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Freiheit

Nummer 85-2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken - Paris , Freitag, 13. April 1934 Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

Die

geheimnisvolle Handgranate

Ein Brief Severings Das ,, Wunder"

Seite 2

Seite 3

der Marneschlacht

Seite 3

Der Reichskanzler verbietet

Seite 7

England wird unruhig

Neue alarmierende parlamentarische Anfragen über Deutschlands Rüstungen

London und Berlin

London , 12. April. Die britische Anfrage an die deutsche Reichsregierung wegen der bedeutenden Erhöhung des deutschen Rüftungshaushalts ist schon am Montag dieser Woche erfolgt. Man erwartet eine eingehende schriftliche Antwort, die der Außenminister Sir John Simon als Unterlage für die Beantwortung der vorliegenden Par: lamentsinterpellationen benutzen will. Der deutsche Reichs: außenminister von Neurath hat dem britischen Bot: schafter mündlich mitgeteilt, die im Reichshaushalt ein= gesetzten höheren Summen seien lediglich für den Fall gedacht, daß im Laufe dieses Haus­haltsjahres eine Rüstungskonvention aus standekomme, die dem Deutschen Reich eine entsprechende Erhöhung seiner Mannschafts-, Waffen- und Material­bestände zugestehe. Wenn die schriftliche Antwort Deutsch­ lands keine andere Erklärungen enthält, wird sie weder die britische Regierung noch die öffentliche Meinung beruhigen. -Mehrere Parlamentsmitglieder beabsichtigen, die erhöhten Ziffern des deutschen Wehrhaushalts zum Anlaß weiterer Anfragen im Unterhaus zu machen.

Der deutsche Propagandaminifter Göbbels wartet mit einem neuen, ihm gemäßen Mittel auf, um den Versuch zu machen, die Sympathien der englischen Presse zu gewinnen. In den großen englischen Blättern, wie Times", Daily Telegraph ", Daily Expreß " usw. läßt er durch das ihm unterstellte Werbebüro der Deutschen Reichsbahn enorme Anzeigen erscheinen, die für den Besuch Deutschlands werben. Man liest dort, daß die Touristen eine durchaus freundschaftliche Atmosphäre" finden würden und daß ihnen der wärmste Empfang" bereitet werde. Göbbels preift die Reize Berlins und Nürnbergs ( wo der Mordantisemit Streicher regiert), er empfiehlt Oberammergau und Pots dam, Stadt Friedrichs des Großen..., wo 600 Häuser aus der Epoche des berühmten Monarchen erhalten geblieben find" von dem Potsdamer Geist spricht er nicht.

Wachsendes Mißtrauen Weitere parlamentarische Anfragen

London , 12. April. Die Unruhe in parlamentarischen Kreisen über den deutschen Wehrhaushalt nimmt zu. Vor allem wird der Konservative Boothby am nächsten Mon­tag den Staatssekretär des Aeußeren nochmals fragen, ob er in irgendwelcher Weise Informationen über die Ers höhungen in den deutschen Flotten, Heeres- und Lufts voranschlägen geben kann und ob die britische Res gierung beabsichtigt, irgeneine Attion in der Angelegenheit zu unternehmen." Das liberale Mitglied Mander will die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Angebote deutscher Werften für den Bau von Kriegsschiffen für die brasilianische lotte richten und fragen, welche Aktion beabsichtigt sei angesichts der Tatsache, daß dies unter Artikel 170 und 192 eine Verlegung des Bersailler Vertrages darstelle. Das unionistische Parlamentsmitglied, Bris gadegeneral Clifton Brown, will am nächsten Dienstag an den Präsidenten des Handelsamtes die Frage stellen, ob er angesichts der Tatsache, daß Deutschland sich weigere, feine Anleihen zurüdzuzahlen, ob: gleich es zur selben Zeit große Summen für Wiederaufrüstung ausgebe, Schritte unternehmen werde, um ein Einfuhrverbot auf alle nach England eingeführten deutschen Waren zu legen, bis Deutschland seine Sonderausgaben für Rüstungen herabsetze.

..Teufelswerke

Zur Stimmung in England

Es gibt viele, die der Göbbelschen Propaganda im Aus lande Wunderwirkung zutrauen. Wie es in Wirklichkeit damit beschaffen ist, erfährt man überzeugend aus fol­gendem, englischen Brief" des Temps ", des großen und maßvollen franzöfifchen Weltblatts. Der von Robert 2. Cru geschriebene Bericht lautet:

" Vor Jahresfrist haben wir hier die heftige Feindseligkeit der neuen Diktatur, in England gegen den hitlerschen Baschismus zeigte. Zehn Tage später war der Eindruck, den

mir von der öffentlichen Meinung Englands gaben, vollauf bestätigt durch eine große Aussprache im Unterhaus, in deren Verlauf Sir Austen Chamberlain und andere Redner sich mit Macht gegen die Unduldsamkeit und Gewalttätigkeit der

Nazis in Deutschland erhoben. In den zwölf Monaten, die seitdem verflossen, scheint das Wort Nazitum mehr als das Wort Faschismus genannt zu werden, wenn man in England von diesem großen Volke spricht, das in die Sklaverei ge­stürzt sei". Das Phänomen der Abdankung der deutschen Demokratie oder ihrer Vernichtung durch tückische und ge­wissenlose Mächte flößt den Engländern nach wie vor das Gefühl eines aufrichtigen Bedauerns ein:

Man hegt in der Tat allgemein das Gefühl, daß diese sogenannte Revolution des dritten Reichs" dem deutschen Bolte viel foften wird, und vielleicht auch anderen Völ fern. Insgesamt sind alle Engländer ohne Unterschied der Partei überzeugt, daß man in Deutschland einem wirks lichen Rückschritt der Zivilisation gegenübersteht.

Alle Arten Mitteilungen, die man seit einem Jahr vom durch unparteiische Zeugen, durch Reisende, Nachforscher, Reich erhält, nicht bloß von verfolgten Flüchtlingen, sondern britische Zeitungsleute, und durch die fast täglichen geräusch­vollen Echos der Nazi- Versammlungen, die die Sender über die deutschen Grenzen tragen, geben den Engländern er­heblich zu denken. Es ist so, wie damals, als der Dichter 1871 angesichts des herzzerreißenden Anblicks des besiegten Frankreichs schrieb, scheinen sie alle Tage angesichts des wahnsinnigen Deutschlands zu sagen:

We see a vacant place, We hear an iron heel

( Wir sehn die leere Stätte,

Wir hörn den eisernen Huf...)

Ja, man fann behaupten, daß, trotz aller Tätigkeit der Gesandtschaften, der gewöhnlichen wie der außergewöhn­lichen, des Führers und seiner Herrschaft, das England von heute sein Mißtrauen im Laufe dieses Jahres ver­stärkt hat, statt es zu zerstreuen. Der italienische Faschis­mus war keine Bedrohung für die britischen Inseln, und nach einigen Strafpredigten, die Ende 1922 über den Preis, den jedes Volt, das seine Freiheit aufgibt, gehalten wurden, nahm man in England die musolinische Revolution ziemlich philosofisch auf. Ganz anders stellte man sich gegenüber dem hillerschen Umsturz:

er bildet eine direkte Gefahr, nicht nur für die Verteidi: gung des britischen Reichs, besonders in der Luft, dann auch auf der See, mehr noch für den allgemeinen Welt: frieden, und darüber hinaus ist er eine unverschämte Leugnung des Glaubens der Engländer an die Demokratie, der seit mehr als sieben Jahrhunderten geheiligt ist. In den Augen eines Ausländers ist die auffallendste Tatsache der Zeit von April 1933 bis April 1984 die wachsende Un­ruhe und Erreeung, die dem englischen Bolte durch die lauten und tölpelhaften Rundgebungen des germanischen Nazitums bereitet werden,

Wie üblich in diesem Lande, hat sich eine Gesellschaft ge= bildet, um das Nazitum und sein Evangelium zu bekämpfen, das ebenso gefährlich für die anderen Völker wie unheilvoll für die Engländer ist. Diese Gesellschaft heißt Freunde Europas ", und seit etwa zehn Monaten hat sie elf Bro­schüren herausgebracht, die bestimmt sind, die Gefahren der neuen politischen Auffassung Deutschlands zu zeigen. Diese Veröffentlichungen sind die folgenden Hitler und die Auf­rüftung" von J.-L. Garvin, Sitler, Deutschland und Europa " von einem deutschen Diplomaten, Die Zukunft Europas" von Wickham Steed , Die Gefahr für Europa ", Die Hoffnung Europas " von Professor Ein­ stein , Das aufgerüstete Deutschland " von einem unge­nannten Deutschen , Die deutsche Industrie bereit zum Kriege" von einem deutschen technischen Sachverständigen, Rede über Deutschland "( im Unterhause am 13. April und 5. Juli 1933) von Sir Austen Chamberlain , früher Außenminister, Wie verhindern wir den Krieg durch ge= meinsame Aftion?" von Lord Howard of Penrith,

"

früherem Botschafter in Washington , Ein Jahr Hitleris mus", eine Sammlung der Artikel des Berichterstatters der Times" in Berlin , mit Vorwort von Sir Edward Grigg , Mitglied des Parlaments, Der Einfall in Groß­ britannien ", Die Militärwissenschaft des Professors Banse", mit Vorwort des Admirals Sir Herbert Richmond, Ein Handbuch der Geschichte für die Nazi- Schulen"( 1914 bis 1988) mit Vorwort von M. Ernest Barker , Professor der Universität in Cambridge . Diese Broschüren können auf

Wunsch zum Preise von 2 pence 0,70 Fr.) vom Sefretariat Friends of Europe", 97, St. Stephen's House, Victoria

Embankment, London S. W. 1, bezogen werden. Die Serie hat eben erst begonnen, weil die Freunde der Freiheit und des Friedens in Europa selbstverständlich noch viel über das ungewöhnliche Regierungssystem, das sich in Deutschland eingesetzt hat, zu sagen haben, dieses Gewaltsystem, das sich, mie alle Ensteme seinesgleichen, als Retter einführt und nichts als ein gewaltiger Zerstörer ist.

Fortsegung fiebe 2. Sette

Gestern und heute

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,, Stellt mich vor eine Armee von Kerlen wie ich, und ich will euch eine Republik schaffen, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster gewesen sind" dieses Wort des Schillerschen Räuberhauptmanns Moor ist im ,, dritten Reich" verwirklicht worden. Wir wissen schon aus einer Reihe von Erlassen der Amtsstellen oder aus Aeußerungen maßgebender Vertreter des neuen ,, Systems", daß in Schulen und bei Staatsprüfungen weniger Wert auf Wissen als auf ,, Lebenstüchtigkeit" und Charakter" wie diese Worte von den Herren aber auf­gefaßt werden gelegt werden soll; daß Schüler und Studenten die Zeit, die sie für die ,, nationale Bewegung" geopfert haben, anstelle der verbummelten Studienzeit ange­rechnet werden soll, und ähnliches mehr. Gehirnfazken und Bücherwürmer werden in Hitlerdeutschland sicher nicht mehr gezüchtet.

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zählt ein amtlicher Runderlaß. Danach soll der Unterricht Welcher Art heute die Jugendausbildung ist, davon er­in Leibesübungen an allen Schulen einheitlich- in Mädchen­schulen ,, sinngemäß" in Wort und Sache der Ausbil. dung der Reichswehr nachgebildet und zugleich er­heblich ausgedehnt werden, Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Rekrutenschule, die zwar keine Waffen­übungen einschließt, sonst aber eine vollständige, höchst intensive Vorbildung zur Feldschlacht und zum Grabenkampf darstellt.

Da sollen für alle Schulen Hindernisbahnen ange. legt werden, die aus mindestens 14 Hindernissen: Gräben bis Schwebebalken, Mauer und Drahtverhau bestehen, auch ver­zu 2 Meter Tiefe, Bretterwänden bis zu 2 Meter Höhe, mehrt und erschwert werden können. Diese sollen täglich mehrmals durchlaufen werden; sie können durch Tragen von 2 Meter langen Bohlen und Rundhölzer erschwert werden. Das heißt, daß die noch für den Unterricht verbleibende Zeit sich ausgezeichnet zum Ausruhen von diesen schweren Anstrengungen verwenden läßt. Damit sie aber doch auch der Schulung des Geistes zugute kommt, soll sie vor allem der ,, vaterländischen", d. h. chauvinistisch- militärischen Dressur dienen. Dem Jungen soll vor allem Achtung vor den heroischen Jahren 1914-1918" beigebracht werden., An­dererseits muß aber der deutsche Junge selbst darauf vor­bereitet und zum künftigen Schützen seines Vaterlandes herangezogen werden. Stolz und gerne wird der deutsche Knabe diese Pflicht auf sich nehmen."

So ist die Unterrichtszeit dem ,, vaterländischen Unterricht" im üblen Sinn der Kriegsjahre gewidmet, so wird durch eine Jugendzeitschrift: Kriegskunst", die den Krieg in den ver. lockendsten Bildern darstellt, dafür gesorgt, daß auch für die Freizeit, soweit sie nicht von Tages- und Nachtmärschen und vaterländischen Anlässen jeder Art beansprucht wird, die lesedurstige Jugend in diesen Dunstkreis gebannt bleibt. Für die Lehrer besteht ,, Die deutsche Volkskraft", eine Zeit­schrift, in der von Generalstabsoffizieren die Methodik des neuen Unterrichts gelehrt wird.

Die besten und interessiertesten Jungen sollen weiterhin zum Nachrichtendienst bei Tag und Nacht: Leitungs­bau, Blinken, Morsezeichen, Funk- und Fernsprechdienst, herangezogen werden. Dazu soll taktische Ausbildung treten und so eine Nachtrichtengruppe ausgebildet werden, die den Befehlshaber in jeder Gefechtslage über den Stand der Kampfes handlung auf dem laufenden hält. Durch Wettkämpfe der einzelnen und ganzen Gruppen soll die Leistung gesteigert werden. Es kann nicht ausbleiben, daß eine derartig kriegsgemäße Ausbildung eine Reihe roher Mißhandlungen Mindergeschickter und zahlreiche Un. fälle und Erkrankungen mit sich bringen wird. Schlimmer aber ist die geistige Verödung, die seelische Verhärtung gegen alles Menschliche, die diese Vorbereitung zum Massenmord als Hauptinhalt der Jugenderziehung herbeiführen muß.

Das dritte Reich" läßt gerne von Aufbau reden. Seine Jugenderziehung aber ist nicht Aufstieg, sondern Absturz in rohen Materialismus, der die Marschmuskeln höher bewertet als die Gedanken und die Kraft der Nation an ihren mili­tärischen Leistungen mißt und nicht an ihrer friedlichen Arbeit.

Noch ein paar Jahre so weiter, und die Welt wird in furchtbaren Ereignissen erkennen, was diese Jugend­erziehung bedeutet. Argus.

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