Freihei

Nr. 124-2. Jahrgang

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Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Samstag, den 2. Juni 1934

Chefredakteur: M. Braun

Genf als Kriegsherd

Gefährliche Zuspitzung der Lage Europas

Gespannter als je!

dub. Mailand , 1. Juni. Der Popolo d'Italia" Befaßt sich mit der Zuspizung der politischen Lage Europas . Nach dem Mißerfolg der Abrüftungskonferenz, so schreibt das Blatt, hat sich seit einem Jahre die politische Spannung in Europa zweifellos verschärft. Die Völker entfremden sich nicht nur dem utopischen Völkerbund und den tatsächlichen Abrüstungsmöglichkeiten, sondern sie beginnen den Rüstungs­wettlauf. Mussolini hatte mit dem Viererpakt und seinem Abrüstungsmemorandum eine Brüde zwischen Frankreich und Deutschland gelegt. Hätte man von seiner Vermittlung Gebrauch gemacht, so wäre der Kontinent von der Kriegs­atmosphäre befreit und befände sich auf dem Wege der Er­holung. Das alte Europa hat der Zusammen: arbeit nochmals das gefährliche Spiel der Gewalt vorgezogen. Unabwendbar wiederholen sich die Zustände, die dem Weltkrieg vorausgingen: Gewaltige Rüftungsausgaben, Anstrengung von Uebereinkommen, Zwischenfälle und Verschärfung der Spannung. Nach einem Hinweis auf die Rüstungen der europäischen Großmächte kommt das offiziöfe Organ an dem Schluß, daß die schlimms ften Aussichten die Spannung zwischen Frankreich und

Deutschland wegen der Saarabstimmung biete, indem fie in

gewisser Hinsicht an die Spannung wegen Boss nien und der Herzegowina sowie an die Marokko affäre vor dem Kriege erinnere. Italien treffe für diese Verwicklungen keine Verantwortung. Im Gegenteil habe sich die Verschärfung troß der rechtzei: tigen Vermittlungs- und Wiederannäherungsversuche Musso: linis entwickelt.

Für den Corriere della Serra" ist die Abrüftungs: fonferenz nach dem Rededuell Simon- Barthon als ge= scheitert zu betrachten. Der tiefgreifende Zwift dieser bei den Staatsmänner beschränke sich nicht auf die Abrüftung, sondern entwickele eine absolute Unversöhnlichkeit der Ge= fichtspunkte und Gemüter, die ernstliche Bedenken errege. Frankreich und England hätten sowohl die allgemeine poli: tische Lage wie auch die fachlichen und moralischen Erforder: nisse Deutschlands realpolitisch erkennen und allen die Gleich berechtigung zugestehen sollen, um eine aufrichtige Verstän­digung zu erreichen. Statt dessen hätten die Regierungen während der Verhandlungen gerüftet und auf diplomatischem Wege neue Verbündete gesucht, die an sich schon ein Hinders nis für Versöhnung und Abrüstung bilden.

England und Frankreich Keine Entfremdung

London , 1, Juni. In einem der Lage in Genf gewidmeten Leitaufsatz bemerkt die Times", die Pfeile, die Barthou ab­geschossen habe, seien spizer gewesen, als sie gegenüber dem Bertreter eines befreundeten Landes gebraucht zu werden pflegten, doch bestehe nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß die am Mittwoch zutage getretene Unmöglichkeit, eine Einigung zu erreichen, eine Entfremdung Frankreichs und Großbritannien zur Folge haben werde. Es würde in Groß­ britannien sicherlich tief bedauert, wenn Frankreich einen Weg beschreite, auf dem Großbritannien es nicht begleiten könne. In Großbritannien sei man überzeugt, daß auf die Dauer geregelte Beziehungen zwischen Frankreich und Dentschland nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung geschaffen werden könnten. Je eher dies geschehe, defto gün: ftiger würde wahrscheinlich eine Vereinbarung für Franf reich ausfallen.

Eden tief pessimistisch

Düstere Schilderung

London , 1. Juni, Der Lordsiegelbewahrer Eden hielt Donnerstag abend von Genf aus eine Rundfunkrede, in der er sagte, die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Beendigung der Abrüstungskonferenz, die bereits vorher schwach gewesen seien, seien nach Schluß der Sigung am Mittwochabend no ch geringer geworden. In den 18 Monaten, in denen er, Eden, an der Konferenz teilgenommen habe, seien viele Wechsel= fälle und einige kritische Augenblicke zu verzeichnen gewesen, aber niemals seit Beginn der Konferenz seien die Aussichten so schwarz gewesen wie jetzt. Eden fügte hinzu, er habe eine düstere Schilderung der Aussichten gegeben, aber es sei ihm nichts anderes übrig geblieben, wenn er offen sprechen wollte. Man müsse die tatsächliche Lage ins Auge fassen, und diese sei so, daß ein allgemeines Abkommen im gegenwärti gen Augenblick unmöglich sei, wenn weder Frankreich noch Deutschland ihre legten Erklärungen abänderten.

Abgründe ohne Brücke

Frankreich im Mittelpunkt.com

Hoffnungslos?

Englische Meinungen

London , 1. Juni. Die Meldungen der englischen Morgen­Blätter aus Genf sind in pessimistischem Ton gehalten. Sie bezeichnen es als fast unvermeidlich, daß das Ende der Ab­rüstungskonferenz bevorstehen werde.

Abordnung nahestünden, leugneten nicht, daß diese Speku­lation bis zu einem gewissen Grade bestehe. Es sei befannt, daß die französische Politik von dem Glauben beeinflußt sei, daß das französische Nein Hitler in die Enge treibe und daß dieser daher in sechs Monaten mehr Bereitschaft zeigen werde als jetzt, auf den Anspruch auf Aufrüftung zu verzichten.

Genf , 1. Juni

Die Delegierten aller Länder und die Journalisten nicht minder stehen noch ganz unter dem Nachhall der großen Rede des französischen Außenministers Barthou nom ver­gangenen Mittwoch. Die Gespräche über die Frage, ob in der mit glänzender Rhetorit vorgetragenen Rede die eine oder andere Passage gegen die englische Außenpolitik vor­sichtiger hätte formuliert werden können, sind nebensächlich im Verhältnis zu der entscheidenden Tatsache, daß vor aller Welt die Entschlossenheit der französischen Politik offenbar geworden ist. Ein Regierung, die so in Genf spricht, fann nicht zurück. Sie beharrt auf Sicherheitsgarantien für Frankreich und läßt sich nicht durch hinhaltende und trö­

Der Genfer Korrespondent des Daily Telegraph " sagt in seinem Bericht, es herrsche eine Art Verzweiflung. Der Time3"- Berichterstatter sagt in seiner Meldung aus Genf , wenn kein Wunder geschehe, dann könne die Ab­rüstungsfonferenz schwerlich fortdauern. Barthous Rede habe die letzten Hoffnungen auf fruchtbare Vereinbarungen zerstört. Sie habe zum mindesten für den Augenblick jeder Form eines Kompromisses die Tür verschlossen. Die Kluft zwischen dem britischen und dem französischen Standpunki bleibe vorläufig bestehen. Simon habe in seiner Rede zum ersten Male angedeutet, daß die britische Regierung der Iangwierigen Erörterungen müde sei. Viel­leicht habe sie gefühlt, daß der Gegensatz zwischen der briti stende Worte, auch nicht durch Versprechungen täuschen. Prä­schen und der französischen Politik unüberbrückbar sei.

Der Berichterstatter wendet sich dann gegen angebliche Spekulationen der französischen Politif. Der Berichterstatter erflirt, ee gebe noch tiefere Gründe zur Sorge. Die Haltung, die die französische Regierung am 17. April eingenommen habe, sei teilweise beeinflußt gemeien von einer Snefulation auf einen Sturz Hitlers . Personen, die oer frangofthea

sident Henderson hat sich dahin geäußert, daß er nach der Rede Barthous die Lage der Konferenz sehr steptisch beurteile. Aus französischen Kreisen wird darauf erwidert. daß kein Grund für einen Abbruch der Verhandlungen vor­liege. Der französische Außenminister habe die Wege gezeigt, die eine Konvention auch ohne Deutschland ermöglichten. Während des Donnerstags sind lebhafte Unterhaltungen

Aus dem Inhalt

Dec Miesmacher spukt

Seite 2

Frankfurt unter Streicher- Terror

Seite 2

Der ganze Ernst der Situation

Seite 3

Die gescheiterte Transfeckonferenz

Seite 4

Gestern und

Gestern und heute und heute

Es dröhnt aus wortgewaltigen Mündern, es knattert aus den Lautsprechern, es schallt aus den Blättern tagtäglich, das modische Schimpfwort unserer Tage: Emigrant! Emigrant! Die deutsche Regierung pflegt neuerdings die allgemeine Verachtung vor diesen üblen Subjekten, die landesflüchtig wurden, um ihr Vaterland nunmehr im Auslande zu ver­raten, sehr wirksam zu steigern. Ein Emigrant ist nicht nur berüchtigt, er ist auch kriminell: Wild für Gestapo und Volksgerichtshöfe, für das der internationale Jagdhüter Gö­ ring noch keine Schonzeit angesetzt hat.

Aber wir haben für die deutschen Emigranten einen Trost. Ueberblicken sie die Geschichte, so entdecken sie, daß sie unter den besten Männern aller Zeiten Schicksalsgefährten besitzen. Ach, die Liste würde zu lang werden, zählten wir nur die Prominentesten auf! Dante litt in der Ferne um sein Florenz , nachdem ihm seine politischen Widersacher alles genommen hatten. Schiller entfloh dem Krückstock sei­nes Herzogs und wurde durch Steckbrief verfolgt. Hoffmann von Fallersleben , den Dichter des Deutschlandliedes, ver­jagte man von seinem Professorenamt, und als überall Aus­gewiesener mußte er ein unstetes Wanderleben führen. Frei­ ligrath , Gottfried Kinkel , Karl Schurz , Männer die die natio­nalistische Legende rühmt, lebten im Auslande, denn die Heimat hatte sie mit dem Büttel vertrieben. Daß wir von den schlimmen Juden und Marxisten des vergangenen Jahr­hunderts, den Heine, Börne und Engels, nicht zu reden wagen, versteht sich von selbst. Sie haben ihr Untermenschen­tum durch leidenschaftliche Sehnsucht zum verlorenen Vater­lande zu tarnen versucht. Arischer Scharfblick durchschaute

sie.

Aber nun kam uns in diesen Tagen ein schmales Buch, vor einer Reihe von Jahren in der Stalling- Bücherei in Olden­ burg erschienen, in die Hände. Es ist dem Deutschen Gör. res gewidmet, dem großen Patrioten aus der Aera der so­genannten Freiheitskriege, Schöpfer des Rheinischen Mer­kurs" wider Napoleon . Als er 1816 seine publizistischen Fan­jaren gegen die Heilige Allianz richtete, wurde seine Zei­tung verboten. Später mußte er fliehen: erst nach Straß­ burg , dann in die Schweiz .

Hören wir, was der Autor unseres Görres- Büchleins dazu schreibt: ,, Sie haben ihm sein Blatt gestohlen, sein bißchen Wohlstand ruiniert. Sie erbrechen sein Eigentum, öffnen die Briefe an seine Lieben, schikanieren die wehrlos Seinen. Sie kastrieren seine Arbeit. Sie haben ihn aus dem Amt ge­strichen. Jetzt streichen sie ihm sein Wartegeld, das ihm zu­stehe vor Gott und der Welt als Abfindung für sein ver. botenes Blatt. Sie lassen ihn verhaften..!"

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Man erschrickt vor dieser Aktualität. Das Görres- Schicksal haben 117 Jahre später wiederum Unzählige erlebt. Der ver­triebene Görres schrieb, er werde der Welt die Augen öff­nen, was es heiße, das Reich zu verjobbern, den Völkerfrie­den zu untergraben und Deutschland an den Rand des Ab­grunde zu bringen. Die Antwort der damaligen Publizisten? Sie nannten Görres einen Stänkerer, eine in ihrer Eitelkeit gekränkte kokette Primadonna, und, wahrhaftig, da fehlte auch nicht: Parteigänger der Verjudung".

Nur eins ist unvergleichbar. Görres wurde niemals geprü-­gelt. Man ließ auch seine Familie in Ruhe. Man war damals selbst in der borussischen Gemeinheit noch ein wenig human. Inzwischen sind wir darin weitergekommen.

Aber diese Geschichte bekommt erst ihre Pointe, wenn der Leser weiß, wer der Autor dieses Görres- Büchleins ist. Er heißt Richard Euringer und hat vor kurzem den Stefan- Görres- Preis für seine Deutsche Passion" erhalten. Hier werden die bösen Geister der vierzehn Jahre und die guten des dritten Reichs" beschworen. Unter den vielen Knittelversen sind auch einige den schlimmen Emigranten von heute gewidmet. Sie heißen bei ihm: Fantasten, Litera­ten, Verbrecher, Demokraten, Juden, Pazifisten, Marxisten und Himbeer- Christen: ,, Sie haßten die Herrschaft, das Mili­tär, sie wollten keine Wehrpflicht mehr..

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Einst schwärmte Euringer für Göring , heute für Goebbels . Vielleicht braucht die Emigration manchmal eine Gesin­nungs- und Gewissensstärkung, um sich an den Adel ihres Schicksals zu erinnern. An Charakterbilder nach dem Muster Euringers darf sie erkennen, daß sie, trots alledem, das bes­sere Los vor der Geschichte erleidet. Argus.

zwischen den Ministern gewesen, um eine Entspannung her. beizuführen. Barthou hat in verschiedenen Unterredungen sich bemüht, noch widerstrebende Delegationen für die fran­ zösische These zu gewinnen. Auch gibt Barthou die Hoffnung nicht auf, noch eine Verständigung mit Sir John Simen zu finden, mit dem er heute eine Aussprache haben wird. Für Frankreich sehr befriedigend verlief die Unterredung Barthous mit dem polnischen Außenminister Beck, der sich für den französischen Standpunkt erklärte. Auch zahlreiche Delegierte fleinerer Staaten werden im Streit zwischen. Frankreich und England sch an die französische Seite stellen. Eine Besprechung, die am Donnerstag zwischen den Dea legierten der neutralen Lönder Schweden , Norwegen , Däre mart, Holland , Spanien und der Schweiz stattgefunden hat,