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Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands  

Numme 1092. Jahrgang Saarbrücken  , Samstag Sonntag, 12./13. Mai 1934 Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

,, Frankreich   verdoppelt sein Heer"

Seite 2

Die Saar   und Frankreich  

Seite 3

Dec Mord am Schlagetectag

Seite 4

Blutige Maifeier in Bremen  

Seite 4

Wo steht

der französische   Faschismus

Seite 7

Göbbels kündigt Pogrome an

Wenn die Bewegung an die Nation appelliert, so wird die Nation mit ihr sein." Mit dieser Phrase hat der Reichs­propagandaminister Dr. Göbbels   am Freitag im Sportpalast in Berlin   seine Rede gegen die Miesmacher und Kritikaster geschlossen.

Aber wagt der Nationalsozialismus an das Volk zu appe­lieven? Nein. Nicht einmal eine durch Terror kommandierte Abstimmung hält er zur Zeit für möglich. Der ganze Appell an die Nation besteht darin, daß die führenden Nazibonzen vom Minister bis zum letzten Amtswalter hinab reden und schreibend auf das Volk losgelassen werden, das schweigend zuhören muß.

Dieses Schweigen aber wird allmählich beredt. Es spricht sich nicht nur in kritisierenden Stammtischgesprächen aus, wie Reichsminister Göbbels   behauptet, sondern in der klaren Ablehnung des nationalsozialistischen 3wangssystems dort, no überhaupt noch etwas wie freier Wille vorhanden ist. Das Volk wendet sich angewidert und ungläubig von dem ab, was ihm die Regierung in Versammlungen und in der Presse vorzutragen beliebt. Im ganzen Reiche ist die Beobachtung einmütig, daß freiwillig Massenversammlungen nur noch zu­stande kommen, wenn ganz große nationalsozialistische Ka­nonen aufgeboten werden. Bei den Maidemonstrationen wurde Massenbeteiligung diesmal nur noch durch ein raffi niertes Kontrollverfahren erreicht. Dazu werden wir Ma­terial noch veröffentlichen.

Man mag unsere Behauptungen anzweifeln, aber unwider­Tegbar sind die Zahlen über die Auflagen der Zeitungen. Es ist amtlich vorgeschrieben, daß jede Zeitung ihre genaue tägliche Aufgabe veröffentlichen muß. Ob diese Vorschrift noch lange bleiben wird, ist uns zweifelhaft, denn fie läßt deutliche Rückschlüsse auf die sinkende Stimmung und den wachsenden geistigen Widerstand zu. Aus den Aprilaiffern der Zeitungs­auflagen ist zu ersehen, daß mit ganz wenigen Ausnahmen die Bezieherzahlen der Presse zurückgehen, sowohl in Berlin  wie in der Provinz. Zu den Zeitungen mit den stärksten Rückschlägen gehört der von Dr. Göbbels   gegründete An­griff", der im Dezember täglich 94 200, im März 60 000, im April nur noch 53 400 Exemplare täglich druckte. Er ist jetzt mit dem Bölfischen Beobachter" vereint, der aber seine Auf­Tage nur von 330 000 auf 334 800 erhöhen konnte. Von den 41 000 Deserteuren des Angriff" find also nur 4000 zum " Bölkischen Beobachter" übergegangen.

In der bürgerlichen Presse ist das Bild nicht günstiger. Obwohl die Vossische Zeitung verschwunden ist, hat das Ber­liner Tageblatt, also das Konkurrenzunternehmen gegen die " Voß", seine Auflage nicht etwa steigern können, sondern ist von 64 000 auf 62 400 zurückgegangen. Das Volk in allen seinen Schichten glaubt der Regierungspresse nichts mehr und flieht deshalb aus den Zeitungen.

Der Reichspropagandaminister hat in seiner Berliner Rede wieder großsprecherisch vom Vertrauen des Volkes gespro­chen. Wie wäre es, wenn er dieses Vertrauen einmal dadurch erproben wollte, daß er etwa die Deutsche Freiheit" zum Wettbewerb in Deutschland   antreten lassen würde? Wir be­anspruchen nicht eine Mart aus seinen Propagandamillionen. Allein auf uns gestellt, wollen wir den Kampf aufnehmen und, find feinen Augenblid zweifelhaft, wie das Volf entscheiden wird, nachdem es länger als ein Jahr die Segnungen des ,, dritten Reiches" genossen. hat.

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Die Rede des Reichspropagandaministers zeigte die schwere Zerrissenheit der Nation auf, die man mit Agitationskunst­stückchen und großen Reklamefeiern in eine Boltsgemein­schaft umlügen will. Dr. Göbbels   sieht das ist die einfache Wahrheit keinen Ausweg aus den riesigen Schwierigkeiten. Er gibt in verklausulierten Wendungen zu, daß keine echte Ronjunktur vorhanden ist, sondern den Unternehmern und Landwirten Arbeitskräfte aufgezwungen werden und er ge­steht zum ersten Male auch. daß diese Arbeiter menschenun: würdig entlohnt werden. Unter dem Einfluß der Sozial­demokratie und der freien Gewerkschaften hatten die deut­ schen   Arbeiter bis etwa zum Jahre 1980 die höchsten Löhne auf dem europäischen   Kontinent und dazu die beste Sozial­politik der Welt. Ein Jahr nationalsozialistische Verwüstung hat genügt, um das Gegenteil zu erreichen: die deutschen  Arbeiter haben jetzt die schlechtesten Löhne in Europa   und eine ruinierte Sozialpolitik.

Die fünstliche Binnenkonjunktur muß zusammenbrechen, wenn nicht Rohstoffe eingeführt werden können. Rohstoffe bekommt Deutschland   nur, wenn es mit Devisen bezahlt. De­visen fehlen, weil die Ausfuhr fehlt. Wer ist schuld an diesem bedrohlichen Krisenzustand? Die Antwort des Reichsmini­fters ist einfach: die Juden!

Der Jud ist schuld"

Diese Stelle seiner Rede ist innen- und außenpolitisch so wichtig, daß wir den Reichsminister nach zwei Zeitungen zitieren wollen.

Nach der Saarbrüder 3eitung" sagte der Reichs­minister:

Es ist geradezu verbrecherisch, wenn Menschen im Lande umbergehen, und Leuten, die ohnehin schwer zu kämpfen haben, auch noch den Mut nehmen. Wenn auch ein Teil des Auslandes uns mit dem anonymen Boykott begegnet und deutsche Waren nicht annehmen will so wissen wir sehr wohl, daß das auf unsere jüdischen Mitbürger zurückzu­führen ist.( Lebhafte Zustimmung.) Jch fann aber nicht, weil die Juden im Ausland uns boykottieren, im Innern die Judengesetzgebuna zurüdziehen, sondern wir müssen diese Krise eben durchhalten.( Anhaltende Zustimmung und Beifall.)

Nach der Frankfurter Zeitung  " lautete der Passus:

Wenn noch ein Teil des Auslandes uns mit dem anony­men Boykott begegnet und deutsche Waren nicht annehmen will, so wissen wir sehr wohl, daß das auf unsere jüdischen Mitbürger zurückzuführen ist. Ich kann aber nicht, weil die Juden im Ausland uns boykottieren, im Innern die Ju­dengesetzgebung zurückziehen, sondern wir müssen diese Krise eben durchstehen. Die Juden meinen vielleicht, ihren füdischen Mitbürgern in Deutschland   damit einen Dienst zu tun. Das Schlimmste was sie überhaupt tun können, denn sie sollen nicht glauben, wenn sie in der Tat den Boy­fott so weittrieben, daß er wirklich eine ernstliche Bedro hung unserer wirtschaftlichen Situation darstellen würde, daß wir deshalb die Juden frei ausgehen ließen.( Stür­mischer Beifall.) saß und Wut und Verzweiflung des deut schen Volfes würden sich dann zuerst an die halten, die im Lande greifbar find.

Das Saarblatt hat, mit Rücksicht auf die saarländischen Juden, um die die Deutsche Front" wirbt, etwas gemildert. Nach der Frankfurter Zeitung   aber ist Sinn und Absicht der Göbbelsrede ganz klar.

Für das klägliche Versagen des Nationalsozialismus, für den Widerstand der zivilisierten Welt gegen seine Methoden, für die Folgen des wirtschaftlichen Dilettantismus der Nazi­bonzen und für die Finanzkorruption des dritten Reichs". sollen die Juden verantwortlich gemacht werden. Der gegen die Nazigrößen sich sammelnde Haß soll sich gegen die Juden entladen Die Welt steht vor der Tatsache, daß ein amtieren­der deutscher   Reichsminister mit Judenpogromen aus Haß, Wut und Verzweiflung" des deutschen   Volkes gedroht, daß sich Göbbels   an die Seite des Nürnberger   Pogromhezers Julius Streicher   begeben hat.

Die braunen und schwarzen Banden des Nationalsozialis­mus werden gut begriffen haben: Das Weltiudentum sabo­tiert den deutschen   Wiederaufbau, weil es von den deutschen  Juden verhetzt ist. Die deutschen   Juden sind als Geiseln in unserer Hand. Auf das Signal hin, daß die Partei geben wird, werden wir uns an den deutschen   Juden schadlos halten.

Wenn große Teile der Welt, und nicht zuletzt viele Juden selbst, sich über den wahren Charakter des in Deutschland  herrschenden Bandensystems täuschen ließen, so sollte sie diese Rede des Reichsministers alarmieren. Die Bedrohung, nicht nur für die Juden, sondern für alle kultivierten Gegner der regierenden Bonzenkliquen sind ist geringer, sondern größer denn ie. Diese Landsknechtsführer und Nußnießer eines Volksbetrugs von riesenhaften Ausmaßen sind in ihrer Situation zu jedem Gewaltstreich und zu jeder Schandtat bereit, wenn sie glauben, dadurch ihre Herrschaft verlängern zu können. Schon ahnen sie ihren Sturz. Zwischen jetzt und ihrem Ende aber stehen neue große Gefahren für die deutsche Kultur.

Ermunterung zum Pogrom

,, Judentod"

In der Nacht zum Himmelfahrtstag wurde die Mauer des jüdischen Friedhofs in Saarbrüden etwa 50 Meter entfernt von der französischen   Grenze von fachkun: digen Händen mit folgendem Text beschmiert: " Judentod beseitigt Saarlands Not"

Diese Schrift wurde auf eine Länge von 80 Meter, einer Höhe von einem Meter angebracht. Wohlgemerkt von fach­fundiger Hand. Niemand wird sich wundern, wenn demnächst auch auf den jüdischen Friedhöfen im Saargebiet die Gräber beschmußt und die Grabsteine zerstört werden, so wie es allerorten im britten Reiche" geschah.

Dieser Vorfall an der Bremm   am jüdischen Friedhof war

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Gestern und fieute

In einer Schweizer   Zeitung, ausgezeichnet durch viele wertvolle Beiträge über die politische Situation und die see­lischen Spannungen im Hitlerreich, lasen wir kürzlich einen Suts, bei dem wir länger als üblich verharrten. Es handelte sich um eine Aeußerung eines hervorragenden Trägers der nationalsozialistischen Bewegung. Sie lautete:

,, Wir Nationalsozialisten riechen einander. Auf Uniform oder dogmatische Glaubenssätze kommt es gar nicht an; das Gemeinsame liegt viel tiefer. Wir sind seelisch irgendwie von der gleichen Familie. In den ersten drei Sekunden einer neuen Begegnung haben wir heraus, ob der andere wahrhaft zu uns gehört oder nicht."

Der Autor dieses Sages hat darin über die Psychologie des Nationalsozialismus mehr gesagt, als er wohl selber ahnte. Wir vermuten, daß es ein junger Intellektueller war, einer von denen, die sich im Nationalsozialismus   ihren Auf­bruch, aber zugleich auch ihre Erkennungsmarke verschafft haben. Ein Blick, eine Geste, man hat die gleiche Sprache, die gleiche Phrase, das gleiche Ja, das gleiche Nein schon in diesen drei Sekunden, und man ist Bruder zu Bruder in Rosenbergs Ordensrate.

Etwas Aehnliches war schon früher da. In einer gesell­schaftlichen Erscheinung, die man bei der Aufdeckung der Quellen des Nationalsozialismus nie übersehen darf: nämlich in der Jugendbewegung. Damals, mit der Tagung auf dem Hohen Meißner   kurz vor dem Kriege, hat es begonnen. Junge Menschen wurden Verschworene, versippt auf Gedeih und Verderb, fast blutmäßig bündisch geeinigt im Bund. Schon damals war die Abkehr vom, Tatsachendenken" erkennbar, wie Keyserling   den Auszug der Jugend in die undurchschau­bare Welt der Wagnisse bezeichnete. Das neue romantische Uebergefühl, das sich den intellektuellen Ordnungen und vernunftmäßigen Verhaltungsweisen entgegenstellte, gläubig und heroisch auf kommende Dinge gerichtet: es hat eine Generation junger deutscher   Menschen stark beeinflußt. Auch im Jungsozialismus gab es nach dem Kriege ähnliche Bewegungen, gruppiert um den Hofgeismarer Kreis, der die Entwicklungslehre des Marxismus  ( besser: des Vulgärmarxis­mus) ablehnte. Man wurde Rufer und Sucher, dem Glauben und dem Tatwillen verschworen, um die Welt zu verändern.

Aber nun sieht die große Wende doch ganz anders aus, als es sich die jungen Menschen und die Jugendbewegten von 1914 bis 1930 vorgestellt haben. Für die große Mehrheit ver­stand sich damals das Humanitäre und die freiheitliche Gei­steshaltung von selber. Sie dachten in die Zukunft der Neu­gestaltung der menschlichen Gesellschaft hinein, mit erlese­nen Führern an der Spitze, sonst aber Gleiche unter Gleichen, durch freiwillige, selbstbeherrschte Unterordnung.

Nun ist das alles vorbei. Es gibt keine andere Jugendbe wegung mehr als die braune. Sie marschiert, nicht nach eigener Entscheidung, sondern kraft Befehl. Die Freiheit ist erdrosselt, und einer Generation junger Menschen wird glaubhaft gemacht, daß sie identisch sei mit Liberalismus und Marxismus  , mit Zuchtlosigkeit und Unterwertigkeit.

Junge Leute und Nationalsozialisten, die, einander riechen": was riechen sie vor allem? Die Ausdünstung des Juchtenleders und des Blutes, leider nicht nur des eigenen, sondern auch das ihrer Gegner, das ihre Führer in breiten Strömen vergossen haben.

Gewiß, das wird nicht so bleiben. Aber täuschen wir uns nicht! Es wird nicht leicht sein, die deutsche Jugend wieder von der Tambourmajorromantik zu lösen und zu Lynkeus auf den Turm des Geistes und der menschlichen Würde zu führen. Argus.

der Leitung der deutschen Front" äußerst unangenehm. Er fam ihr zu früh, denn vorläufig werden noch Liebe und Menschlichkeit gepredigt. Den Terror will man nicht wahr haben. Und solche Terrorbeweise wie den an der jüdischen Friedhofmauer können der deutschen Front" äußerst unangenehm werden.

Und siehe da, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ist die Schrift wieder beseitigt worden,

Nach Lage der Dinge fann das nur auf Anordnung der Deutschen- Front"-Behörde geschehen sein. Die Fried­hofsmauer ist aber mit dem hezerischen Text bereits foto­grafiert worden, so daß sich dieser nationalsozialistische Schandakt nicht mehr wegleugnen läßt.