,, Deutsche Freiheit", Nummer 80

Das bunte Blatt

Der Zug ohne Bremse

Von einem ehemaligen fürsorgezögling

Alles Hölzerne unseres Eßraums, Fensterkreuze, Türen, Tische, Bänke, war schmußig braun; die Wände dunkelgelb, nach Angabe des Direktors gestrichen. Vor uns hatten wir zerbeulte Blechteller voll Himmel und Erde", eine Geschichte aus Kartoffeln und Aepfeln samt Schalen, Kernen und Ge­häusen. Unsere Hausmutter war sparsam und überzeugt, daß wir die Schalen ruhig miteffen würden. " Schweinefutter!"

Männe Kaptur flatschte den Löffel in den Teller, daß sich viele Kleckie in die nächste Umgebung setzten.

Sauerei!"

Männe hatte mit seinem Schlag nur die vorderste Kupp­Tung eines langen Eisenbahnzuges voll Erbitterung, Haß und Wut gelöst. Der Zug kam ins Rollen, lief immer schneller: -schlagt doch alles zusammen"--Hunde". Hundert­zwanzig Achsen liefen sich heiß. Wir verlangen einfach, daß wir besseres Fressen kriegen und daß der Alte nicht mehr schlagen darf, und daß-

"

Da kam der Alte angesauſt.

Sofort waren alle, die ihn sahen, ruhig. Sie bekamen rote Köpfe, als einige, die den Alten nicht sahen, weiterschrien- ,, und daß wir ein anständiges Taschengeld kriegen" Hunde", dann die Stille wie einen kalten Luftzug spürten, und ohne sich zu vergewissern, sich langsam seßten.

Der Eisenbahnzug hatte eine Kraft, die tausend Häuser, Männer und andere Züge überrennen konnte, die keinen anderen Gesezen zu gehorchen brauchte, als den ihr inne­wohnenden der Schwere und Beharrung. Wenn nicht die lumpige Bremse gewesen wäre. Die Bremse aus Angst, Unterdrückung und Autorität des Fürsorgeamtes. Der Zug stand ganz still. In den Gesichtern stand nur Angst und Be­drückung.

Im Schlaffaal wurde beschloffen, einen Delegierten zum Landesjugendamt zu entsenden. Er sollte die Zustände schil­dern und um Hilfe bitten. Noch in derselben Nacht lockerten wir gemeinsam zwei Gitterstäbe und unser Männe kletterte durch. Wir sahen ihm nach und hatten das Gefühl von Be­lagerten, die einen letzten verzweifelten Versuch machen, ihr Leben zu retten.

II

Am nächsten Tage arbeiteten wir im Freien. Es war die felbe Antreiberei und Schufterei wie sonst, aber wir reagier­ten anders darauf. Das Gefühl, daß irgend etwas im Gange war, das uns helfen würde, während wir hier froren, steifte uns den Rücken. Der Erzieher merkte nichts. Ein Junge war ausgerissen, fertig.

war nur für hundertzwanzig Fürsorgezöglinge getan wor­den. Deshalb wurde auch Männe, nachdem man ihn flüchtig vernommen, zur Strafe in eine sehr strenge Erziehungs­anstalt verbracht.

III

Einige Tage später gab es wieder Radau im Eßraum. Kein Himmel und Erde" sondern:

Töpfe mit Suppe, guter Fleischsuppe; Töpfe mit Kartoffeln, überreichlich; Töpfe mit Gemüse;

Töpfe mit Sauce, fabelhaft riechend und die Hausmutter persönlich, gefolgt von einem plattentragenden Küchenjungen, große Stücke Fleisch austellend. Wir konnten es nicht fassen, es war überwältigend.

Zulegt lag noch ein Stück Fleisch auf der Platte. Männe Kapturs Portion. In der Küche hatte man vergessen, seinen Namen zu streichen. Wir waren auf einmal mißtrauisch ge= worden.

Die Tür ging auf. Hundertzwanzig Köpfe fuhren herum, Herein kamen einige dicke Herren und Damen. Lächelten freundlich: Guten Tag, Jungens", ließen sich Kostproben geben. ,, Hm, schmeckt gut, Jungens, was." Hinter den lächeln­den Dicken stand der Alte, daß keiner wagt nein zu sagen. Er lächelte auch, aber es war zur Hälfte Hohn.

Ganz schnell hatten wir begriffen. Das mit dem guten Essen und den lächelnden Dicken. Diese Herren da spielten Theater.

Samstag, den 7. April 1934

12 Jahre mit der Messerklinge im Gehirn Der Patient hat nichts gemerkt

Amerikanische   Blätter berichten von einem erstaunlichen Fall; ein ehemaliger Kriegsteilnehmer lief fünfzehn Jahre hindurch mit einer abgebrochenen Messerflinge im Gehirn herum, ohne daß ihn diese Verlegung irgendwie behindert hätte.

James P. Sherry, ein Angestellter der Kodak  - Werke in Rochester  , hatte im Weltkrieg an der Westfront gekämpft. Dort wurde er durch ein Schrapnell verlegt und nach einer mehrwöchigen Behandlung im Kriegslazarett als geheilt ent­laffen. Nach Beendigung des Krieges fehrte er nach Amerifa zurück, heiratete und ging seinem früheren Beruf nach, ohne daß sich irgendwelche Folgen der Kriegsverlegung gezeigt hätten.

Vor furzem stellten sich bei ihm jedoch Kopfschmerzen ein, die sich immer häufiger wiederholten, so daß Sherry   einen Arzt zu Rate zog. Dieser fonnte trop sorgfältiger Unter­suchung zu keinem Ergebnis kommen und schickte den Patienten in eine Klinif, wo er geröntgt werden sollte.

Durch die Röntgenaufnahme wurde die überraschende Fest= stellung gemacht, daß Sherry   eine Messerspiße im Gehirn stecken hatte. Er wurde operiert und befindet sich jetzt, nach der geglückten Entfernung des Fremdkörpers, auf dem Wege der Befferung. Auf welche Weise die Messerspizze bei der Explosion in seinen Kopf fam, ist für die Aerzte nicht ganz flar. Sie vermuten, daß die Spize in die Füllung des Schrap­nells geraten war. Das Erstaunliche aber ist, daß der Ver­letzte selbst nicht gewußt hat, welch gefährlichen Gegenstand er fünfzehn Jahre lang in seinem Gehirn herumtrug.

Wir dachten daran, daß fie unseren Männe verhaftet hatten, Der Roboter von Paris  

und daß sie große Reden hielten, und daß sie es waren, die alle Papiere, die uns zu dieser Hölle verdammten unter­schrieben. Jetzt spielten sie vor uns armseligen Fürsorge­zöglingen Theater: Schmeckt gut, Jungens, was." Was in uns vorging, war einfach, daß die Bremse an dem Zug kaputt ging.

Es entwickelte sich rasch eine Feindseligkeit, eine eisige Kluft zwischen den Dicken und uns, die die Dicken vergebens mit Worten zu überbrücken versuchten. Die Kluft wurde aber immer größer. Wir schwiegen und blickten drohend nach dem Häuschen hin, in dessen Mitte der Alte stand. Er hatte das Grinsen vergessen. Die Dicken wollten sich einen guten Ab­gang sichern und gingen. Wiedersehen, Jungens." Wir lachten und brüllten hinter ihnen her. Sie sahen sich nicht um. Es war eine Flucht.

Der Zug hat keine Bremse mehr.

Wenn jetzt jemand oder etwas die Kupplung auslöst...! Golv.

Am dritten Morgen schneite es. Wir bekamen schwere Aaktkulturpräsident nimmt ärgernis

Schuhe und gefütterte Soldatenröcke. Wir füllten und schoben die Loren und der Schneematsch und die feuchte Luft drückten uns nieder. Zweifel über Männes Erfolg tauchten auf: Ob er überhaupt wiederkommt?"

,, Wir verklagen den Teufel bei seiner Großmutter." Die Bande steckt unter einer Decke."

Soll das also immer so weiter gehen mit dem Schuften und der saumäßigen Fresserei."

Es ging wirklich so weiter. Am Abend schlug der Erzieher Overdick einem der kleinsten Jungens die Nase blutig. Am folgenden Tag gab es wieder Himmel und Erde". Mit Schalen, Kernen und Gehäusen. Es gab einige Unruhe, aber zu einem ernsthaften Krach kam es nicht. Alle waren ent­mutigt, denn alle hatten auf das Erscheinen des Delegierten gewartet. Wir waren sehr niedergedrückt.

Währenddessen war Männe durch die verschneiten Wälder des Taunus   gelaufen. Siebzig bis achtzig Kilometer in jeder Nacht. Er konnte nur bei Nacht marschieren, da er in An­staltskleidung geflohen war. Es war keine Heldentat, denn es

Der Präsident der amerikanischen Liga für Nactfultur ging dieser Tage natürlich bürgerlich angezogen in eine Music- Hall auf dem unteren Broadway. Es wurden die neuesten Tanzschöpfungen der Saison gezeigt, umrahmt von Songs und Stetschs, die gerade die Grenze des Erlaubten streiften. Der Herr Präsident war mit diesen Darbietungen gar nicht recht zufrieden. Ganz aus dem Häuschen ging er aber, als plötzlich sechs Tänzerinnen auf die Bühne sprangen, die wohl bekleidet waren, aber durch die Raffiniertheit ihrer Kleidung, die nur aus einigen Zentimetern Silberlame bestand, derart auf das Publikum wirkten, daß der Präsi­dent der Nadtfulturliga fich in seinem Schamgefühl aufs gröblichste verlegt fühlte. Er sprang auf, schrie wild in die Vorstellung hinein, ein Aufruhr entstand, Polizei schritt ein und brachte den wild um sich schlagenden Herrn an die frische Luft. Beim Verhör auf der Wache ergab sich die seltsame Ehrenstellung des Krakelers, der erklärte, gerade die An­deutung der Kleidung und die scheinbare Verhüllung einiger Körperteile sei unanständiger, als jede Nackt kultur  , denn der freie unbefleidete Mensch wäre das reinste auf der Welt.

250 000 Pariser   wollen monatlich von der Post wissen, wie spät es ist. Sie rufen neugierig beim Telefonamt an und er­halten auf ihre Anfrage die genaue Zeit. Die interessante Neuerung ist, daß es teine menschliche Auskunft ist, die der Mann am Hörer erhält, sondern die Antwort eines Uhren­Roboters. Eine Platte ist derartig exakt besprochen, daß sie fortlaufend die Zeit angibt und auf automatischen Anruf automatisch antwortet. Die Engländer wollen diesen Apparat jetzt auch für London   einführen, denn die Oberpostdirektion hat ausgerechnet, daß diese sprechende Uhr durch Vermehrung der Telefonrufe dem Staatssäckel im Jahre zirka zehn Mil­lionen Franken einbringen würde, etwa das Doppelte von dem, was Paris   an seinem Uhren- Roboter verdient.

Kathederblüten

Luftige Anekdoten

Die meisten römischen Raiser fielen durch Selbstmord oder durch fremde Hand. Dagegen erlebte Diokletian   die große Genugtuung, eines natürlichen Todes zu sterben.

Wäre Cäsar nicht über den Rubikon gegangen, so läßt sich gar nicht absehen, wohin er noch gekommen wäre.

Wir haben es hier mit einer Heldin, und zwar in diesem Falle mit einer weiblichen Heldin zu tun.

Gestern habe ich einen Aufsatz gelesen, durch den ich belehrt wurde, daß die Hosen, die wir tragen, aus dem Jahre 1800 stammen.

Die venezianische Verfassung ist eine gemischte Aristokratie, aus der es schwer ist, wieder herauszukommen..

Gotha   ist nicht weiter von Erfurt   entfernt als Erfurt   vont Gotha  .

Die Kälte wächst gegen den Nordpol   um zehn Grad, zuletzt hört sie ganz auf.

Liebesheirat des Himmelssohnes

An der Rechtsfakultät der Pariser   Sorbonne war vor einem Jahr zugleich mit vielen ihrer Landsleute eine junge chinesische Studentin eingeschrieben: Fräulein Nguyen Huu Hap. Die neue Generation hat die tausendjährigen Tradi­tionen asiatischer Lebensweisheit und Lebenskunst abgestreift und gegen nüchterne, normalisierte Formen eingetauscht. Fräulein Hao trat als durchaus moderne Dame mit stark ausgeprägtem Freiheitsdrang auf, ganz wie ihre euro­päischen Kolleginnen. Die Nächte hindurch saß sie in den Cafes des Quartier Latin   und rauchte ganze Pakete von ,, bleu", den schwarzen, kräftigen Korporalszigaretten. Statt des geblümten Kimonos trug sie einen Tailleur aus einer Werk­stätte der rue de la Paix und ihre Schuhe waren wahrschein­lich nach Maß auf dem Boulevard des Jtaliens gemacht. Troß dieser äußerlichen Europäiſierung aber blieb sie, als was ihre Vorfahren sich bezeichneten: Ein Kind des Him­mels, ein unwirkliches blumenhaftes Geschöpf des Fernen Ostens, in die graue europäische Wirklichkeit des Jahres 1933 verschlagen. Trat sie in den Vorlesungssaal, so wurden ihre Kollegen plößlich leiser, fie ließen die groben Ausdrücke des Pariser   Argot, sie waren beflissen um sie. Sie nahm alle Aufmerksamkeiten mit einer rührenden Selbstverständlichkeit hin, in der sich Zaghaftigkeit und Sicherheit sonderbar mischten. Ihre Professoren schäßten in ihr eine begabte, schnell auffassende Schülerin von äußerster Kultiviertheit und Beschlagenheit in allen Bildungsdingen.

Neben geistigem Wissen eignete sich Nguyen Huu Hao auch ein paar banale Kenntnisse an. Sie interessierte sich zum Beispiel dafür, wie man einen europäischen Rostbraten zu­bereitet, selber eine Kleinigkeit an einem Hut oder Kleid perändert. Wer weiß," dachte sie sicherlich, vielleicht werde ich einmal Hausfrau..." und sie wollte eben ein modernes europäisches Mädchen up to date" sein.

Von Jean Laurent

Da machte fie eines Tages an der Sorbonne auf den Bänken der Rechtsfakultät die Bekanntschaft eines Prinzen von Annam. Heute ist er schon Kaiser seines Landes, S. M. Bao Dai  . Aber damals studierte er noch sehr fleißig euro­päische Rechtswissenschaft. Nach der Vorlesung gingen der Prinz und die fleine Chinesin in ein Cafe des Quartier Latin   und rauchten endlos blaue". Sie sprachen von Politik. der Frühlingsblüte in Annam und dem neuesten The- Dan­sant in Deauville  . Der Prinz war hingerissen: er hatte sich schon immer eine so europäisch vorurteilslose, fluge und offene Kameradin gewünscht. Ehe er etwas dazu tat, war er schon verliebt.

Und neun Monate später gab der Hof von Annam seinem Volke folgendes kund:

Entsprechend den Wünschen Ihrer Majestät der Kaiserin­mutter und Ihrer Majestät der Kaiseringroßmutter haben Wir beschlossen, uns zu verehelichen. Wir haben dazu eine Frau von untadeliger Erziehung gewählt und beschließen, Sie zum Rang einer Kaiserin zu erheben.

Wir haben beschlossen, mit den Sitten der Vergangenheit zu brechen.

Genau so wie wir bei der Wahl unserer Mitarbeiter feine Wahl zwischen Nord und Süd machen, ebenso ließen Wir Uns bei der Wahl der zukünftigen Lebensgefährtin nur durch Ansehung ihrer Verdienste leiten.

Wir hoffen, daß Sie durch Ihr Beispiel vollauf den Ihr zustehenden Titel: Die erste Frau des Reiches" verdienen wird.

Sobald Sie Einzug in den Palast gehalten hat, wollen Wir Sie in den Raiserlichen Purpur einkleiden.

S.. Sao Sai

Aber so einfach war es doch nicht. Nguyen Huu Hao ist gläubige Katholikin. Der Prinz Buddhist. Er wollte gerne

dem Wunsche seiner Gattin nachkommen und sich nach katho­lischem Ritus trauen lassen unter der Bedingung, daß er sich nicht zum Katholizismus tonvertieren müsse. Denn dies fäme in seinem, dem buddhistischen Glauben anhängenden Lande geradezu einer Umwälzung gleich, die von den ernste­sten staatspolitischen Konsequenzen begleitet wäre. Steben Monate gingen nun die Unterhandlungen mit dem Heiligen Stuhl zur Erlangung der Erlaubnis hin und her, die Ehe nach katholischem Ritus zu trauen. Die Erlaubnis wurde schließlich verweigert.

Da beschloß nun die Prinzessin, zum Glauben ihrer Vor­fahren zurückzukehren. Die Ehe wurde nach buddhistischer Sitte geschlossen, aber durchaus nicht mehr mit dem früheren Aufwand, sondern ganz schlicht, abgekürzt und fast europäisch sachlich. Die Prinzessin wurde inthronisiert, die künftigen Gatten tauschten die Namen aus und taten das übliche Gebet zu den Vorfahren, das war alles.

Der Hof von Hue, der das Versailles   oder Schönbrunn   von Annam ist, sah freilich die rasche Liebesheirat und die mo­derne Prozedur nicht ganz ohne Erstaunen und ohne Kritik. Nicht daß man dem Herrscher verübelt hätte, ein Mädchen aus bürgerlichem Geblüt geheiratet zu haben, im Gegenteil. Ein altes annamitisches Gesetz untersagt den Kaisern aus eugenetischen Gründen, sich mit anderen Frauen als solchen unaristokratischer Herkunft zu verheiraten. Aber das euro­päische Tempo erregte Mißfallen, die Unterhandlung mit dem Papst und die nur ganz oberflächliche Beobachtung der Ahnenfitten. So hatte die junge Frau es vorabsäumt, sofort nach der Trauung sich in die Gemächer der Kaiserinmutter zu begeben, um acht Tage lang Schwiegertochter zu sein", das heißt, sich von der Schwiegermutter über die Anforde rungen der Ehe aufklären zu lassen. Das junge Paar hielt aber anscheinend solchen Unterricht bereits für überflüssig und ist fest entschlossen, als modernes Herrscherpaar über Annam zu regieren und nie ganz die Stunden des Quartier Latin   zu vergessen...