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Frethen

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Samstag, den 30. Juni 1934 Chefredakteur: M. Braun

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Nr. 148 2. Jahrgang

Aus dem Inhalt

Mussolini verbietet

die Deutsche Freiheit"

Seite 2

Hercenklub und braune Parvenus

Seite 2

Der Papst

droht mit Saarkatholiken

Seite 3

11 Todesurteile beantragt

Seite 7

Enthüllungen über Bakterienkrieg

Seite 8

A

Alarmierende Drohung gegen Frankreich

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Außenpolitische Nervosität in der Wilhelmstraße Halbamtl. deutscher Angriff schärfster Sprache

Kurz vor Redaktionsschluß geht uns ein Aufsatz der Deutschen diplomatischen Korrespondenz über Gefährliche Aufrüstungspropaganda" zu. Die Korrespondenz ist ein Sprachrohr des deutschen Außenministeriums, und der Auffag ist deshalb, selbst wenn sein offiziöser Charakter abgestritten werden sollte, ein Zeichen der hochgradigen Nervosität in der Wilhelmstraße. Die Erregung ist an gesichts des Mißerfolgs des Hitlergesandten von Ribben: trop in Paris verständlich. Dieser treudeutsche Mann hat in seiner Unterredung mit dem französischen Außenminister Barthon eine ganz neuartige diplomatische Methode an­gewandt. Er hat dem franzöfifchen Staatsmann im Auf­trage des deutschen Reichskanzlers streng vertraulich ge= jagt, der Reichskanzler sei bereit, in der Rüstungs­frage den Franzosen sehr weit entgegen: zukommen, wenn man ihm verrate, wie er das tun könne, ohne sein Prestige in Deutschland zu gefährden. Die Massen des deutschen Volkes dürften von einer außenpolitischen Kapis tulation nichts erfahren. Daß die französische Politik mit solchen Angeboten nichts anzufangen weiß, ist klar, Nun beginnt Berlin mit Theaterdonner. Alle Register werden gezogen. Nur die außenpolitische Bernunft kommt nicht zu Wort:

dnb. Berlin , 29. Juni. Die Deutsche Diplomatische Kor­respondenz" schreibt über Gefährliche Aufrüstungspropa­ganda":

Wahrscheinlich haben selbst in Frankreich viele kritische Zeitungsleser Erstaunen und Aerger über die Bedenken­losigkeit empfunden, mit der dieser Tage durch unerhört drastische Alarmmeldungen auf die Stimmung eingewirkt werden sollte. Während eine Pariser Zeitschrift für Mitte Juli einen gigantischen deutschen Luftangriff auf Paris in Aussicht stellt, werden aus London nicht weniger be­unruhigende Veröffentlichungen des Herrn Wickham Steed über deutsche Vorbereitungen für die chemische und bakterio­Logische Vergiftung ganzer Städte gemeldet. Hier wird mitten im Frieden eine Gieuel- und Panikhete getrieben, wie man sie sonst nur in Kriegszeiten erlebt hat, und wie sie auch damals nicht überboten werden konnte.

Es war vorauszusehen und ist auch an dieser Stelle vor einigen Tagen- anläßlich der Annahme des militärischen Nachtragskredits durch die franzöfifche Kammer ausge sprochen worden, daß die weitgeftecten Ziele des fran= zösischen Aufrüftungsprogramms ein verstärktes Wiederauf­deren der deutschfeindlichen Propaganda in Frankreich per anlassen würden, denn wie kann man dem franzöfifchen Bolt im Intereſſe einer gewaltigen Rüstungssteigerung neue Opfer an Freiheit und Vermögen zumuten?

Doch wohl nur, indem man ihm die deutsche Gefahr" in so grallen Farben malt, daß das Gefühl der Bedrohung alle anderen Regungen erstickt. Es ist dies ein ebenso raffiniertes

wie leichtfertiges Spiel mit dem Familiensinn und dem Patriotismus eines an sich friedliebenden, jedoch über das Ausland schlecht unterrichteten Volkes, das zwar das deut­liche Gefühl hat, von seiner großen Presse systematisch irre­geführt zu werden, im entscheidenden Augenblick jedoch immer wieder der künstlich erregten Gefahrenpsychose er­liegt.

Die Verantwortung derjenigen, die die neue Pressekam pagne inspirieren, ist von unheimlicher Größe.

Sie schaffen eine Atmosphäre unmittelbarer Befürchtungen für Leben und Gesundheit und bewirken durch diese Stim­mung der Angst und des Hasses eine wirkliche Vergiftung der internationalen Beziehungen, die alle Arten von Zwischen­fällen und Verwicklungen begünstigt. In Deutschland wird man zwischen Verblüffung und Entrüstung über die gefähr= lichen Methoden der Massenbeeinflussung nicht lange schwanken. Die deutsche Presse ist bisher auch in schwierigen internationalen Suuationen immer maßvoll im Ton ge­blieben, sie hat in lezter Zeit die fortschreitende Aufrüstung anderer Staaten mit bewundernswerter Fassung aufge= nommen, obwohl in verschiedenen europäischen Ländern vom Krieg wie von einem bestimmt zu erwartenden Ereignis ge= sprochen wird. Ist die neuartige deutschfeindliche Polemik die Antwort auf die ruhige, sachliche, verständigungsbereite Haltung Deutschlands ? Betrachtet man seine Bereitschaft zum ser id auf alle Angriffswaffen als so gefährlich für die Interessen der Rüstungsindustrie, daß man die Kriegsstim­mung gerade jest um jeden Preis glaubt anstacheln zu müssen? Es wäre interessant zu erfahren, woher z. B. Wick­ham Steed sein Material über den Bakterienkrieg( siehe Seite 8 der vorliegenden Ausgabe) bekommen hat, ob aus offiziellen oder anderen Quellen.

Bei seinen besonderen Beziehungen erscheinen jedenfalls gerade seine Veröffentlichungen als bezeichnend für die Art, wie das englische Publikum an der französischen Aufrüftung interessiert und England in eine neue antideutsche Front gezogen werden soll.

England geht, durch den französischen Rüstungstaumel dazu gezwungen, mit sichtlichem Widerstreben an eine Erhöhung seiner eigenen Rüstungen, insbesondere auf dem Gebiete der Luftflotte. Glaubt die französische Propaganda, im eng lischen Volk durch Zukunftsbilder, die an Romane von H. G. Wells gemahnen, das Gefühl einer gemeinsamen Gefahr er­wen an fönnen?

So steht außer den Aufrüstungsinteressen auch die troz aller formalen Ableugnungsversuche offen und aktiv be= triebene französische Einfreifungspolitik hinter der neuen Hebe. Am 20. Jahrestag des Ereignisses, das zum Weltkrieg führte, weil die Stimmung and Kon­ſtellation seit Jahren nicht zuletzt von dem damaligen Kriegs­minister Barthou darauf vorbereitet worden war, ergeben sich aus dieser Lage düstere Perspektiven, die hoffentlich alle Beteiligte zur rechtzeitigen Ümfehr auf einem verhängnis­vollen Wege mahnen.

Der innerdeutsche Krieg

Widerstand des ,, Stahlhelms " gegen seine Auflösung

Berlin , 29. Juni.

Der Kriegszustand zwischen den Stahlhelmern" und den

Die Schlägerei in dem pommerschen Dorf Cuezin, die mit der schweren Verwundung eines SA.- Führers endete, hat

Nationalsozialisten im ganzen Lande und die Hochspannung den Streit akut werden laffen. Die Bundesführung des im Reichskabinett halten an. In Pommern und in Westfalen NEDFB. und die oberste SA.- Führung stellen sich öffents

ist das Verbot gegen den Stahlhelm " verhängt, ohne daß es wirklich durchgeführt werden konnte. Die provinziellen Verbote stoßen auf Widerstand in den Spitzen der Reichsführung. Als vor einigen Monaten der Stahlhelm" in den Nationalsozialistischen Deutschen Front: tämpferbund umgewandelt wurde, haben Hindenburg , Hitler, Röhm und Seldte, wie es heißt sogar ſchriftz

lich, fich zur Aufrechterhaltung des Stahlhelms " in der neuen Form verpflichtet. Auf diesen Garantien bestehen jetzt der Reichspräsident als Ehrenmitglied des Stahlhelms " und Seldte als Gründer und langjähriger Führer. Allerdings ift der enge Anschluß an die Nationalsozialisten, der mit der Namensänderung und der Umgliederung vor einigen Monaten erstrebt worden ist, nicht eingetreten. Nicht einmal der Name NSDFB. hat sich eingebürgert. Man spricht nach wie vor vom Stahlhelm" und das Gefühl sehr tiefer Gegen: fäße ist allgemein. Nicht nur im Often mit seinem starfen alikonservativen Einschlag, sondern auch im Westen, insbe= sondere im Industriegebiet, hat man den Eindruck, daß der

lich Kriegserklärungen zu. Die Stahlhelmer " bes haupten in der Kreuzzeitung ", dem alten hochkonservativen Blatt, es handele sich um einen unpolitischen Familienzwist und der SA.- Führer habe sich bei der Prügelei selbst an seinem Dolch verlegt. Die oberste SA.- Führung aber ver:

öffentlicht in der deutschen Presse Feststellungen", in denen es heißt, daß die Beweggründe der Untat politische ges wesen sind und daß die politischen Folgen von dieser politischen Tat weder von den an ihr Beteiligten, no ch von den für sie Verantwortlichen abgewälzt werden können.

Die oberste SA.- Führung deklamiert von einem Dolchftoß, der alle Deutschen traf" und proklamiert das Ende des früheren Stahlhelms". Die Stahlhelmer " aber erwidern fühl, von einer Auflösung ihrer Organisation fönne teine Rede sein.

So hallt es draußen im Lande. Im Reichskabinett aber

Stahlhelm" gegenüber der zersetzten SA. sich im Vordringen stehen nach wie vor Papen und Seldte in unversöhnlichem befindet und bestrebt ist, ſeine Staders mit zuverläſſigen Gegensatz zu Röhm und Goebbels . Hitler verschleppt nach Gegnern der Nationalsozialisten aufzufüllen.

jeiner alten Taktik die Entscheidung.

Gestern und heute

Das Saargebiet hat einen Landesrat. In gewissen Zeitab­schnitten, wenn die Regierungskommission neue Gesetz­entwürfe vorlegt, tritt diese Körperschaft zusammen, und dann tobt, besonders seit Beginn der Hitlerära im Reiche, jedesmal eine wilde Redeschlacht.

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So auch am Donnerstag. Der Landesrat sollte sich mit der Amnestievorlage für politische Vergehen beschäftigen eine Sache, die von allen Parteien mit freundlicher Zustimmung begrüßt wurde. Da aber der Gedenktag von Versailles war, so schmetterten sofort kräftige Trompetenstöße zum Fenster hinaus auf die Straße, wo trübselig im Regen eine bescheidene Anzahl von Fahnen auf Halbmast hing. Kurz, es bildete sich das bekannte Spalier: hier die Verehrer der Hitlerdiktatur, die ihnen nicht schnell genug kommen kann, dort die Sprecher der Freiheitsfront, die um des deutschen Volkes und des deutschen Geistes willen die Saar nicht an das ,, dritte Reich" ausliefern wollen.

Man ist gewöhnt, daß bei solchem Anlaß meist zwei Männer aufeinanderstoßen. Der eine ist der Saarbrücker Anstreicher­meister Schmelzer, einst Volksparteiler, heute Deutsch­frontler. Es lohnt sich, über diesen Politiker ein Wort zu sagen, weil es sich um einen in zahlreichen Exemplaren ver. tretenen Typus des saarländischen Kleinbürgers handelt. Er war früher gar nicht so deutsch bis auf die Knochen, er­bittert zum legten wirtschaftlichen Opfer bereit, und die Saar­brücker Fama erzählt, wie man Anstreichergeschäfte mit den Franzosen macht und durch vielseitige Verwendung guter Konjunkturen zu einem schönen Hause kommt. Schmelzer wir sehen ihn an der Spitze der vielen Märzhasen im Schuß­felde Hitlers , die sich unter heftigen Sprüngen vor der braunen Flinte rechtzeitig auf das Kohlfeld der deutschen Front" gerettet haben.

Der andere ist Max Braun . Der Vielgehaßte, täglich Be schimpfte und täglich Verleumdete, ein Debatter von Ueber­legenheit und Leidenschaft. In seinem Köcher sind die guten Argumente und die Impulse der Gesinnung. Er sagte: ,, Nur weil Leute à la Schmelzer unter Verrat an ihrer früheren Stresemännerei sich Hals über Kopf unterwarfen und vor

dem Hakenkreuze auf dem Bauche lagen, konnte der SA.­

Stiefel Deutschland in den Schmutz treten. Sie und Ihre ganze Front sind preisend mit viel schönen Reden und im Fieber­rausch der kitschigen Mystik eines Ausländers nachgelaufen und haben ihm Deutschland untertänigst und widerstandslos übergeben"

Herr Schmelzers Kopf wurde etwas rot. Seine Diktion ent­behrte diesmal der sonst honorig zur Schau getragenen Sicher­heit. Es schien, als trüge er die Wandlungen des Stimmungs­barometers in sich, der seit einigen Wochen von allen Inter­essierten mit angespannter Aufmerksamkeit beobachtet werden. Was wird aus unseren Frankenkonten, wenn an der Saar die deutschen Devisengesete gelten? Solche Fragen kommen wie Nachtvögel angeschwebt. Vielleicht erleben die Märzhasen zu Anfang des nächsten Jahres eine Januarschmelze.

Es gab allerdings bis vor kurzem auf den Tagungen des saarländischen Landesrats noch einen anderen Riẞ. Er klaffte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Es wäre ver. kehrt zu sagen, daß er überbrückt sei, aber langsam wird doch die Einheitsfront in den aktuellen politischen Aufgaben an der Saar eine Tatsache, die sogar das rhetorische Tempera­ment kommunistischer Tribunen zu dämpfen imstande ist. Jedenfalls fiel am Donnerstag im Landesrat von dieser Seite kein angriffsfreudiges Wort gegen die Sozialdemokratie. Man ist für den Status quo: die Motive der Parole treten in den Hintergrund. Wer die Massen sah, die am vergangenen Mon­tag durch die Straßen Saarbrückens marschierten, weiß, daß das Parteigezänk auf der Linken bis zum Abstimmungstage stumm bleiben muß, um eines gemeinsamen Zieles willen. Stundenlang noch ging die Debatte im Landesrat. Wie selt. sam, daß nicht jedermann jeden Augenblick die Tragikomödie dieses Parlaments empfindet! Die Redner der deutschen Front" donnern wild gegen den Regierungstisch, sie nützen die Volksrechte der freien Rede weidlich aus, aber alle tun so, als ob das Glück der Saar erst vollendet sei, wenn sie nicht mehr reden und nicht mehr kritisieren dürfen...

Sie hätten dann allerdings keine landfremde" Regierung mehr. Aber es gibt viele deutsche Männer, deren Deutschtum unerlöst bleibt, wenn man ihnen den Maulkorb versagt. Argus