Sonntag- Montag, den 24. und 25. Juni 1934
Butterkorn spricht fließend französisch
Von Georg Wilman
Der Zug hatte die Grenze passiert. Bald darauf kam ein Franzose ins Abteil. Butterkorn bebte vor Erregung. Jetzt war der große Augenblick da! Zum erstenmal in seinem Leben saß er einem leibhaftigen lebendigen Franzosen gegenüber, zum erstenmal konnte er seine vorzüglichen französischen Sprachkenntnisse an den Mann bringen. Jetzt sollte sich zeigen, was er in drei Schuljahren mühsam und gelegentlich vom Rohrstock unterstützt gelernt hatte. Jetzt oder nie!
Der Franzose beugte sich, als habe er Butterkorns Gedanken erraten, zu ihm hinüber und sagte:
,, Excusez, Monsieur, mais ça fait terriblement chaud ici. Vous permettez d'ouvrir la fenêtre?"
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Butterkorn verstand: Küsehsjö, fä riblemangscho metteh uwrir fnätre?" Er machte ein entsprechendes Gesicht und suchte krampfhaft in seinem Gehirn nach dem Sinn dieses Sages. ,, Kusch" das hieß wahrscheinlich cousin, Vetter. ,, Sjö", das wußte er, war die Abkürzung für Herr. ,, Riblemangscho" das war ihm absolut unbekannt. Vielleicht der Name einer Firma? ,, Metteh" das war eine Form von„, mettre" und hieß setzen, stellen, legen. ,, Uwrir" das war ein schlecht ausgesprochener ouvrier" und hieß Arbeiter. ,, Fnätre" das war? He? Das war- Augenblick, la table, der Tisch, la porte, die Tür, la fenêtre, das Fenster. Also hieß der Sats, den der Franzose eben ausgesprochen hatte, frei übersetzt nach Butterkorn:
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,, Mein Herr Vetter ist bei riblemangscho Arbeiter und setzt Fenster!"
Jetzt mußte also Butterkorn etwas sagen. Was? Nun, es war unzweifelhaft interessant, daß des Franzosen Vetter
usw.
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,, Ja, mein Herr, mein Vetter, ich habe einen auch, ist Vertreter für Schwerölmotoren." ,, Oui, monsieur, mon.. Weiter kam er nicht. Der Franzose sprang, sichtlich von einem Druck befreit, auf und öffnete das Fenster.
Verdammt! Butterkorn zuckte zusammen. Sein Rheuma! Warum fragte der Kerl nicht um Erlaubnis. Ein leises Miẞtrauen gegenüber der vielgerühmten Höflichkeit der Franzosen schlich sich in Butterkorns Herz.
Der Franzose sah das verärgerte Gesicht des anderen, merkte, daß er irgendetwas falsch gemacht hatte, und ließ sofort, um sich zu entschuldigen, eine längere französische Ansprache vom Stapel.
Butterkorn verstand kein Wort und gab nach einer Minute auch den Versuch dazu auf. In seinem Gehirn sah es in diesem Augenblick relativ scheußlich aus. Endlich war er einem Franzosen begegnet, der sich mit ihm zu unterhalten versuchte, endlich sollte und wollte er beweisen, daß die Eins, die kalligrafisch hinter dem gedruckten Wort„ Fran zösisch " in seinem Abgangszeugnis geprangt hatte, kein und er verstand nicht einmal franlehrer Wahn war zösisch! Vielleicht war der Franzose gar kein Franzose?
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Vielleicht sprach er irgendeinen französischen Dialekt, und Butterkorn erinnerte sich, daß es ihm unmöglich war, auch ihm nur einen Sachsen zu verstehen, vielleicht aber auch schwante dunkel, daß möglicherweise die Aussprache seines Lehrers doch nicht ganz die vorschriftsmäßige gewesen sein mochte; verständlich immerhin, denn der Lehrer stammte aus Pillkallen.
Der Franzose stoppte nach einiger Zeit seinen Redefluß, sah, daß Butterkorn keine Anstalten traf, seinerseits eine Gegenrede zu halten, und fragte schließlich:
,, Vous ne parlez pas français, monsieur?" Gottseidank, das verstand Butterkorn! Wie, man wollte ihn beleidigen? Man sette Zweifel in seine Sprachfähig. keiten? Halt wozu hatten sie in der Schule stunden-, wochen- und monatelang Gedichte büffeln müssen, bis ihnen der Schweiß durch den durchgewetten Hosenboden rann? Wie hatte er geflucht, als er einmal wegen eines Gedichtes zwei Stunden Karzer bekommen hatte. Jegt sollte ihm das damals als nutzlos empfundene Auswendiglernen von Nutzen sein! Jetzt konnte er dem Franzosen beweisen, daß er ein gebildeter Mensch sei, kein Barbare, nein....
Und plötzlich legte er pathetisch, trotzdem aber für den Franzosen fast unverständlich, los, ratternd wie ein altes Lastauto:
,, Maitre corbeau, sur un arbre perché, Tenait dans son bec un fromage. Maitre renard, par l'odeur alleché, Lui tint a peu prés ce langage: ' Hé! bonjour..."
Doch das Wort„, monsieur", das jetzt folgen sollte, blieb ihm im Halse stecken. Denn der Franzose sprang auf, raffte in unfaẞbarer Geschwindigkeit seine Sachen zusammen und verließ fluchtartig den Schauplatz Butterkornscher Konversationskünste.
Butterkorn seufzte, griff nach seiner deutschen Zeitung und dachte: ,, Komisch, nicht mal französische Gedichte verstehen diese Leute!, Nein, das war sicher gar kein Franzose!" Und als er noch sinnierte, welcher Nationalität der seltsame Fremde wohl gewesen sein möge, kam der Schaffner in das Abteil. Der Schaffner, das kam Butterkorn erleichternd ins Bewußtsein, sprach eine gewisse Abart der deutschen Sprache.
Er beugte sich zu Butterkorn herunter und fragte teilnehmend:
,, Sind Sie jetzt etwas besser, mein Err? Ist es mich nötig, Ihnen zu olen ein Glas von Wasser frisches?" Butterkorn glotte verständnislos. Was? Wasser? Warum? Der Schaffner versuchte zu erklären: ,, Eine Err ist gekommen aus dieser Abteil und sagen, sie plötzlich krank. Sie plötzlich angefallen von Sinnwahn!"
Butterkorn war noch wütend, als der Zug auf dem Gare de l'Est einlief.
In Paris lernt er jetzt zum zweitenmal französisch, die Stunde zu 12 Franken. Und der einzige Trost, den er dabei hat: seine Lehrerin ist eine niedliche Studentin.
Das nämlich ist der Inhalt der ersten Novelle aus dem neuen Buch Ignazio Silones :„ Die Reise nach Paris", erschienen im Verlag Oprecht und Helbling, Zürich , daß der Mann aus Fontamara, in ein Hundecoupé gesteckt, um über die Grenze nach Paris zu flüchten, brav wieder in diesem Hundeabteil zurückkommt. Weil er seine wie Ignazio Silone , weil er seine BauernHeimat liebt wie Ignazio Silone , weil er nicht weiß, was brüder liebt er in der großen Stadt anfangen soll; denn er kann nicht wie Ignazio Silone . schreiben und dichten
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Faschismus wird gezeigt, immer wieder Faschismus, immer wieder in anderer Gestalt. Es ist ein Buch, das fesselt. Den Leser wie den Faschismus. Keine Regung dieses sadistischsten aller politischen Systeme wird vergessen. Ebensowenig allerdings die Sucht nach ,, Heldenverehrung", die der großen Masse des Volkes, aller Völker, so sehr notwendig und erstrebenswert scheint. Simplicio, ein Held wider Willen, ein Held, der von seinem ihm angedichteten Heldentum überhaupt keine Ahnung hat, Simplicio, der frühere Kommunist, der es gelernt hat, in resignierter, schweigender Hoffnungslosigkeit zu leben, wird gezeigt, wie er im Volksmund, nicht persönlich anwesend, weil vor dem Faschismus in die Berge geflüchtet, lebt, während er in
letzte Erzählung im Buche Silones findet man nämlich: ,, Ignazio Silone von Nettie Sutro ", der Uebersetzerin der Siloneschen Bücher, findet man in Kursivschrift ein Dutzend Seiten, auf denen Frau Sutro Herrn Silone über den grünen Klee lobt, ihn vergleichend mit Hamsun und Zola, die ihm kaum das Wasser reichen können glaubt Frau Sutro-, seinen erfolgreichen Roman ,, Fontamara" bis ins Einzelne besprechend. Zwölf und mehr Seiten Lob, Lob, Lob in des Dichters eigenem Werk über den Dichter und seine Werke.
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Was würden die Leser einer Zeitung dazu sagen, wenn ein Redakteur die begeisterten Zuschriften, die sogar Redakteure von Zeit zu Zeit bekommen sollen, an seine Artikel dranhängte?! Die guten Leser, und Leser sind immer gut, sofern sie keine Freiexemplare erhalten, bekämen mit Rechte gelinde Tobsuchtsanfälle und würden- mit Recht das Blatt abbestellen, bis das Uebel beseitigt wäre. Es wäre schade, wenn dem Buche Silones ein ähnliches Schicksal beschieden sein würde, denn dieses Buch muß gelesen werden, weil es wirklich lesenswert ist. Vielleicht könnte man aber dem Uebelstand abhelfen-? Vielleicht
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Wirklichkeit an seinem Lungenleiden stirbt. Ein Spion der Vom Miesmacheckrieg in einer beinahe grauenvoll spannenden Erzählung, besiegt ,, Mensch, hast du Schwein!" die Ehrlichkeit, nachweisend damit, wie sinnlos alle die handeln, die sich einem faschistischen System und seinen Anhängern gegenüber auch nur korrekt benehmen, nachweisend damit, daß er alte Satz:„, Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" die einzige Rettung der Menschlichkeit und der Menschenwürde bedeutet.
Unfeinheiten
Wunderbar ist es Silone gelungen, in diese drei Novellen die ganze Unerträglichkeit faschistischer Herrschaft bis in man muß wohl sagen die kleinsten hineinzupressen, wunderbar sind Silone diese drei Novellen gelungen, auch wenn man sie vom literarisch- dichterischen Standpunkt aus betrachtet. Allgemeingültiges ist wirklich allgemeingültig festgelegt und doch dabei undogmatisch. Geschrieben mit einem leisen Lächeln liebenswürdiger Nachsicht gegenüber den Menschen und ihren Schwächen.
Anschließend findet man zwei Reportagen, die zwar humorvoll sind, politisch aber zu indifferent, um neben den drei wirklich starken Dichtungen bestehen zu können. Das
Miese Reisezeit
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Drum jagt das ,, dritte Reich" auf Reisen nach Luft, nach Freundschaft und nach Geld. Erst wurde Hindenburg verfrachtet nach Neudecks steuerfreier Flur. Dann hat der Balkan mies betrachtet Herrn Görings Heldenwitzfigur.
Auch Röhm ist schlecht zurückgekommen. Ragusa hat ihn flau geehrt.
Nun hat er Ferien genommen. Man weiß nicht, wann er wiederkehrt.
Dem Führer schien das Wetter gnädig, drum reiste er als junger Mann zu seinem Meister nach Venedig , um dort zu zeigen, was er kann.
Der nahm ihn tüchtig ins Examen und zog ihm sachte Zahn um Zahn. Eh sie noch recht ans Sprechen kamen, saẞ Hitler wieder auf der Bahn.
Hanfstaengel ist es schlecht ergangen, als er per Schiff nach Westen glitt. Neuyork hat ihn sehr warm empfangen und ihn gefragt nach Dynamit.
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Herr Goebbels hatte Pech in Polen . Er kam und sah und war devot. Man dankte ihm ganz unverhohlen durch Hakenkreuzparteiverbot.
Ein Mord war dabei zu beklagen. Herr Goebbels funkt sein Beileid rund. Herr Seldte stieg in seinen Wagen und fuhr zum Frontsoldatenbund.
Es traf ihn eine braune Horde vom nachbarlichen Kampfverband. Zur Not entging er einem Morde mit einem blauen Augenrand.
Herr Ley füllt alle Ausflugsorte mit seiner Kraft- durch- Freude- Front. Er übt für Militärtransporte, denn düster ist der Horizont.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Welt hinaus. Wie mancher meckert wohl im Leisen: Am schönsten ist es doch zu Haus.
Der Rote Hans.
Der Maler Larionow hat eine choreografische Tragödie" mit dem Titel„, Hamlet " vollendet. In den vier Bildern dieses Ballets werden alle technischen Kunststücke der modernen Bühne zur Anwendung kommen, und der Regieplan, der erst zum Teil bekannt ist, verspricht in dieser Hinsicht allerhand Ueberraschungen. Auf Dekorationen im üblichen Sinne soll allerdings verzichtet werden, die sogenannte ,, konstruktive Bühne" soll den Ersag dafür schaffen. Das Ballett- Korps spielt die Rolle des antiken Chors, es wird in zwei Gruppen geteilt sein, wobei die eine das Schicksal, die andere die Ereignisse darstellen wird. Die Darsteller werden in schwarzen oder weißen Masken erscheinen. Die Musik ist nach Bach und Palestrine zusammengestellt. In jedem Falle- ,, Hamlet " als Ballett, das hätte sich Shakespeare nicht träumen lassen!
Der soundsovielte SA.- Sturm wird geschlossen in Kubes. Totila" kommandiert, damit wenigstens die vordersten Parkettreihen besetzt sind. Beim Anmarsch fragt SA.- Mann Kuntschke seinen Nebenmann:
,, Du saar' mal: Totila , wer war denn det?" ,, Mensch, klar: der hat doch unsa'n Totalitätsstaat erfunden."
WHC. Turnen gegen liberalistischen Geist
Das 50. Heft der NS- Monatshefte erscheint als Sonderheft für Leibesübungen. Das Vorwort schrieb der Reichssportführer. In dem Heft ist ein Artikel von einem Mann namens Heinz Wetzel über die geistige Lage der neueren deutschen Leibesübungen"; wir glauben, daß der folgende Sat genügt: ,, Man wollte im Grunde genommen in den hundertfünfzig Jahren deutscher Leibesübungen zwar immer der Wirkung liberalistischer Wissenschaft entfliehen, aber dadurch, daß man unter der Herrschaft ihrer Tendenz stand, blieb es bei einem Gegensatz innerhalb der gleichen Sphäre. Man wandte sich gegen die einseitige Vergeistigung und lebte doch in ihrer Tendenz, indem man Spezialwissenschaft und Fachwissenschaft aufforderte, das Wesen der Leibesübungen zu erfassen."
Der Nachtautobus 9 ist proppenvoll. Es ist der lette Wagen. Das Publikum ist so die legte Auflese von dem, was den Cafés der Friedrichstadt bei Feierabend entströmt. Einer mit Orden und Abzeichen springt noch auf, er brüllt in angeheiterter Stimmung ,, Heil Hitler !" in den Wagen hinein. ,, Heil Hitler !" schallt es im Chor zurück. Eine Stimme sagt eine Sekunde später laut und deutlich: ,, Guten Abend!" Alle Hälse recken sich... Der Dekorierte nimmt den Miesmacher etwas aufs Korn. Seine Haltestelle kam, und noch einmal brüllt er in den Wagen: ,, Heil Hitler !" Wieder die gleiche Resonanz wie vorhin, wieder ein lautes und deutliches Guten Abend!". 86 Emigranten stellen in London aus ,, Mensch, Du bist woll' nen Jude, Du willst woll unsere nazionale Bejeisterung hier störn, wat?" der Dekorierte pflanzt sich breit vor den Sprecher hin und stößt ihn kräftig dabei. Allerdings bin ich Nichtarier!" klingt es ruhig zurück. ,, Mensch, hast Du Schwein, brauchst den ganzen Quatsch nich mitzumachen!" platzt der Dekorierte heraus und springt schleunigst ab.
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Klageweib„ Letizia" und der abgesägte Stadtschreiber Herr Fragen und Antworten Aristotele" sind mehr für die intimen Kenner des Ortes Fontamara geschrieben, denen sie mehr sagen als uns, die wir sie nur belächeln können. Gute Reportagen. Aber Reportagen.
Vielleicht sollten diese beiden Geschichten den Uebergang bilden zu dem kleinen Unglück, das nun folgt. Als
, Warum sollen wir mit Heil Hitler grüßen?"" Weil wir keinen guten Tag mehr haben!"
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, Was bedeutet der Hitler- Gruß?" Aufgehobene Rechte!" ..Was ist ein Arier?"" Das Hinterteil von Die neue Front" Proletarier!"
einem
In der Galerie Parsons, London , ist eine Gemälde- Ausvon 86 jüdischen Künstlern, die Deutschland verlassen haben, eröffnet worden.
stellung mit Werken
Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten, wo sich die eitle Aftergröße bläht,
da kann die Kunst das Edle nicht gestalten. Vor keinem Ludwig wird es ausgesät; aus eigener Fülle muß es sich entfalten, es borget nicht von ird'scher Majestät; nur mit der Wahrheit wird es sich vermählen, und seine Glut durchflammt nur freie Seelen.
Schiliers