Pomiare

Freiheit

Nummer 892. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Mittwoch, 18. April 1934

Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

Geschichten um Trotzki  

Seite 2

Probleme

der deutschen   Emigration

Seite 3

Hitler braucht Dollars

Seite 4

Internationale

Rüstungskonjunktur

Seite 7

Gehorchen oder hungern!

Richtlinien für die Betriebsdiktatur

Effen, 16. April. Der Treuhänder der Arbeit für das Wirt­schaftsgebiet Rheinland Pg. Willi Börger hat nach­stehende Betriebsordnung als Vorschlag an alle Betriebs­führer und Vertrauensräte des Treuhändergebietes Rhein­land herausgegeben. Börger ist ein durch eine Professur und andre Mittel geföderter früherer Arbeiter. Die Richtlinien haben dokumentarischen Wert zur Ausführung des Gesetzes über die nationale Arbeit, denn sie lassen erkennen, daß die Treuhänder, die bei der kürzlichen Krise sich im Amte halten konnten, das Gesetz im Sinne einer vollen kapitalistischen  Betriebsdiktatur auslegen. Man wird in den folgenden Richtlinien vergebens nach irgendwelchen Rechten der Ge­folgschaft" suchen. Zwar werden an einer Stelle die Arbeits­fameraden" zu freimütiger sachlicher Kritik" aufgefordert, aber dann werden sie immer wieder mit allen möglichen Strafen bis zur allgemei nen Aechtung, das heißt die dauernde Brot­Iosmachung und das langsame Hungerster­ben bedroht. Die Richtlinien lauten wörtlich:

Deutsches Leben ist Arbeit.

1.

Alle Arbeit nur für Deutschland  .

2.

In diesem Sinne verbinden sich Führer und Gefolg= schaft im Betriebe zu einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft.

3.

Wer dieser Gemeinschaft angehören will, muß sich inner­halb und außerhalb des Betriebes stets national sozialistischer Gesinnung befleißigen. Ueber die Bugehörigkeit zur Betriebsgemeinschaft( Einstellung) ent scheidet der Betriebsführer oder sein Ver­treter in Beratung mit dem Vertrauensrat.

Es sind Maßnahmen zur Heranziehung eines gesin­nungsmäßig und fachlich tüchtigen Nachwuchses für den Betrieb zu treffen.

4.

Die Betriebsgemeinschaft beruht auf gegenseitigem Ver= trauen. Quertreibereien, Mißgunst und Nör­gelei haben in ihr feinen Raum. Dagegen ist jeder Arbeitsfamerad zu freimütiger, sachlicher Kritik, zur Erteilung von Anregungen, die der Verbesserung der Ar­beitsbedingungen und des Arbeitsergebnisses dienen, nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet. Hierfür stehen der Füh­rer, seine Beauftragten und der Vertrauensrat zur Ver­fügung. 5.

Das Maß und die Stetigkeit der Betriebsleistung sind die sicherste Gewähr für die Höhe und die Stetigkeit der Lebens­haltung aller Mitglieder der Betriebsgemeinschaft und ihrer Familien.

Für die Entlohnung ist deshalb die Leistung maß­gebend, und zwar die Leistung des einzelnen Ar= beitskameraden und des gesamten Betriebs.

Die sozialistische Verpflichtung gegenüber Volt und Fa­

milie erfordert deshalb freudigen Einsatz aller Kräfte inner­halb der Betriebsgemeinschaft.

6.

Arbeit ist Leben. Oberste Pflicht der Betriebsgemeinschaft ist es deshalb, Leben und Gesundheit aller im Betriebe Schaffenden als kostbarstes Gut zu schützen.

Hiernach bestimmt sich entsprechend der Verantwortung und Anstrengung der Tätigkeit die Dauer der Arbeitszeit und der Ruhepausen sowie die Dauer des in jedem Jahr zu gewährenden Erholungsurlaubs.

Der Führer, seine Beauftragten und jedes Mitglied der Gefolgschaft haben Vorsorge zu treffen, um Betriebs­unfälle zu verhüten. Wie es Aufgabe der Betriebs­leitung ist, für gesunde Arbeitsstätten, brauchbares Gerät und einwandfreie gesundheitliche Einrichtungen zu sorgen, so ist es Pflicht der Gefolgschaft, den Arbeitsplatz, Maschinen und Werkzeug und die gesundheitlichen Einrichtungen in Ordnung zu halten.

7.

Der Sinn unseres Lebens ist Arbeit am deutschen   Volk, und zwar an dem Platz, auf den jeder gestellt ist.

Die schwerste Entscheidung für Führung und Vertrauens: rat ist daher die Kündigung eines Arbeitskameraden der Betriebsgemeinschaft.

8.

-

vor=

Die Betriebsgemeinschaft baut sich auf der Grundlage der Ehre auf. Wer daher gegen die Ordnung der Betriebs­gemeinschaft verstößt, hat dementsprechende Maßnahmen zu erwarten. Als solche sehe ich innerbetrieblich für die Ge= folgschaft je nach der Schwere des Verstoßes an: Mündliche Verwarnung durch den Führer und Ver­Bekanntgabe des Namens an die Betriebs­trauensrat- gemeinschaft durch Aushang am Schwarzen Brett, übergehenden Ausschluß aus der Betriebs­- endgültigen Ausschluß aus gemeinschaft der Betriebsgemeinschaft.- Nichtnationalsozialistisches, d. h. ehrloses und gemeinschaftsfeindliches Verhalten, wie z. B. Verleum­dung und böswillige Verhebung der Arbeitskamera­den, begründet selbsttätigen Ausschluß aus der Betriebsgemeinschaft.

-

Unbeschadet dieser innerbetrieblichen Realung kann der Treuhänder der Arbeit in jedem Falle eingreifen. Verstöße der Betriebsführung gegen den Geist der Be­triebsgemeinschaft, wie z. B. Mißbrauch der Macht­stellung, werden vom Treuhänder der Arbeit geahndet.

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Wer rechtswidrig das Arbeitsverhältnis auflöst und da­mit aus der Betriebsgemeinschaft ausscheidet, verwirkt da­mit jeden Anspruch an den Betrieb.

10.

Aufgabe des Führers, des Vertrauensrates und jedes Mitgliedes der Gefolgschaft muß es sein, das ganze Werk mit dem Gemeinschaftsgeist des Na= tionalsozialismus zu durchdringen, damit das ganze Schaffen und Leben ein Tatbekenntnis zu der Forderung unseres Führers Adolf Hitler   wird.

Gemeinnuß geht vor Eigennut.

Die Antwort der Arbeiter

Protest durch ungültige Stimmen

Eine Bekanntmachung des Reichsarbeits- und Reichswirt­schaftsministers wendet sich dagegen, daß betriebsfremde Streise", wie berichtet werde, den Versuch unternehmen, in die Wahl" der Vertrauensräte einzugreifen, namentlich auf die Zusammenstellung der Wahllisten Einfluß zu ge­winnen. Die Bekanntmachung der beiden Minister erklärt: ... Derartige Versuche sind unzulässig und stehen in scharfem Widerspruch zu Geist und Inhalt des Ge­sezes zur Ordnung der nationalen Arbeit. Dieses Gejezz, das auf der Grundlage der Zusammengehörigkeit aller Betriebsangehörigen beruht, geht davon aus, daß soweit mie möglich die Beziehungen des Führers eines Betriebes und seiner Gefolgschaft im Betriebe selbst geregelt werden müffen. Das Gesetz will also gerade Einmischungen be­triebsfremder Elemente, wie sie früher von Gewerk­schaften vorgenommen worden sind, ausschließen und die Selbstverantwortlichkeit der im Betrieb tätigen Men­schen stärken. Es bestimmt daher, daß lediglich der Führer des Betriebes

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im Einvernehmen mit dem Betriebszellenobmann des Be­triebes die Wahllisten der Vertrauensmän­ner aufstellt und die Wahl durchführt.

Betriebe darf von keiner Organisation mehr, wie früher von den Gewerkschaften, angetastet oder eingeschränkt werden. Auch was im dritten Reich" an Stelle der Gewerkschaften getreten ist, wie NSBO., Arbeitsfront u. dgl., hat sich jeden Hineinredens in den Betrieb zu enthalten. Lediglich der Führer", d. h. der Unternehmer, bestimmt die zu wäh­lenden Vertrauensmänner, er ist wieder, wie vor einem halben Jahrhundert, unbeschränkter Herr im Hause". Natio­naler Sozialismus"!

Ein großer Teil der so zurechtgemachten Wahlen" hat schon stattgefunden. Das Ergebnis wird meist totgeschwiegen. Man findet aber in der Effener National- Zeitung" einige Zahlen veröffentlicht, die sehr aufschlußreich sind, obwohl anzunehmen ist, daß man sie noch sehr zugunsten des Regimes frisiert hat:

Schachtanlage Wolfsbant: Stimmberechtigt 1857. Für den Vertrauensmann stimmten 241, die übrigen mach ten ihre Stimmzettel ungültig oder protestierten durch Wahlenthaltung

Kontor des Drahtseilverbandes: Stimmberech tigt 37. Für den Vertrauensrat 5; Rest ungültige Stimmen oder Stimmenthaltung.

Auf deutsch  : die Allmacht des Unternehmers in feinem Reismann- Grone  ( Rheinisch- Westfälische Zeitung):

Gestern und heute

Der Fall Trotki   ist der Fall der ganzen politischen Emi­gration. Sofern man ein großes Beispiel an etlichen tausend kleinen messen darf, wohlverstanden. Aber was dem russi­schen Revolutionär heute geschah, kann morgen dem und jenem passieren, und vielleicht muß man fürchten, daß gerade, weil es ihm heute geschieht, es morgen schon einigen anderen zustößt, weil Großwild den Jäger, genannt öffent­liche Meinung des Gastlandes, wieder auf die Spuren lockt. Leo Trotki lebte unter falschem Namen, aber doch dem französischen   Innenministerium bekannt, in Barbizon   bei Paris  . Vielleicht erinnerte der eine oder andere Leser, als er auf diesen Namen stieß, sich flüchtig daran, daß Barbizon  in der Geschichte schon einmal geglänzt hat. In der Kunst­geschichte nämlich; und sollte jemand das für zu belanglos halten, so sei er belehrt, daß von Barbizon   eine Revolution ausgegangen ist: die Revolution des modernen ästhetischen Sehens. Der französische   Impressionismus hat hier seine Heimat; die Malerschule, die nicht nur die Bilder ,, anders" malte, sondern im Laufe der Generationen uns alle, selbst die kunstfrèmdesten Banausen, die Welt anders sehen lehrte. Man gibt sich von dieser Veränderung wie von allen großen Veränderungen nicht mehr bewußt Rechenschaft, weil sie selbstverständlich geworden ist. Aber wenn die Welt nur das Bild ist, das wir von ihr haben, so kann man sagen, daß Bar­ bizon   die Welt verändert hat.

Weil Trotki   ebenfalls die Welt zu verändern gedenkt, mußte er jetzt Barbizon   verlassen. Es konnte nicht ausblei­ben, daß ein Teil der französischen   Presse über ihn herfallen würde, sobald sein Aufenthalt entdeckt war; daß die An­griffe dabei mehr für den ehemaligen Innenminister Chau­temps als dem russischen Revolutionär selbst bestimmt waren, macht diesem die Sache nicht leichter. Für eine Welt, die nur den einen Wunsch hat, so zu bleiben, wie sie ist, ist der Geist von Barbizon   immer verdächtig in der Kunst wie in der Politik. Aber ohne ihre Revolutionäre wäre die Menschheit längst verkalkt und ausgestorben, denn sie lebt nur durch ihre großen Verwandlungen. Und das gehört nun einmal zum Gesetz des Lebens, daß die einen verändern und die andern erhalten wollen: und gäbe es nicht beide Kräfte, so würde die Gattung homo sapiens verbrennen oder er­

starren.

Führt diese Betrachtung zu weit vom Problem der Emi­gration ab? Keineswegs. Politische Emigranten sind notwen­digerweise Revolutionäre. Dabei stehen sie vor dem Problem, die Welt zu ändern und doch den Fleck, wo sie leben, in seinem bisherigen Zustand zu lassen. Barbizon   darf durch die Revolution, die von ihm vielleicht ausgeht, nicht gestört wer­den. Im Falle Troŋki kann man nach den bisher vorliegen. den Meldungen mit einiger Sicherheit sagen, daß dies tat­sächlich nicht der Fall war. Trotski   hat sich in die inneren Verhältnisse Frankreichs   nicht eingemischt.

Und hier kann auch der eine oder andere unserer Emi­wie neben­granten von dem großen Revolutionär lernen

bei in vielen anderen Dingen auch. Für die politische Strate­gie gilt ebenso wie für die militärische der Sat, daß man alle Kräfte auf den wichtigsten Punkt zu konzentrieren hat; auf den Punkt nämlich, an dem man mit ihnen die stärkste Wirkung erreicht. Dieser Punkt ist für deutsche   Revolutio­näre nur Deutschland   und immer wieder Deutschland  . Auch in den Ländern, in denen Deutschlands   politische Emigra­tion heute lebt, sind große Bewegungen im Gange oder kün­den sich an. So wichtig und interessant diese aber sein mögen den Emigranten gehen sie nur als Zuschauer an, und selbst da muß gesagt werden, daß er nicht unbedingt dabei zu sein braucht, wenn auf der Place de la Concorde  demonstriert wird. Der politische Schlachtenbummler inter­essiert sich für alles; der Politiker denkt an seine Sache und ordnet ihr, wenn es sein muß, auch seine Neugier unter.

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Archimedes   verlangte ein kleines Fleckchen festen Bodens außerhalb der Erde, um die Erde bewegen zu können. Wer Deutschland   revolutionieren will, braucht einen festen Stand­ort außerhalb der Grenzen des ,, dritten Reichs"; nicht um dort zu ruhen, sondern um von dort auszugehen. Wer nicht zur rechten Zeit auch einmal stillhalten kann, ist ein Zappler, Argus. aber kein Kämpfer.

Stimmberechtigt 319. Für den Vertrauensrat stimmten 102, die übrigen protestierten durch ungültige Stimmzettel oder Stimmenthaltung. Aktienbrauerei: Stimmberechtigt 252. Für den Ver­trauensrat 124; Rest ungültig oder Stimmenthaltung. Wasserwerke Gelsenkirchen  : Stimmberechtigt 82. Für den Vertrauensrat 17; Rest ungültig oder Stimm­enthaltung.

Möbelfabrik Kramm: Stimmberechtigt 106. Für den Vertrauensrat 87; Rest Stimmenthaltung oder ungültige Stimmen.

Vereinigte Steinwerfte: Stimmberechtigt 88. Für den Vertrauensrat 22; Rest Stimmenthaltung oder un­gültige Stimmen,