizer des Lichtspieltheaters Sapitol", David Oliver, der

vor einigen Tagen den Film Katharina die Große " mit Elisabeth Bergner zum ersten Male in Berlin gezeigt hat. Das Auto Olivers wurde durch den Sprengkörper, der eine Handgranate gewesen sein soll, zerstört. Ueber den Täter ist nichts zu erfahren. Es scheinen nicht einmal Ver­haftungen vorgenommen worden zu sein. Kennzeichnend ist aber, daß die amtliche Propaganda bis zur Stunde die nahe­liegende Version nicht aufgreift, es sei ein marristisches" Attentat auf das fostbare Leben Görings oder eines anderen Nazibonzen gewesen.

100 000 Obdachlose!

Eine japanische Großstadt eingeäschert

DNB. Tokio , 22. März. In Hakodate sind etwa 80 Pro­zent der Häuser durch die furchtbare Feuersbrunst zerstört worden. Die Zahl der Obdachlosen wird auf mehr als 100 000 geschäßt. Zahlreiche Flüchtlinge haben Unterkunft auf den Fahrzengen im Hafen gesucht. Hakodate ist die fünft größte Stadt Japans und die größte Stadt nördlich von Tokio .