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Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Aus dem Inhalt

Spaniens Regierung

auf dem Pulverfaß

Seite 2

Göcing als neuer Moses

Seite 3

Politische Sensationsprozesse

Seite 4

Oesterreichs Revolution

in Permanenz

Seite 7

Nr. 135 2. Jahrgang

Saarbrücken , Freitag, den 15. Juni 1934

Chefredakteur: M. Braun

England gegen Banditen

Man lehnt die Brutalität der faschistischen Schwarzhemden ab

Ein Faschisten- Flasko

London , 14. Juni. ( Eig. Bericht.) Mosleys Faschist en genießen zur Zeit eine große Publizität. Doch es ist fraglich, ob Mosley sich darüber sehr freut. Er hatte zu einem großen Schlage ausgeholt und eine große Ausstellungshalle Londons als Versammlungs­Iofal gemietet. Fünfzehntausend Menschen gehen da hinein, und der Raum war voll, nachdem die Rothermere- Presse wochenlang Werbeartikel veröffentlicht und Gratis farten in Massen verteilt hatte. Aber trotzdem ist sich die englische Presse einig, daß diese Versammlung ein großer Mißerfolg Mosleys war. Selbst der Artikel in der faschistischen Daily Mail" flang etwas flein­laut. Einmal fehlte außerhalb der organisierten Schwarz­hemden die Jugend, ferner gelang es Mosley nicht, die Ver­sammlungsbesucher mitzureißen. Im Gegenteil, es ver­ließ nach übereinstimmenden Berichten der verschiedenen Zeitungen etwa ein Drittel der Hörer die Veranstaltung, während Mosley noch beim Reden war!

Vor allem aber hat die Brutalität der Schwarz Hemden in weiten Kreisen Empörung erweckt. Vor der Ver­fammlung gab es bereits Zwischenfälle der Antifaschisten und gelegentlich Schlägereien. Vor allem aber spielten sich innerhalb der Versammlung geradezu unbeschreibliche Szenen ab, wie man sie selbst in England seit Jahrzehnten nicht fannte. In englischen Versammlungen sind Zwischen­rufe durchaus an der Tagesordnung und werden meistens vom Redner humorvoll beantwortet. In der Schwarz­

hemden- Versammlung aber wurde jeder, der sich von seinem Siz erhob, um etwas zu rufen, von acht bis zehn Schwarz­hemden gepackt, in der Versammlung verprügelt und heraus­geworfen. Auch Frauen erging es vielfach so. Die Zeitungen sind voll von Zuschriften, meistens fonservativer Persönlich­feiten, denen man gewiß feine Sympathie mit fommunisti­schen Zwischenrufern nachsagen kann, die aber doch sämtlich ihre Erbitterung gegen die Schwarzhemden zum Ausdruck bringen. Der fonservative Daily Telegraph " bringt seit dem Tage der Versammlung in jeder Ausgabe Spalten voll empörter Zuschriften. Der Privatsekretär des stell­vertretenden Ministerpräsidenden Baldwin hat eine unge­wöhnlich scharfe Erklärung gegen das Faschistentreiben ver­öffentlicht. Sechs Minister haben am Sonntag in Reden ihrer Empörung Ausdruck gegeben, im Parlament häufen sich die antifaschistischen Anfragen konservativer Abgeord= neter, und selbst die faschistische Daily Mail" des Lord Rothermere hat zunächst die Sprache verloren. Mosley hat mindestens eine Schlacht verloren.

Mosley selbst fühlte, daß er in die Verteidigung gedrängt ist und suchte im Rundfunk seine Schwarzhemden zu recht­fertigen. Doch der nächste Rundfunfredner, ein angesehener Journalist, widerlegte ihn mit schlagenden Beispielen und erflärte, er habe seit dem Kriege solche Brutalität nicht mehr gesehen. Es gibt Engländer, die der Ansicht sind, daß diese Versammlung für Mosley sogar den Anfang vom Ende be= deutet. Ob das der Fall ist, mag dahingestellt bleiben, aber daß diese große Versammlung ein Mißerfolg war, ist nicht zu bestreiten. Noch sind in England die Kräfte, die gegen brutale Gewalt sich zur Wehr jegen, starf und gesund.

Venedig als Canossa

Hitlers Bitigang zu Mussolini

Der deutsche Reichskanzler Hitler und Mussolini haben fich am 14. Juni in Venedig getroffen. Hitler hat seine erste Auslandreise unter sehr großer deutscher Polizeibedeckung angetreten. Die Reise wurde bis zuletzt geheimgehalten und in Italien wurde aus Sicherheitsgründen vermieden, Rom für die Entrevue zu wählen.

Das Deutsche Nachrichtenbüro meldet, es sei seit langem der Wunsch des italienischen Regierungschefs und des deutschen Reichskanzlers gewesen, sich persönlich kennen zu lernen. Das ist eine grobe Jrreführung, denn dieser Wunsch ist bis­her nur von Hitler geäußert worden, und zwar wiederholt. Mussolini hat wiederholt die Begegnung abgelehnt. Wenn sie jezt zustandekommt, so wohl deshalb, weil Mussolini seinen Berliner Kollegen für mürbe genug hält, um ihn zum Nach­geben zu bringen und für die italienische Außenpolitik zu gebrauchen. Der Reichskanzler wird insbesondere in der österreichischen Frage klein beigeben und den klerikalen Austrofaschismus hinnehmen müssen. Daneben wird ihm Mussolini klar zu machen versuchen, daß Venedig nur eine Zwischenstation des deutschen Canossaganges nach Genf sein fann. Ohne Rückkehr in den Völkerbund ist an Erleichterun­gen in der Isolierung Deutschlands nicht zu denken. Aber auch in dieser Beziehung macht sich Mussolini natürlich we­niger Sorgen um Deutschland als um die italienische Völfer­bundspolitik, für die er deutsche Sekundantendienste braucht. Möglich ist auch, daß Mussolini dem Banfrottfanzler das Locmittel einer Anleihe aus Frankreich oder Nordamerika hingehalten hat, wenn er reumütig nach Genf zurückkehrt.

Der Umweg nach Geni

Was Paris meint

DNB. Paris, 14. Juni. Der Figaro" gibt unter allen Vorbehalten ein angeb­liches Programm wieder, das Mussolini dem Reichsfanzler zu unterbreiten gedenke und das sich nach römischen Ge­rüchten wie folgt aufammensetze:

1. Muffolini würde dem Reichsfanzler einen zehnjährigen Waffenstillstand in der österreichischen Frage vorschlagen, während welcher Zeit Deutschland feine politische Aktion in Desterreich durchführe und die Unabhängigkeit Desterreichs achten würde. Italien würde sich dasür bereit erklären, mit Deutschland in Mitteleuropa wirtschaftlich zusammenzuar­beiten.

2. Mussolini würde einen Land- und Luftrüstungsplan vor­legen, der im wesentlichen dem bekannten italienischen Vor­schlag ähnele. Deutschland würde die Gleichberechtigung und eine gewisse Aufrüstung zugestanden werden. Wenn Hitler dem Plan vorbehaltlos zustimme, würde Mussolini ihm ver­sprechen. bei England und Frankreich im Sinne einer An­nahme zu vermitteln. Die Sicherheit würde durch feierliche und präzise Erneuerung des Locarno - Paftes verstärkt werden

3. Mussolini würde für September die Rüdfehr Deutsch­ lands zum Völkerbund anregen, wobei innerhalb des Völkerbundes gewisse Reformen vorgenommen werden müßten.

Der römische Korrespondent des Matin" erflärt, Deutschland und Italien würden aus den inneren und äußeren Schwierigkeiten nur durch internationale Verständi­gung und Zusammenarbeit herauskommen können. Deutsch­ lands Austritt aus dem Völkerbund sei ein Schlag ins Wass ser gewesen; denn Italien sei in Genf geblieben und Sowjet­rußland werde in den Völkerbund eintreten. Rom brauche den Stützpunkt Berlin , um nicht gezwungen zu sein, sich mit gebundenen Händen dem französischen Enstem auszuliefern. Die Politik des Viererpaktes habe einen Niedergang erlebt; aber Mussolini habe niemals völlig auf sie verzichtet. Der Duce könne dem Reichskanzler nur Ratschläge der Weisheit geben. Deutsche Zugeständnisse würden die Schiedsrichterauf­gabe Jtaliens sehr erleichtern.

Der nach Venedig entsandte Sonderkorrespondent des Petit Parisien" meldet seinem Blatt, man dürfe an­nehmen, daß die österreichische Frage Deutschland und Ita­ lien nicht mehr in gefährlicher Weise trenne.

Hitler fönne Mussolini sehr wohl vorschlagen, das Ans: Ruder- tommen einiger Nationalsozialisten in Wien zu dulden unter der Garantie, daß Deutschland keine ver: stedte Annegionspolitik gegenüber Defterreich betreibe. Hitler brauche vor allem die italienische Vermittlung und die italienische Unterstüßung in der Rüstungsfrage.

Das Echo de Paris" erklärt, die Freundschaft der beiden Diftatoren sei durch allerhand Ereignisse der letzten Zeit erschüttert worden. Im Januar und Februar have Mussolini sogar Kriegsdrohungen ausgesprochen, um Defter: reich vor der Hitlerwelle zu retten. Die faschistische Diploma­tie habe einen Mißerfolg nach dem anderen erlitten. Der Führer und der Duce könnten sich unter diesen Umständen über zwei Fragen sicher verständigen: Einmal darüber, daß die Abrüstungskonferenz die Herabiebung der Rüstungen Frankreichs verfolgen müsse, und zum andern liege es im deutschen wie im italienischen Interesse, den gegenseitigen

Gestern und heute

Nur die Eingeweihten im Reichswehrministerium, und auch die nicht ganz genau, kennen die augenblickliche Zahl der Angehörigen der deutschen Wehrmacht. Jeder weiß nur, daß der Wunschtraum der Dreihunderttausend nicht sehr weit von der Erfüllung entfernt ist.

In dieser Stunde aber sitzen zehntausende von deutschen Soldaten in ihren Kasernenstuben und quälen sich. Sie lernen den neuen Soldaten- Katechismus auswendig, den ihnen in diesen Tagen der Reichspräsident als oberster Befehlshaber der Wehrmacht vorgelegt hat. Zur nächsten Instruktions­stunde müssen sie bereits ihr Pensum gelernt haben. ,, Schulze, was ist die Wehrmacht?" Zu Befehl, Herr Feldwebel! Die Wehrmacht ist der Waffenträger des deutschen Volkes. Sie schützt das deutsche Reich und Vaterland des im Nationalso­zialismus geeinten Volkes und seinen Lebensraum." ,, Gut, Schulze, setzen Sie sich." Dieses Frage- und Antwortspiel be­helligt in unzähligen Angstträumen die deutschen Soldaten. Mit Schulzes Antwort ist das Wichtigste über die Eigen­art der neuen Kriegsartikel schon gesagt. Die nationalsozia­listische Parteidiktatur wird als Symbol des geeinten Volkes vorausgesetzt. Bewußt wird der Begriff ,, Staat " vermieden, aber Blut und Boden ( ,, die Wurzeln ihrer Kraft liegen in ihrer ruhmreichen Vergangenheit, im deutschen Volkstum, deutscher Erde und deutscher Arbeit") sind auch hier stabili­siert. Acht Artikel im nationalsozialistischen Formelkleide: der Soldat, dem ganzen Volke ein Urbild männlicher Kraft, bescheiden, aufrecht, treu, gottesfürchtig, wehrhaft, ver­schwiegen, unbestechlich.

In den bisherigen Berufspflichten" von 1930 hieß es noch, daß die Reichswehr das Machtmittel der gesetzmäßigen Reichs­gewalt ist, um die Grenzen des deutschen Reichs und seinen Bestand, nach außen und nach innen, zu schützen. Das eut­sche Reich sei eine Republik und der Soldat schwöre ihrer Verfassung die Treue. Aus diesen Sägen ist erkennbar, daß die Berufspflichten" in der Tat heute nicht mehr aktuell sind. Es gibt eine Verfassung nur noch insoweit, als sie der Hitlerdiktatur Stüge zur Machtbehauptung ist. Auch die Er­innerung an ,, Schwur" und Treue", die man in den Artikel von 1930 findet, hat etwas Peinliches. Denn es wäre denkbar, daß ein Reichswehrsoldat beim Studium solcher Sätze an seinen obersten Befehlshaber und Reichspräsidenten denkt und vielleicht auch den Herrn Reichskanzler in seine Erwä gungen einbezieht. Daß man diese antiquierten Begriffe in Bezug auf die Verfassung mit Schwurgirlanden ausgemerzt hat, entbehrt nicht der Folgerichtigkeit.

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Aber die neuen Artikel sind nicht nur in dem wichtig, was sie fortlassen. Sie sind bereits positiv auf ein Volksheer" zugerichtet, das auf den Grundlagen der allgemeinen Wehr. pflicht beruht! Ein Volksheer freilich, das den wirklichen Willen des Volkes, wie er sich früher im Staat repräsentierte, nicht mehr zu respektieren braucht. Es gibt keinen legalen Weg mehr, das Regiment des Nationalsozialismus kraft des Volkswillens, ausgedrückt in seiner Mehrheit, zu beseitigen. Dieser faktische Zustand der Diktatur wird jetzt auch den Soldaten als formeller Rechtszustand aufgezwungen. Und er soll ihn durch Waffengewalt schützen!

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Die Berufung auf das Volk" ist also eine Heuchelei. Besser als die Deutsche Allgemeine Zeitung", kann man den Tatbestand nicht kennzeichnen: ,, So werden die Pflichten des deutschen Soldaten" in einer Zeit, in der echter soldati­scher Geist den Lebensformen der ganzen Nation seinen Stem. pel aufdrückt, zu einem Grundgesetz des deutschen Menschen überhaupt, zur Magna Charta einer wehrhaften Nation."

Man kennt diesen Schwamm und Schwulst. Werden aber die feldgrauen Zehn Gebote zur Ehre des Nationalsozialismus die inneren Spannungen zwischen Wehrmacht und brauner Prätorianergarde aufheben? Vielleicht sind wir von der Stunde nicht mehr sehr weit entfernt, in der sich herausstellt, daß es nur ein Lippengebet gewesen ist. Argus.

Beistandspakten, die den Frieden von 1918 und 1919 zu be­stätigen geeignet wären, Hindernisse in den Weg zu legen. Noch besser wäre es, wenn sich Hitler Mussolini gegenüber bereit erflären würde, die deutsche Expansion auf den Nord­posten zu beschränken und den Südosten dem italienischen Einfluß zu überlassen. Möglicherweise werde Mussolini sich auch für eine Rückkehr Deutschlands nach Genf einsetzen.

Nach dem Oeuvre" denfe Mussolini über die Sicher­heitsfrage ebenso wie Hitler . Vielleicht bestehe auch eine ge= meinsame Furcht vor der russischen Betätigung in der euro­ päischen Politik. Deutschland und Italien wollten der eng­lischen Einstellung schmeicheln, die der Organisierung der Sicherheit wenig günstig gegenüberstehe. Die Unterredung von Venedig sei die zweier schlecht gelaunter Staatsmänner; schlecht gelaunt, weil ihre Innen- und Außenpolitik in der lebten Zeit nicht viele Erfolge erzielt habe.

Die Zeitung Ordre" bemerkt zu einem etwaigen Ver­mittlungsversuch Mussolinis zwischen Deutschland und dem Völkerbund, der Chef der faschistischen Regierung sei nicht gerade befugt, die Vorteile des Völkerbundes zu rühmen, den er in seinen Reden so heruntergemacht habe.

Die radikaliozialistische Zeitung a Republique" be­hauptet, Deutschland schleppe noch die Krise und das Elend