Deutsche   Stimmen Beilage zur Deutschen Greifieit". Ereignisse und Geschichten

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Donnerstag, den 26. April 1934

Die Haentscheliade

Ein neudeutsches Heldenepos

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zum Judenboykott lesen. Dann lieber gleich den, Völkischen Beobachter"!

Jede Zeit hat ihre Heldengedichte. Vor dreitausend Jahren sang der blinde Homer vom Tode des tapferen Hektor, vor tausend Jahren erklangen die Stabreime des blutgetränkten Nibelungenliedes, das bürgerliche neunzehnte Jahrhundert schuf die Persiflage der harmlos- heiteren Jobsiade und für den kommenden Gestalter der tiefsten kulturellen Ernied­rigung des deutschen Volkes im zwanzigsten Säkulum unserer Zeitrechnung sei hier der Stoff für eine Haentscheliade auf­gezeichnet, wobei jetzt schon der Ueberzeugung Ausdruck ge­gegeben sei, daß es dem Dichter nicht gelingen wird, die gro­teske Widerlichkeit dieses Lebenslaufes durch neue Einfälle zu steigern. Das Leben ist der stärkste Dichter.lages das gesamte Betriebskapital verschoben und Haentschel

I.

Der Krieg ist zu Ende, die Republik   ausgerufen, von allen Fronten kehren die Soldaten heim. Frischgebackene Repu­blikaner bilden, da ihnen die bestehenden Parteien den Neu­lingen zu mißtrauisch gegenüberzustehen scheinen, Bünde  und Vereine, durch die die Republikanisierung und auch die Neulinge vorwärtsgetrieben werden sollen. Zum Bei­spiel die Liga junge Republik  ".

So ein Neuling ist auch Haentschel, wenn auch mit einer interessanten dunklen Vergangenheit in Kopenhagen   be­lastet, wo während des Krieges ein Stügpunkt der deutschen Rohstoffversorgung gewesen war. Sein Führer ist Vetter, Mitglied der Demokratischen Partei. hladno

II.

Haentschel geht ins Reichsinnenministerium, steigt, und gar nicht langsam, Sprosse auf Sprosse auf der Gehalts- und Titelleiter empor und spezialisiert sich für Presserecht. Zu­erst zur Verankerung, dann, von Brüning an, zur Beschrän­kung der Freiheit der Presse. Schreibt mit gleicher Pathos­stärke Kommentare für und wider, wie es gerade gebraucht wird. Selbst als die Beschränkung der Pressefreiheit in deren Vernichtung übergeht, steht der Ministerialdirigent Haent­schel mit flammendem Schwert vor seinem Anspruch, der allein maßgebend offiziöse Presserechtskommentator zu sein. Was nicht hindert, daß er unter Papen stürzt. Das heißt, er wird nicht etwa gleich abgesägt wie die anderen leitenden republikanischen Beamten des Reichsinnenministeriums, son­dern er geht erst auf Urlaub, um sich, bei vollem Gehalt, Studien und seiner Dozentur zu widmen.

Schließlich kommt aber doch das a. D., denn Haentschel ist seit Jahren Mitglied der Demokratischen Partei und war in ihr noch bis vor kurzem führend tätig.

III.

Vetter hat seine Betriebsamkeit in das Presseamt des Ber­ liner   Messeamtes geführt. Von dort holt ihn Lachmann- Mosse, als die allgemeine politische Entwicklung Deutschlands   und die besondere geschäftliche Lage des Verlages ungünstig zu werden beginnen. Vetter wird Verlagsdirektor bei Mosse  . IV.

April 1933. Vetter drängt seinen Gönner Lachmann- Mosse aus dem Verlag hinaus. Er weiß, wie man solche Dinge im Jahre 1933 zu fingern hat. Der gereinigte Betriebsrat be­schließt, daß dieser Jude in dem Verlag nichts mehr zu suchen habe.

Und nun wird gleichgeschaltet. Vetter setzt, um nicht Nazi werden zu müssen, auf den Stahlhelm, der weniger juden­feindlich ist und ihm für einen Verlag, der das Berliner

Tageblatt" herausgibt, sympathischer erscheint. Chefredak

-

teur wird Häubner, kommerzieller Direktor des Verlages - neben dem literarisch orientierten Verlagsdirektor Vetter - der Stahlhelmmann Ha entschel. 5 Inst Das ging zwar nicht ganz einfach, aber die Leitung des Stahlhelms verstand und stellte Haentschel ein um ein Jahr rückdatiertes Mitgliedsbudi aus.( I d

V.

Dem ,, Berliner Tageblatt" laufen die jüdischen Abonnen­ten davon. Sie wollen zum Morgenkaffee keine Aufforderung

Vetter und Haentschel geraten einander in die Haare. Schauplatz des Zweikampfes ist die Verwaltungssigung, denn der Verlag ist nach dem unfreiwilligen Verzicht Lachmann­Mosses eine Stiftung zu Nutzen der Belegschaft geworden. Haentschel wirft seinem Mitstreiter Vetter, der ihn geholt hatte, vor, daß durch seine ungeschickten und unrichtigen Dispositionen Blatt und Verlag ruiniert würden. Vetter ant­wortet, er habe eine Pleite übernommen, Lachmann- Mosse habe auf dem Wege über Auslandsunternehmungen des Ver­sei offenbar im Solde Lachmann- Mosses.

Wie kurz vorher Vetter über Lachmann- Mosse, siegt jetzt Haentschel über Vetter, der sich verzweifelt wehrt. Die Ver­waltungssigung beschließt, Vetter habe bis ein Uhr mittags

das Haus zu verlassen und dürfe es nicht mehr betreten. Seine Aktenmappe wird ,, beschlagnahmt".

VI.

Vetter läßt durch gute Freunde die Geheime Staatspolizei  wissen, daß Haentschel ein um ein Jahr rückdatiertes Mit­gliedsbuch des Stahlhelms habe.

VII.

Haentschel wird von der SA. verhaftet. Er schwört Stein und Bein, das Mitgliedsbuch sei richtig ausgestellt. Nach Schlägen mit der Faust und dem Gummiknüppel gesteht Haentschel, daß das Mitgliedsbuch erst vier Wochen alt ist. Nach acht Tagen gelingt es Diels, ihn freizubekommen. Sie

Wir kennen die Mörder Von Stefan Heym  :

Wir kennen die Felder, auf denen sie flohn, Wir kennen die stillen Chausseen.

Wir kennen die Mörder, das Auto, den Lohn und den Erdwall, auf dem es geschehen.

Wir kennen den Herrn, der es unterschrieb. Wir wissen, er schläft zur Nacht

noch in Ruhe und hat sein Mädchen lieb- Sie hat man umgebracht.

Das spricht sich so leicht: Ein Wort, ein Klang- Die Hände ins Erdreich gekrampft,

Die Toten schweigen ewigkeitslang. Das bißchen Blut verdampft.

Der Himmel ist grau und das Auto fährt fort. Es schwebt noch ein Wölkchen Benzin

in der Luft, wird dünner, verfliegt und verdorrt­Es wird ihnen nicht verziehn.

Die Toten von nah und die Toten von fern,

die man zur Flucht antrieb.

Wir kennen die Mörder, wir kennen den Herrn, der das Urteil unterschrieb.

Der Toten Augen sind so leer

und sind doch unheimlich wach. Der Toten ist schon ein ganzes Heer, es werden von Woche zu Woche mehr, und sie holen die Mörder nach.

kennen einander aus dem Demokratischen Klub in der Vik- Die verrückte Weltgeschichte Hammer, Sichel und Hakenkreuz

toriastraße.

Doch auf Mosse muß er verzichten.

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-

VIII.

Krampfhafte Versuche, irgendwo Anschluß zu finden. Jahreswende 1933/34. Haentschel erscheint in Prag  , will nun für den Ullstein- Verlag ein Ding drehen. Doch die vorgesehenen Kontrahenten forschen nach und erfahren, welche Rolle der Mittelsmann bei Mosse   gespielt hat. Ein betrübter Lohgerber verläßt die Stadt an der Moldau. IX.

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April 1934. Durch alle Blätter geht die Nachricht, daß ein italienisch- faschistisches Konsortium 51 Prozent des schmutzig. sten antimarxistischen Wiener Blattes, des ,, Neuen Wiener Journals" erworben habe. Als Vertreter der neuen Inhaber werde die Generaldirektion übernehmen: Ministerialdirigent Haentschel.

Daraufhin dementiert der bisherige Besitzer des ,, Neuen Wiener Journal", Lippowitz, daß in seinem Blatte irgend welche Besitzveränderungen erfolgt seien.

Es ist ein besonderes Pech, daß gerade am Tage vorher das Wiener Amtsblatt den Auszug aus dem Handelsregister veröffentlicht hat, in dem die neuen Kommanditoren des

Neuen Wiener Journal" namentlich aufgeführt werden.

X.

( Der Inhalt der weiteren Gesänge kann noch nicht voraus­gesagt werden, da vor dieser Wirklichkeit jede Fantasie versagt.)

Was man sich zuflüstert

Q

Die Sache ist kaum ein halbes Jahr her. Wir saßen zu sechst beisammen und erfanden Parodien gegen das dritte Reich". Einer erzählte die Geschichte eines Mädchens, das den Bräu­tigam verliert, weil die Hitlersche Erneuerung kommt und die Blonden herrschende Mode werden. Ist alles x- mal dage­wesen, ist keine Parodie", erklärte die Runde einhellig. Ein anderer ließ einen Pfarrer Urkundenfälschung und Meineid begehen, weil dem Pfarrer die Verzweiflung eines Familien­vaters zu Herzen ging, der wegen der Großmutter Stellung und Heimat verlieren sollte. Ein dritter wollte den Mann be­dichten, der grundsätzlich alles ablehnt, was mit dem bloßen Verstand zu begreifen ist und der nur die unglaublich­sten Thesen des Führers glauben will. ,, Ist in Hitlerdeutsch­land alles an der Tagesordnung", konstatierte die Runde. Und es zeigte sich, daß es nahezu unmöglich ist, die braune Wirklichkeit mit Grotesken zu überbieten. Zum Schluß meinte einer, das dritte Reich" sollte endlich einen Orden herausbringen, der alle gestohlenen Ideen und Glaubens­artikel der Nazis bildhaft präsentierte, so daß er von links wie von rechts, von Hitler  , Thyssen und Stalin   getragen wer­den könnte. Dieser Vorschlag endlich schien Nichtdagewe­senes zu enthalten und erregte allgemeine Heiterkeit.

Das war, wie gesagt, vor einem halben Jahre. Jegt liest man in verschiedenen Blättern des Auslandes, für den 1. Mai werde in Deutschland   eine Ansteck- Plakette herausgebracht, die von Hitler   entworfen und Hammer und Sichel nebst Nazipiepmats und Hakenkreuz und zwischendrin auch den Kopf Goethes zeigen soll... Der verrückte Wit der Welt­geschichte erwiese sich also wieder einmal genialer, als die B. Br. skurrilsten Einfälle satirischer Köpfe.

,, Wissen Sie, weshalb so viele neugebackene Nazis unzu. frieden zu werden beginnen?" Weil Herr Schacht die Gesinnungswechsel nicht Zerschlagen

mehr prolongieren kann!"

Auf der Zugspite soll ein neues Konzentrationslager

errichtet werden!

Man hofft, daß die Inhaftierten hier schneller braun werden!

Der Weltbund- Nachrichtendienst", herausgegeben von der Nachrichtenabteilung des Weltkomitees der Christlichen Jungmännervereine in Genf  , schreibt: Die Arbeit unseres deutschen Bruderwerkes in den sogenannten ,, Evangelischea Jungmännervereinen", den kirchlichen Gemeindevereinen, ist zum größten Teil zerschlagen...".

Goethe über Hitler

" Doch das tun andere mehe".....

In diesen Tagen ist in Neuyork, so lesen wir in der Neu­yorker Neuen Volkszeitung" vom 14. April, ein Pamphlet in deutscher Sprache gegen die Juden erschienen, das geradezu ein Musterbeispiel für die Fälscherkunststücke dieses ari­schen Verleumders im Gewande eines deutsch  - amerikanischen Biedermannes in Neuyork ist. Es lohnt sich wirklich nicht, dieses minderwertige Zeug ernst zu nehmen. Da aber an die­ser Stelle dem Nazischwindel die Wahrheit entgegengestellt wird, sei zum Schluß ein Fall, der überall größte Heiterkeit erregen wird, aufgedeckt.

In dem Pamphlet wird Goethe als Judenfeind für Hitler in Anspruch genommen. Der Schafskopf, der das Pamphlet geschrieben hat, hat in der Hauptsache Fritschs Handbuch der Judenfrage" abgeschrieben, sich also mit fremden Fe­dern der Lüge geschmückt.

Vorausgeschickt sei, daß Goethe nie ein Antisemit gewesen ist. Gewiß findet sich in..Wilhelm Meisters Wanderjahre  " ein Zitat, dessen zweiter Teil von den Nazis meist verschwie­gen wird, um seinen Sinn zu entstellen:

Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie es ihm seine Anführer, Richter, Vorsteher, Propheten tau­sendmal vorgeworfen haben: es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker: aber an Selbstän­digkeit. Tapferkeit. Festigkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähigkeit sucht es seinesgleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehovah durch die Zeiten zu verherr­lichen."

Aber Goethe hat seinem Freunde Lemmel in Prag   gegen. über frank und frei geäußert:

,, Ich hasse die Juden nicht. Was sich in meiner früheren Jugend als Abscheu gegen die Juden in mir regte, war mehr Scheu vor dem Rätselhaften, vor dem Unschönen... Erst später, als ich viele geistbegabte, feinfühlige Männer dieses Stammes kennen lernte, gesellte sich Achtung zu der Bewunderung, die ich für das bibelschöpferische Volk hege und für den Dichter, der das Hohe Liebeslied gesungen." Tatsache ist ferner:

a) Goethe hat mit dem Philosophen Herz, dem Musiker Meyerbeer  , dem Berliner   Sammler Friedländer  , dem Pra­ger Bankier Lemmel die freundlichsten Beziehungen unterhalten, er hat mit Marianne Meyer, verehelichten von Eybenberg, und ihrer Schwester Sarah Freundschaft gepflegt und die tiefe Leidenschaft, mit der Rahel Lewin, verehelichte Varnhagen  , an ihm und seinem Werke hing, aufs dankbarste empfunden und anerkannt: Er hat im Alter unter den Reisenden jeder Art auch Juden und Judengenossen häufig zur Tafel gezogen". Eduard Sim­ son  , Munck, Eduard Gans sind bei ihm gewesen; den Ma­ler Oppenheimer, den Dichter Michael Beer   hat er geför­dert, ohne daß ihr Judentum jemals auch nur mit dem Schatten eines Bedenkens sein Bewußtsein gestreift hätte. Und er hat im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein Ver. hältnis von tiefer, bewundernder Zärtlichkeit zu dem Enkel Moses Mendelssohns gehabt, da genialen Knaben Felix Mendelssohn- Bartholdy  , der viele Wochen in seis nem Weimarer   Haus war.

b) Daß die größte nachbiblische Erscheinung des Judentums, der Philosoph Baruch Spinoza  , einen tiefen, bestätigen­den und wegweisenden Eindruck auf Goethe gemacht hat, kann eigentlich nur ein Fanatiker wie Chamberlain be­streiten.

c) Erst neuerdings hat ein Forscher, Raimund Eberhard, nachdrücklich auf Goethes Beziehungen zum Alten Testa­ment hingewiesen. Goethe   ist ein Helfer und Rufer im Streite für den Menschheitswert des Alten Testaments  ; er hat Zeit seines Lebens von frühester Jugend bis zum spätesten Alter dem Alten Testament sein Intéresse zuge­wandt. Die Kenntnis des Alten Testaments   war ihm ein ,, Besitz für immer" und eines der Fundamente seines Geistes.

Aber schließlich sei an einem sinnfälligen Beispiel eine in der Wirkung lustige Fälschung als Tatsache dem Nazischwin­del entgegengesetzt, dem auch das Neuyorker Pamphlet erle­gen ist:

Der Naziheld aus Yorkville, der sein Jammerprodukt de­nen, die nie alle werden. zum Preise von 10 Gents anbietet. beruft sich gegen die Juden auf Goethes Schwank ,, Das Jahr­ marktsfest zu Plundersweilern  ", in den ein parodistisches Esther- Drama eingebaut ist. Es heißt da:

,, Der Jude liebt das Geld und fürchtet die Gefahr, Er weiß mit leichter Müh und ohne viel zu wagen, Durch Handel und durch Zins, Geld aus dem Land zu tragen..."

Aber der Neuyorker Schwindler sagt nicht, daß Goethe diese Worte den Judenfeind Hamann sagen läßt und läßt die Fortsegung fort, in der der König antwortet:

,, Ich weiß das nur zu gut, mein Freund, ich bin nicht blind;

Doch das tun andre mehr, die unbeschnitten sind." Diese oft angeführte Stelle ist ein lustiger Beweis antise mitischer Propaganda, die alle Schuld auf die Juden abschie ben will