in? 26 bu
Fretheil
Nr. 132 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Dienstag, den 12. Juni 1934
Chefredakteur: M. Braun
Aus dem Inhalt
Seite 2
im Drachenkampf
Seite 3
Zerstörte Legenden
Als Seite 3
Seite 8
Der Nationalheld als Zuhälter
Die
Hitler fährt zu Mussolini , Barthou zu Macdonald. Konferenzen sind wieder einmal zu Ende und das Reisen beginnt.
Deutschlands Lage ist sehr trübe. Die Hoffnungen auf einen Bruch zwischen England und Frankreich sind vorläufig fehl
Brei Todes geschlagen. Vielmehr haben die Genfer Abrüstungsbespre
Urteile zur Säuberung seines Andenkens?
Im Hinblick auf die Rolle, die der neue National= held Horst Wessel im öffentlichen Leben Deutsch : lands spielt, und zumal angesichts des großen Prozesses, der demnächst wegen der Vorgänge bei seiner Tötung in Berlin stattfindet, dürften die nachstehenden Enthüllungen des berühmten dent: schen Verteidigers Dr. Alfred Apfel, der mit Einstein, Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann die Liste der von Hitler Expatriierten führt, von besonderem aktuellen Interesse sein.
Die Hitler- Republik hat den im Januar 1930 erschossenen Studenten Horst Wessel , Führer eines nationalsozialistischen Sturmtrupps, zum Nationalheros proflamiert. Mit seinem Andenken wird in Deutschland ein ungeheurer Kultus ge= trieben. Ein von ihm verfaßtes, übrigens gestohlenes Lied ist in den Rang der Nationalhymne erhoben worden.
Ich habe seiner Zeit denjenigen, der auf Horst Weffel geschossen hat, verteidigt. Schon während des Prozesses, der vor dem Berliner Schwurgericht stattfand, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß der Verstorbene ein Zuhälter niedrigsten Grades gewesen ist.
In diesem Prozeß ist folgendes festgestellt worden. Horst Wessel wohnte gemeinsam mit einer Straßendirne bei einer armen Witwe zur Miete. Er blieb mehrere Monate die Miete schuldig, hielt aber viele politische Zu= sammenfünfte in seiner Wohnung ab und machte seiner Wirtin das Leben schwer.
Die Frau, die auf die Mieteinnahmen angewiesen war, wußte sich nicht mehr zu helfen. Sie flehte die Stammtischfreunde ihres verstorbenen Mannes an, den Wessel zur Rede zu stellen und ihn zu zwingen, entweder zu zahlen oder auszuziehen. Die Bevölkerung der dunklen Gegend der Reichshauptstadt, in der sich diese Vorgänge abspielten, zieht in solchen Fällen die Selbstjustiz dem kostspieligen und langwierigen Gerichtsverfahren vor, und so beschloß man, die Sache dieser Witwe zur eigenen zu machen und dem Studenten auf die Bude zu rücken. Da er als überaus gewalttätig bekannt war, und da er oft Parteigenossen bei sich hatte, denen die Revolver recht locker in der Tasche saßen, holte man sich Ali Höhler, einen über besondere Körperfräfte verfügenden Berufsverbrecher, zur Hilfe, um evtl. den Wessel für seine Rücksichtslosigkeit gegenüber der alten Frau gründlich zu verhauen. Die Nationalsozialisten haben hinterdrein behauptet, es habe sich um einen fommunistischen Racheaft gehandelt; die Kommunistische Partei bestreitet mit größter Energie jeden Zusammenhang mit der Tat. Jedenfalls steht unbestritten fest, daß für Höhler keinerlei politische Motive maßgebend waren, sondern daß er sich aus Gründen, die auf einem ganz anderen Gebiet lagen, der Strafegpedition angeschlossen hat.
Höhler berichtete mir im Untersuchungsgefängnis, daß er berufsmäßiger Zuhälter sei. Er sei erbittert gegen Wessel gewesen, weil deffen Freundin, die bei ihm lebte, bei Ausübung ihres Straßengewerbes ausgerechnet die Ge gend bevorzugt habe, die Höhler als Spezialarbeitsfeld für seine Hauptdirne betrachtete.
Es war offensichtlich, daß Höhler auch ein persönliches Interesse an diesem Mädchen hatte aus Gründen, die wohl in beider Vergangenheit zu suchen sind. Er habe eine besondere Wut auf Wessel gehabt, weil dieser sehr hoffärtig gewesen sei und durch sein freches, provokatorisches Wesen die ganze Gegend verärgert habe. Er habe daher mit besonderer Genugtuung den Fall der Witwe benutzt, um Wessel einmal gehörig zu verbläuen.
Als der Rachezug in der Wohnung des Wessel erschien, griff dieser blißschnell in die hintere Hosentasche, um, wie Höhler annahm, den Revolver hervorzuziehen. Höhler, der mit einer bewaffneten Antwort wohl gerechnet hatte, knallte, wie er behauptete, aus Notwehr seinen Revolver auf Wessel Ios, der blutüberströmt, aber keineswegs tödlich verletzt, niederbrach. In einem der Nebenhäuser wohnte ein Arzt. Als man diesen holen wollte, erklärte ein Freund des Verwundeten energisch:„ Eher verreckt der Mann, als daß ein jüdischer Arzt ihn berührt!" Höchstwahrscheinlich ist es dem Umstand, daß längere Zeit mit dem ersten ärztlichen Eingriff gewartet wurde, zuzuschreiben, daß die Verwundung des Horst Wessel , der übrigens noch sechs Wochen gelebt hat, schließlich einen tödlichen Ausgang nahm.
Als Höhle mich ersuchte, seine Verteidigung zu übernehmen, stellte ich zwei Bedingungen. Die eine war daß er mir nicht zumute, seine Tat zu decken, sondern daß ich, falls
ich mich durch den Verlauf der Gerichtsverhandlung nicht von der Glaubhaftigkeit des Notwehrmotive überzeugen fönne, lediglich die für ihn geltend zu machenden mildernden Umstände vorzutragen brauche.
Die zweite Bedingung bestand darin, daß die Zuhälter rolle des Getöteten nur insoweit im Prozeß unterstrichen werden sollte, als sie zur Verteidigung meines Mandanten diente, da es mir widerstrebte, das Andenken eines Toten mehr als notwendig herabzumindern.
Angesichts der schamlosen Beschimpfungen, mit denen die heutigen Machthaber ihre politischen Gegner bedenken und angesichts der Selbstbeweihräucherung, in denen sie sich er= gehen, will ich im Interesse der Sauberkeit des politischen Lebens und zum Beweis dafür, was man heute dem deutschen Volk und anscheinend auch der ganzen Welt zumuten darf, hauptsächlich aber deshalb, weil man dem Andenken dieses Zuhälters neuerdings drei junge Menschenleben opfern will, meine Zurückhaltung aufgeben und sagen, was zu sagen ist.
Bei meinen Ausführungen stütze ich mich nicht auf die sehr detaillierten Angaben, die mir Höhler über die Zuhälterrolle des Wessel gemacht hat, da man einwenden könnte, es handle sich um die einseitige Darstellung einer Prozeßpartei. Es genügt hervorzuheben, was im Prozeß bekannt ge= worden ist.
Als das Mädchen, das mit Wessel zusammenlebte, als Zeugin vernommen wurde, behauptete sie frech, der Wahr= heit nicht entsprechend, die Miete sei von Wessel und ihr immer gezahlt worden. Ich stellte daher an sie die Frage, welche Einnahmen denn sie und Wessel gehabt hätten. Sie wurde sichtbar verwirrt und fragte den Vorsitzenden, ob sie die Frage beantworten müsse. Jedermann im Gerichtssaal verstand, daß der Beitrag, den sie zur Bestreitung des Lebensunterhaltes beisteuerte, aus unsittlichen Quellen stammte. Aus Gründen, die ich angeführt habe, drang ich nicht weiter in das Mädchen und beschränkte mich auf die Bemerkung, daß mir das Schweigen der Zeugin für die Zwecke der Verteidigung genüge.
Ein anderer Anwalt, der einen der Mitangeklagten verteidigte, begnügte sich mit dieser rücksichtsvollen Behandlung der Materie nicht, sondern richtete an die Zeugin die präzise Frage,
ob sie, während sie mit Wessel zusammenlebte, an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde, in einem bestimmten Hotel, mit einem bestimmten Mann gegen Entgelt Geschlechtsverkehr gepflogen habe.
Das Mädchen wollte sich um die Antwort herumdrücken. Der Gerichtsvorsitzende meinte, daß dieses Thema doch bereits von mir in einer zurückhaltenderen, aber für die Prozeßzwecke genügenden Form behandelt worden sei und regte an, von der Frage Abstand zu nehmen. Der Kollege bestand aber auf der Beantwortung der Frage, die das Mädchen bejahen mußte. Da sie immer erklärt hatte, daß sie die Braut Wessels und seine Vertraute in allen Dingen gewesen sei, fann man sich vorstellen, wie sensationell diese Aussage wirfte.
In meinem Schlußplädoyer deutete ich so diskret wie möglich an, daß als Motiv der Tat Eifersucht des einen Zuhälters auf den anderen in Betracht komme. Während der Prozeß im übrigen von fortwährenden Kundgebungen pro und tontra des überfüllten Zuhörerraumes begleitet war, war es bei dieser Bemerkung totenstill im Saal.
Nach Beendigung des Prozesses haben sich zahlreiche Nationalsozialisten bei mir dafür bedankt, daß ich trot meiner politischen Gegnerschaft die peinliche Angelegenheit so taftvoll behandelt hätte.
Der Antrag des Staatsanwaltes lautete nicht auf Bestrafung wegen Mordes, sondern auf Verurteilung wegen Totschlages. Das Schwurgericht schloß sich dieser Auffassung an. Höhler wurde zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Totschlags, die übrigen Angeklagten zu fürzeren Freiheitsstrafen verurteilt.
Man wird es verstehen, daß ich auf das höchste erstaunt war, daß man ausgerechnet diesen Horst Wessel zum Nationalhelden erklärt hat. Zahlreiche Leute sind mit schweren Strafen belegt worden, weil sie sich weigerten, das Horst- Wessel- Lied mitzusingen. Es gehört schon die eiserne Stirn des Propagandaministers Goebbels dazu, dem dentschen Vr't die Verehrung einer solchen Person auszu
chungen mit einem beträchtlichen Erfolg Frankreichs geendet, wenn auch dessen etwas provisorischer Charakter nicht geleugnet werden kann. Es ist Frankreich gelungen, auf der einen Seite sein Bündnis mit der Sowjet- Union zu schließen, die Anerkennung des bolschewistischen Staates durch die Kleine Entente zu erreichen und auf der anderen Seite trotzdem die Freundschaft Englands sich zu erhalten. Ja, die Genfer Tagung schloß mit einer ganz auffallenden Demonstration der englisch - französischen Freundschaft durch die Rede des englischen Vertreters Eden.
Barthou hat eine gegen Deutschland wenig freundliche Rede gehalten, und Eden hat ihm nicht widersprochen. Ja, er hat Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund nochmals ausdrücklich getadelt, und andererseits geradezu auffallend hervorgehoben, daß die englisch - französische Freundschaft ein wesentliches Element für den Frieden in Europa sei. Noch immer ist also die Entente Cordiale eine maßgebende Tatsache und die deutsch - französische Verständigung ein Zukunftstraum. Wie groß die hieraus drohende Gefahr für Deutschland , wie groß hieran aber auch die Schuld Hitlers und seiner törichten Rüstungspolitik ist, braucht nicht gesagt zu werden.
Deutschland ist jetzt unter Druck gesegt. Die Entschließung der in Genf vertretenen, Mächte fordert es zur Rückkehr in die Abrüstungskonferenz und damit praktisch auch in den Völkerbund auf. Dabei ist jedoch von der deutschen Forderung nach Gleichberechtigung nicht die Rede gewesen. Bekanntlich hat Hitler die vorherige praktische Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage zur Bedingung für seine Rückkehr nach Genf gemacht. Sollte er ohne vorherige Anerkennung der Gleichberechtigung zur Rückkehr im Völkerbund aufgefordert werden, so wäre das weniger eine Einladung als eine Herausforderung.
nun
Nun soll Mussolini Hilfe bringen. Ein Besuch des deut schen Führers bei dem italienischen Duce steht anscheinend nahe bevor. Es wird ein regelrechter Bittgang werden. Italien ist die einzige Großmacht, die die deutsche Forderung nach Gleichberechtigung bisher mit wirklicher Wärme, vertreten hat. Ob hieran neuerdings infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten Italiens und einer gewissen Annäherung an Frankreich sich etwas ändern wird, ist noch nicht abzusehen. Sehr störend für die italienisch- deutsche Freundschaft war dagegen Hitlers Einmischung in Oesterreich . Sie trifft dort auf einen Lebenspunkt der italienischen Politik, Italien arbeitet mit Hochdruck daran, Oesterreich endgültig vom deutschen Einfluß loszureißen und unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Die Wiedereinsegung der Habsburger wäre ein entscheidender Schritt auf diesem Wege. Sie würde freilich auch die Staaten der Kleinen Entente aufs äußerste alarmieren. Und wenn Frankreich der habsburgischen Restauration zustimmen sollte, so müßte es sich auf eine ähnliche Abkühlung der Freundschaft in Prag , Belgrad und Bukarest gefaßt machen, wie sie im vorigen Jahre nach dem Viererpakt in Warschau eintrat.
Doch der entscheidend Geschlagene bei der Rückkehr der Habsburger wäre Hitler . Der Erfolg seiner österreichischen Politik wäre der endgültige Verlust Oesterreichs für Deutschland . Er wird in den schmerzlichen Verzicht willigen müssen, wenn er sich Mussolinis Unterstützung in der Abrüstungsfrage erhalten will.
Stark nach innen, schwach nach außen das Ganze heißt kraftvolle nationalsozialistische Führung.
Argus.
zwingen und den ausländischen Diplomaten bei den offiziellen Veranstaltungen zuzumuten, sich zu Ehren eines Zuhälters von ihren Sitzen zu erheben.
Eine amtliche deutsche Mitteilung besagt, daß in den nächsten Wochen in Berlin in einem neuen groß aufgezogenen Strafprozeß die Vorgänge bei der Tötung Horst Wessels noch einmal aufgerollt werden sollen. Durch dieses neue Gerichtsverfahren will man das Geraune um die Zuhälterrolle des Nationalheros zum Schweigen bringen. Dieser Prozeß ist durch zwei Morde vorbereitet worden und soll mit drei weiteren Morden enden. Die Auflage richtet sich gegen den Schiffer Peter Stoll und den Maler Sally Epstein und den Friseur Hans Ziegler , denen man vorwirft, an jener Strafexpedition gegen Horst Wessel teilgenommen zu haben.
Diese Anflage ist juristisch ungeheuerlich. Während der jenige, der auf Wessel geschossen hat, nur wegen Totschlags verurteilt worden ist, wird gegen die drei Vorgenannten, die übrigens ihre Schuld auf das entschiedenste bestreiten,