Donnerstag, den 14. Juni 1934
Marschlied der Schutzhäftlinge
Nicht weit von der Arbeitslosenmetropole Chemnitz , die früher einmal eine Industriestadt war und heute auf dem Aussterbeetat steht, in der Nähe des verarmten Städtchens Frankenberg befindet sich, an dem Zschopaubach gelegen, das trostlose Dorf Sachsenburg. Das Merkmal dieses Ortes ist dasselbe, wie das aller Ortschaften des ,, dritten Reiches": verfallene, leerstehende Fabriken, öde Straßen, geschlossene Läden, ausgehungerte, verbitterte Menschen, feiste, wohlgenährte SA.- Bonzen.
Eine ehemalige Fabrik des Dorfes Sachsenburg dient jetzt als Konzentrationslager. Hinter den kahlen Mauern der verlassenen Gebäude spielen sich nun die widerwärtigen Szenen ab, die heute das Kultursymbol des unterjochten deutschen Volkes darstellen.
Das nachstehende Lied haben Sachsenburger Schutzhäftlinge gemeinsam ersonnen. Sie haben es wochenlang bei ihren Märschen auf den Straßen der Umgebung gesungen. Damit ihnen das erlaubt wurde, haben sie im Texte fast jede aggressive politische Tendenz vermieden oder in eine vorsichtige Gefühlsäußerung gekleidet. Daraus erklärt es sich, daß das Lied nur leise kämpferische Untertöne aufweist. Aber sie sind noch da, obwohl die stumpfen SA.- Ohren der braunen Wachknechte sie monatelang überhört haben. Die Bevölkerung von Sachsenburg und seiner Umgebung war aber hellhöriger. Sie verstand das Lied auch ohne Worte. Und wo die Sachsenburger Schutzhäftlinge in Marschkolonnen auftauchten und das Gefangenen- Lied der Sachsenburger" anstimmten, da strömten die Leute herbei und begrüßten den Zug mit leuchtenden Augen und aufmunternden Blicken. Ja, sogar herzlicher Beifall wurde durch freundschaftliches Winken, durch Zurufe und Händeklatschen gespendet. Man warf den marschierenden Häftlingen Blumen zu und reichte ihnen Obst und andere Geschenke dar. Die Kinder fingen an, den Refrain des Häftlings- Marsches mitzusingen, hin und wieder stimmten sogar die Erwachsenen an den Haustoren und Zäunen der Gärten in die schwermütige und doch zuversichtliche Marschweise mit ein.
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Das wurde der nationalsozialistischen Lagerleitung denn doch zu dumm. Es bildeten sich hier ,, auf Flügeln des Gesanges" die schönsten Verbrüderungen heraus zwischen dem Volke und den gefangenen ,, Staatsfeinden"! Die braune Kommandantur ließ sich schleunigst das Lied bringen und studierte es nun aufmerksam durch. Die Folge der Prüfung war der kategorische Lagerbefehl: Das Singen des Häftling
Liedes ist bei exemplarischer Strafandrohung strengstens verboten!
Seitdem hört man das Lied nicht mehr, wenigstens nicht laut und nicht aus dem Munde der Häftlinge, wenn bewaffnete SA.- Leute um sie herumstreichen. In der Bevölkerung lebt es fort, die Kinder stimmen es auf Wanderungen an, wenn der Nazi- Lehrer außer Hörweite ist. Das schlichte und volkstümliche Lied lautet:
Gefüget aus Beton und Stahl Steht' ne Fabrik im Zschopautal. Maschinen, Räder stehen still, Doch Arbeitsvolk findest du dort viel.
Tausend Kameraden, Mann an Mann, Gefangen, bewacht, in Acht und Bann, Stolz bleibt das Herz und fest unser Sinn: Wir werden in die Heimat ziehn!
Die Mauern, wo mit junger Kraft Die Spinnerin einst hat geschafft, Sind jetzt die Welt der Kämpferschar, Die stets für Recht und Freiheit war.
Tausend Kameraden, Mann an Mann, Gefangen, bewacht, in Acht und Bann, Stolz bleibt das Herz und fest unser Sinn: Wir werden in die Freiheit ziehn!
Wenn jetzt im Haus der Hammer klingt, Der Säge Blatt den Stamm durchdringt, Wenn das Gewehrschloß droht und knackt, Erschallts, als wärs ein einz'ger Takt:
Tausend Kameraden, Mann an Mann, Gefangen, bewacht, in Acht und Bann, Stolz bleibt das Herz und fest unser Sinn: Wir werden frei zur Heimat ziehn! Und stieß das Schicksal uns in Nacht, Der Tag kommt, wo uns Sonne lacht, Und wer in diesem Haus verweilt, Zu Weib und Kind und Freunden eilt!
Tausend Kameraden, Mann an Mann, Nicht mehr gefangen, in Acht und Bann, Mit heißem Herzen stürmen wir heim Und frei, frei frei wird Deutschland sein!
Der himmlische Bräutigam
Der Nationalsozialismus ist eine Lehre der ständigen Exaltation. Wer nationalsozialistische Versammlungen besucht hat, weiß, daß im Kreise der Gläubigen nichts so schwächlich wirkt, wie sachliche vernunftvolle Argumentation. Das Rednerische ist alles, und je mehr es aufhört, Mittel zum Zweck der Verständigung zu sein, je mehr der Verstand ausgeschaltet wird, desto stürmischer gehen die Hörer mit, berauscht, hingerissen, Schweiß auf der Stirn und die Lichter des seelischen Rauschs in den Augen.
Wer hat nicht erlebt, daß in der vergifteten Atmosphäre der nationalsozialistischen Propaganda Freunde plöglich zu schurkischen Verrätern wurden, daß Frauen ihre Männer an die Henker verkauften, wer erinnert sich nicht der ,, freundlichen Nachbarn", die plötzlich alle Menschlichkeit vergaßen und tausend Pfeile menschlicher Niedertracht nach dem Marxisten oder Juden schossen, dessen Freundschaft sie früher suchten. Diese Veränderung führt entweder zur absoluten Gemeinheit bei den Zynikern, oder zur geistigen Umnachtung bei den labilen Schwärmern. So ist eine neue Spielart des religiösen Wahnsinns, der Hitlerwahn, ent
standen.
Hienamputierte Rechtskunde
Die Deutsche Juristenzeitung", Berlin , eine der angesehensten juristischen Fachzeitschriften, stößt folgenden SOSRuf aus:
Jedenfalls steht unsre Reichsgesetzgebung vor einer Aufgabe, wie sie gewaltiger kaum zu denken und wie sie nur in vielen Jahren zu bewältigen ist. Diese Dinge, auf die der Reichsjustizkommissar Frank oft genug hinweist, übersehen die, die geringe Kenntnis mit viel Redeeifer vereinen. Dem Maikäfer in der Zigarrenkiste erscheint die Den Bilderstürmern Welt vermutlich klein und einfach. am liebsten jede vergleichbar, möchten diese Herren Rechtswissenschaft beseitigen. Kommentare und Lehrbücher vernichten, der Rechtskunde das Hirn amputieren. Möchte doch die von oben ergehende Mahnung einmal Frucht tragen, erst einmal zu arbeiten und die nötigen Kenntnisse zu erwerben! Das Reden und Schreiben wirkt dann überzeugender."
Im Gegenteil! Im ,, dritten Reich" wirkt nichts so überzeugend wie die von keinerlei Sachkenntnis beschwerte Maulaufreißerei. Wenn die Hakenkreuzherde für Vernunftsgründe das ganze dritte Reich" wäre niemals zugänglich wäre ausgebrochen.
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Konzentrationslager- Revue
Im neuen Deutschland wimmelt es gegenwärtig von braunen Messen. Auch die Stadt Oranienburg hält jetzt ihre Messe ab. Das wäre aber noch nicht weiter bedeutungsvoll, wenn man diese Gelegenheit nicht benügt hätte, die erste Konzentrationslager- Schau damit zu verbinden. Eine Schau, die das Verlogenste darstellt, das man sich überhaupt denken kann. Oranienburg liegt durch die Enthüllung Gerhart Segers den Erneuerern besonders schwer im Magen.
Frau in die Irrenanstalt überfüht werden, weil sie auf der Straße fliegende Heilsversammlungen" arrangierte, in denen sie, wortwörtlich Hakenkreuze schlagend, erzählte, daß Hitler ihr Bräutigam sei, der sie demnächst in feierlichem Zuge nach Berlin holen werde. Ihre Spargroschen benutzte sie dazu, um unzählige Handzettel drucken zu lassen, auf denen zu lesen war: ,, Die Braut Adolf Hitlers spricht..."
In München und Magdeburg haben sich ähnliche Fälle von Hitlerwahn ereignet. In Berlin trat eine Besessene auf, die, mit einem riesigen Hitlerbild auf der Brust, die Behauptung aufstellte, Adolf Hitlers leibhaftige Tochter zu
sein.
Sagt das alles nicht genug? Der Hitler- Faschismus ist eine Geisteskrankheit, an der noch heute, da der Gesundungsprozeß bereits im Gange ist, Millionen leiden. Ueber kurz oder lang aber werden die Genesenen begreifen, daß die Krankheitserreger nicht wie sie dem Massenwahn verfallene Opfer, sondern durchaus gesunde Halunken gewesen sind!
Der Führer und die Sprache
Daß einer, der sich Deutschlands Führer nennt, Nicht mal die Regeln seiner Sprache kennt, Ist das nicht Krampf?
Wer es nicht glaubt, der lese zur Erbauung Das Standardwerk der Nazi- Weltanschauung, Hitlers ,, Mein Kampf ".
Wenn ein Quartaner schriebe solchen Stil, Er käme sicher nicht ans Klassenziel, Er bliebe ,, kleben".
Doch wenn der Osaf unsre Sprache schändet, Wird ihm im ganzen Reiche Lob gespendet. So ist das eben!
Aus Oesterreich kam ein hungernder Geselle, Und Deutschland räumte ihm die erste Stelle Im Staate ein.
Nun kriechen alle Bildungskomödianten Vor diesem größten aller Ignoranten. Es ist zum Spein!
Straußens jüdische Freunde
Horatio.
Woran sich der Präsident der Reichsmusikkammer nicht gern erinnert
Richard Strauß hat am 11. Juni seinen 70. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlaß erinnert die Presse des Auslands daran, daß dieser heute größte deutsche Komponist, der als Sohn eines armen Hornisten seine Laufbahn begann, stets sehr stark von Juden gefördert worden war.
Richard Strauß hat nicht nur in seinen Entwicklungsjahren, sondern auch in seiner Glanzzeit fast nur mit Juden verkehrt. Beim Berliner Großkonfektionär David Levin hat er viele Jahre kostenlos gewohnt und gegessen, und zwar keineswegs als mittelloser Student, sondern als Gatte einer Tochter des Brauermillionärs Pschorr und als hochbezahlter Dirigent der Staatsoper. Seine Elektra hat er Levin gewidmet. Auch die Küche eines wohlhabenden jüdischen Kapellmeisters stand ihm jahrelang zur Verfügung. Sein Sohn verheiratete sich mit einer Prager Jüdin, einem Fräulein Grab. Aus dieser Ehe stammt sein Sohn, mit dem sich Strauß in der ,, Berliner Illustrirten Zeitung" abbilden ließ. Im ,, dritten Reich" weiß man nicht, daß Strauß' Enkel ein Judenstämmling ist. Strauß verkehrte in Berlin mit Theodor Wolff , Georg Bernhard und Alfred Kerr . Mit Max Reinhardt stand er auf ausgezeichnetem Fuß, der Jude Hugo v. Hoffmannsthal hat ihm die Texte zu seinen Opern geschrieben und seine Balletts arrangiert.
Man hat es!
Das Zimmer, wo der ,, Führer" lag.
Die Landesversicherungsanstalt Berlin gibt bekannt: ,, Bekanntlich hat sich der Führer im Jahre 1916 als Verwundeter in den Heilstätten Beelit, deren Eigentümerin die Landesversicherungsanstalt Berlin ist, aufgehalten. Es ist vor kurzem in der Presse zum Ausdruck gebracht worden, daß man heute noch in Beelitz nach dem Zimmer suche, in dem der Führer damals gelegen hat. Dazu ist mitzuteilen, daß es nach vielen Bemühungen in den allerletzten Tagen gelungen ist, das Zimmer zu ermitteln. Es sind deshalb bereits vom Vorstande der Landesversicherungsanstalt Berlin die für eine würdige Herrichtung des Zimmers erforderlichen Vorarbeiten in Angriff genommen; über sie wird in nächster Zeit Näheres der Oeffentlichkeit berichtet werden können."
Es fehlt bei dieser offiziellen Meldung der Berliner Landesversicherung leider das Wesentliche: die Feststellung, wieviel Kranke, die in dem geheiligten Zimmer lagen, durch die vom ,, Führer" hinterlassene Aura wieder genasen.
Es wird keine angenehme Auseinandersetzung für die Führer Zeit- Notizen
in den Irrsinn werden!
Pierre.
Nachdem sie mit ihrer Sanatoriumsbeschreibung über das Lager in der ganzen Welt nur einen Lächerlichkeitserfolg ernteten, probieren sie es nun mit einer ,, Schau". Was man da schaut, sind natürlich nicht die Gummiknüppel und Marterwerkzeuge, mit denen die Häftlinge täglich geprügelt werden, sondern ein geradezu rührendes Verhältnis zwischen Gefangenen und den Wachmannschaften. Hugenbergs ,, Tag" schreibt darüber:
,, Den Hauptanziehungspunkt der Messe bildet die ,, Konzentrationslager- Schau". In eindringlicher Weise wird dem Beschauer klar gemacht. wie unwahr und verlogen die ausgestreuten Berichte über die Behandlung der Lagerinsassen sind. Reizende Holzarbeiten der Lagerinsassen als Geschenke für die Wachmannschaften und andere Gegenstände sind ausgestellt. Unter anderem sieht man auch eine Sammlung von Waffenfunden. Wie segensreich und notwendig die Schaffung und Unterhaltung der Konzentrationslager war, zeigt ein Bild der Schlafräume und der Großküche, die täglich 1758 Liter Essen verabreicht. Viel andere Gegenstände aus dem Lager ergänzen die Schau." Die Bilder, die Seger in seinem Buch ,, Oranienburg " von der braunen Hölle entwirft, fehlen allerdings. Vielleicht aus Vergeßlichkeit!
Frederick Delius+
Der große englische Komponist Frederick Delius ist in seinem Heim in Grez sar Loing bei Paris gestorben. Das Schaffen von Delius ist in den letzten Jahren auch in Deutsch land stärker beachtet worden, obwohl er sich Bühne und Konzertsaal bisher nicht dauernd zu erobern vermochte. Einen Teil seiner Stoffe nahm er aus den Dichtungen des Dänen J. P. Jacobsen . Delius war seit vielen Jahren blind und teilweise gelähmt.
Japanisches Studieninstitut an der Sorbonne
Die Milliardärs- Familie Mitsui, die als die reichste der Welt gilt, hat es der Pariser Universität durch eine großzügige Stiftung ermöglicht, ein japanisches Institut zu eröffnen. Dieses soll in Frankreich alles fördern, was geeignet ist, eingehende Kenntnisse Japans , seiner Geschichte, seiner Einrichtungen, seiner Literatur, seiner Kunst, seiner Bodenbeschaffenheit, seiner Lebensquellen und Entwicklungsmöglichkeiten sowie des sittlichen und geistigen Lebens seiner Bevölkerung zu vermitteln. Das Institut wurde dieser Tage in Anwesenheit des japanischen Botschafters in Paris feierlich eingeweiht.
Gütt von der Sippe
Ministerialdirektor Dr. Gütt, Leiter der Abteilung für Volksgesundheit im Reichsministerium des Innern, hielt in der Hochschule für Politik einen Vortrag, in dem er die Kinderarmut des deutschen Volkes beklagte und ausführte, daß Deutschland eigentlich ,, 9 bis 10 Millionen mehr Kinder haben müßte, denn mehr Kinder als Nur- Verbraucher hätten uns vielleicht das Arbeitslosenelend nicht so stark fühlbar werden lassen. Dr. Gütt gab die Anregung, die Standesämter umzuwandeln... Gleichzeitig warnte der Redner vor einer Ueberschägung der Bildung und stellte den Vorschlag auf, die Lehrzeit an den Hochschulen abzukürzen..." Nobel- Preis 1934
Die vier Nobel- Preise für Literatur, für Medizin, für Physik und für Chemie werden in diesem Jahre je 162 607 schwedische Kronen betragen. Für den literarischen NobelPreis sind zwar schon wieder verschiedentlich Namen genannt worden, aber, wie in Stockholm betont wird, beruhen alle diese Nachrichten auf Vermutungen, gerade was den Nobel- Preis für Literatur betrifft, ist man ja an Ueberraschungen gewohnt, denn auch im vergangenen Jahre war man nicht wenig erstaunt, als dem Russen Iwan Bunin , an den man kaum hatte denken können, der reiche Preis zugesprochen wurde,