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Donnerstag, den 26. Juli 1934
Er war der große Anti- Spießbürger, der ewige Literaturzigeuner, der Ur- und Erzbohèmien. Bohème war seine Art, eine Gesellschaftsordnung gründlich zu verneinen, die seinem weichen und gütigen Herzen verneinenswert schien, weil sie den dicken Geldsack ehrte und den armen Teufel schändete. Von Einordnung wußte er nichts, Max Stirner leuchtete ihm mehr ein als Karl Marx , die Sozialdemokratie dünkte ihn ein geruhsames Philistertum, sein Appell erging an die Unorganisierten und Unorganisierbaren unter den Proletariern, aber ob er hier skurrilen Ideen huldigte, ihm brannte eine Flamme in der Brust, deren Glut keineswegs mit den Jahren abnahm.
Der am 6. April 1878 in Berlin zur Welt gekommen war und eine wohlbehütete Kindheit in Lübeck verbracht hatte, suchte, wegen ,, sozialistischer Umtriebe" vom Gymnasium geschaßt, erst als Pharmazeut in einem bürgerlichen Beruf unterzukommen. Aber bald gewann das Unbürgerliche in ihm die Oberhand, er überließ das Pillendrehen anderen und schlug sich fortan als Dichter durch. Rasch war Mühsam in allen Berliner und auch Münchener Literaturkaffees eine bekannte Gestalt, auffallend schon durch das betont Ungepflegte des äußeren Menschen; einen so wüsten Haarschopf und einen so wild wuchernden Bart hatte niemand, und niemand pumpte gleich unverdrossen und wie auf ein Recht pochend die begüterten Zeitgenossen an. Daneben schrieb er Verse und trug sie in Kabaretts vor, Moritaten, Großstadtstimmungen, Alkoholisches und Erotisches und vor allem schmissige Lumpenlieder:
Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack. Wir sind ein schäbiges Lumpenpack, Auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack, Mit Ordenszacken auf dem Frack, Der Bürger mit dem Chapeau claque, Fromm und voll Redlichkeit.
schuld
Aber hinter ihm, der oft nur wie ein grotesker Spässemacher wirkte, steckte, unschwer zu erkennen, ein ringender und leidender Mensch, und auf dem Grunde seiner zynischen Poesien lagen Lebensangst, Schicksalsqual und Scheu vor dem Schmutz der Welt". Eine anima candida, eine reine Seele war dieser Schnapstrinker und Schnapsdichter, ein ganz kindliches Gemüt, ein Suchender, ein Sehnsüchtiger, ein Träumer: Doch manchmal weiß ich meine Augen schön, Weiß einen weichen Klang in meiner Stimme. Dann seh ich dicht vor meinem Blick die Höhn, Zu denen ich in seltnen Träumen klimme. Dann tasten meine Hände, weiß und schlank, Zu Quellen, die aus Schaum und Silber steigen, Und meine Lippen neigen
In heiligem Kusse sich dem reinen Trank. Und nicht nur der Befreiung des eigenen Ich galt seine Sehnsucht, sondern er fühlte zutiefst mit allen Unterdrückten, Hungernden und Leidenden. In seinem Wochenblatt ,, Der arme Teufel", dann in seiner Monatsschrift ,, Kain " predigte er seinen anarchistischen Welterlösungs- Glauben, aber wenn ihm die Worte der Beschwörung feurig vom
Munde stoben, lachten ihn die Menschen aus oder drehten sich gelangweilt um:
Ich will der ganzen Welt Gebresten heilen, Will aller, aller Arzt und Helfer sein, Doch wo ich nahe, seh ich flink enteilen Die kranken Menschen, und ich bleib allein.
In Versen, deren Metall ganz rein und voll klingt, drückte er einmal seine Tragik aus, die Tragik dessen, der andere erlösen möchte und sich selber nicht zu erlösen vermag: Wenn Gott mich so verstände, Wie ich sein Werk versteh, Er gäb in meine Hände Den Segen für das Weh. Ich seh auf Feld und Weide Das Glück der Welt gedeihn. Für mich wächst kein Getreide, Am Rebenstock kein Wein. Ich möcht die Menschen lehren, Wie man das Leben lebt,
Kann selbst mich nicht erwehren Des Leids, das an mir klebt.
Zeitbild
Nachdem der Weltkrieg sein fühlend Herz mit tausend 2 Nadeln durchbohrt hatte, glaubte Mühsam mit der Räterepublik München im Frühjahr 1919 seine Stunde gekommen, aber dieser romantische Dichtertraum zerrann noch häßlicher als viele andere, und die Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zuchthaus war das Ende. Nach fünf Jahren Niederschönefeld wurde er begnadigt", um, schwer an seiner
ohnehin nicht robusten Gesundheit geschädigt, sich seinem
Werke aufs neue zu widmen. Aber was immer seiner Feder
entfloß, Dramen, Flugschriften, Erinnerungen„ Von Eisner bis Leviné", in seines Wesens Kern war und blieb er Lyriker: Wer fragt nach mir, wenn ich gestorben bin? Der trübe Tag nahm meine Jugend hin. Der Abend kam zu früh. Der Regen rann. Das Glück glitt mir vorbei, mir fremdem Mann. Mein armes Herz ist seiner Leiden satt. Bald kommt die Nacht, die keine Sterne hat.
tin
Die Nacht ohne Sterne brach für Deutschland wie für ihn an, als die Flammen des Reichstagsbrandes den Himmel über Berlin schauerlich erhellten. Unter den ersten, die den braunen Banditen in die schmutzigen Hände fielen, war Mühsam . Sicher hatten sie keine Zeile von ihm gelesen, aber die stumpfsinnigen Spießbürger, kulturfeindlichen Banausen und rohen Barbaren, die sich in die Macht gestohlen hatten, empfanden ihn mit sicherem Instinkt als ihren Antipoden. Grund genug, das„ Pazifistenschwein" durch Gefängnis und Konzentrationslager zu schleppen, zu schlagen, zu treten und viehisch zu schinden. Und jetzt haben sie ihn zu Hunderten anderer in den Tod gehetzt, den armen Dichtersmann, ganz gleich, ob sie ihn mit Ochsenziemern und Revolver unmittelbar erledigten oder durch das Uebermaß physischer und moralischer Qualen zum Selbstmord" trieben. Auch für dieses vernichtete Leben wird Rechenschaft verlangt werden und rascher vielleicht, als mancher ahnt. Erich Mühsam wird uns unvergessen bleiben, aber seinen Mördern auch.
Blick auf den braunen Film
Verboten!
Der Film ,, Theobald, der Mandarin" von der Bavaria Film AG. wurde von der Filmprüfungsstelle unter Nr. 36638 werboten. Darf auch nicht ins Ausland gebracht werden.
Nazimonopol
Durch einen Erlaß des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, sowie des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, sowie der Reichspropagandaleitung der NSDAP.( Abteilung Film) wird ausdrücklich festgestellt, daß nur die Gau film stellen die AufEabe haben, staatspolitische Filme für die Schulen zur Verfügung zu stellen. Für diese Filme erhalten die GaufilmFellen Leihgebühren, außerdem darf von den Schülern eine Gebühr von höchstens 15 Rpfg. erhoben werden. Am interessantesten sind die Punkte 11 und 13 dieses Erlasses; sie
lauten: ,, 11. Privatunternehmer dürfen, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zur Filmkammer, zu Veranstaltungen von Film- und Bildvorführungen für Schulen nicht mehr zugelassen werden. Ausnahmen bedürfen der Genehmigung der obersten Landesschulbehörden; sie darf nur an solche Privatpersonen erteilt werden, denen in einem Ausweis der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm der besondere unter
Verboten!
M. K.
Die Lichtbildbühne teilt mit:„ Der Leiter der Filmprüfstelle gibt unter dem Datum des 10. Juli 1934 amtlich bekannt, daß am 16. Mai 1934 die öffentliche Vorführung des stummen Films ,, Das hohe Lied der deutschen Arbeit" unter Nr. 36248 verboten worden ist. Es handelt sich hierbei um einen Film mit drei Akten( 1600 Meter); Antragsteller und Hersteller K. W. Film Kultur- und Werbefilm Ella Haase, Dresden . Haase, Dresden . Weiter wurde der Fox- Film„ Just imagine" verboten. Militärische Filme
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Im ,, dritten Reich" werden immer mehr militärische Lehrfilme erzeugt. In einer Mitteilung der Filmprüfstelle finden wir die folgenden Filme verzeichnet; dabei handelt es sich lediglich um Filme aus dem Gebiet der Filmprüfstelle Berlin aus der Zeit vom 2.- 7. Juli: 1. Die Grund. lagen des Gasschutzes, 2. Luftkampf und Bombenwurf, 3. Manöver der Jagd- und Bombengeschwader des Auslands, 4. Menschen im Schatten( Deutscher Propaganda- und Werbedienst), 5. Moderne Luftwaffen, 6. Die taktische Verwendung des Flakregiments.
richtliche Wert ihrer Veranstaltungen bescheinigt ist. 13. Der hundertjährige Mark Twain Die vorstehenden Richtlinien, die hiermit zum Bestandteil der Dienstanweisung der Gaufilmstellen der NSDAP . erklärt werden, treten an Stelle der Richtlinien, die die Unterrichtsverwaltungen der einzelnen Länder mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda abgeschlossen haben." Das sind feine Geschäfte, die diese dem Materialismus so abholde Partei macht.
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Statt Film
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Hitlergebrüll
Der weitaus größte Teil der Berliner Kinos mußte einen Teil seines Abendprogramms ausfallen lassen, damit das Publikum die Uebertragung der Mordentschuldigungsrede Hitlers anhören könne. In den Ufa - Theatern wurde für dieses Theater kein Eintrittsgeld verlangt.
Neuer Naziposten
Rusts Ministerium hat eine Reichsstelle für den Unter richtsfilm " geschaffen. Mit der Leitung dieser Stelle soll kein Pädagoge, sondern der Kapitänleutnant von Werner betraut werden. Werner ist der richtige Parteibuchbeamte. Angestellter des nazischen Bayrischen Schmalfilmdienstes und nach dem Aufbruch der Nazis Leiter der bayerischen Landesfilmbühne,
Er war
Der hundertste Geburtstag Mark Twains, des großen ame rikanischen Humoristen, ist zwar erst im Jahre 1935, aber schon jetzt beginnt man in Amerika mit den Vorbereitungen zu dieser Jahrhundertfeier. So hat die Mark- Twain- Gesellschaft bereits ein kleines Buch herausgegeben, in dem Aeußerungen über Mark Twain zusammengefaßt sind und das besonders interessant ist durch die Persönlichkeiten, die darin mit einer Aeußerung vertreten sind. Das Buch verzeichnet sieben Namen von Politikern und Schriftstellern, die eine wirklich sensationelle Zusammenstellung geben. Da stehen unter den Bewunderern Mark Twains: der Präsident Roosevelt und Mussolini , Bernard Shaw und der bereits verstorbene Galsworthy, André Maurois , G. K. Chesterton und John Drinkwater , ein stattlicher Auftakt für die Jahrhundertfeier Mark Twains.
Braunes Theater
Den sogenannten Grenzlandtheatern wird besondere finanzielle Hilfe gewährt, so dem Tilsiter Stadttheater , das vom Reichspropagandaministerium einen Zuschuß erhält.
Das Theater der Stadt Flensburg soll im Rahmen des sogenannten Arbeitsbeschaffungsprogramms renoviert werden,
Wenn ich nachts durch deine schneebedeckten Straßen streichc, träume ich vom Deutschen Reiche und ich weine.
Wenn die braune wildegword'ne Bande
Und betrogene Bestien laut an mir vorüberziehen, denk ich des Verrats am Vierten Stande,
an die Herzen, die im Stillen glühen;
an die Brüder, die im Zuchthaus leiden, an die Brüder, die im Glauben starben, an Millionen, die in Unschuld darben, doch die fest den Pakt mit„ jenen" meiden.
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,, Bei Philippi treffen wir uns wieder." Kennst du die geflügelten Worte.
einst gesprochen haben soll?
Durch das nächtliche Berlin stampfen die gedrillten Horden Im Palast des Oberosafs schlägt ein menschliches Gewissen
Und er freut sich, daß die lieben Volksgenossen dankbar winken; wenn sie donnernd Siegheil rufen, zeigt er mutig sich am Fenster.
„ Die Frau, die nicht enttäuscht"
Ein merkwürdiges Buch und fast ein kühnes. Wer anders als dieser zeitgenössische Romancier großen Formats dürfte sich die Ironie des Titels erlauben? Diesen bewußt irreführenden Titel für ein Buch, das nicht etwa bedingungslos von einer Frau schwärmt, sondern von ganz Anderem handelt: Zerstörende Leidenschaft, platonische Liebesgestaltung und Austrag harter innerer Kämpfe eines deutschen Dichters jüdischen Blutes, alles findet auf den 370 Seiten dieses Romans harmonischen Platz.
Wer anders dürfte diese Themen so miteinander verbinden, als dieser eben Fünfzigjährige, der außer tiefen Liebesbüchern und plastisch- dramatisch gestaltenden historischen Romanen schon Streit- und Bekenntnisschriften zum jüdischen Problem veröffentlichte, als dieses Thema weder aktuell noch beliebt war.
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er
Man liest Brods neues Buch in der Emigration. Neben der Welt, ausgehungert nach Lektüre, zerrissen, zwischen vielerlei Büchern. Liest es nach Heinrich Manns Dokument vom„ Haß", nach Feuchtwangers aufwühlenden ,, Geschwister Oppenheim" und Heinz Lippmanns schütterndem Anklagewerk ,, Vaterland". Und die ,, Frau, die nicht enttäuscht" hat einem etwas zu sagen und zu geben. Das bedeutet in dieser Nachbarschaft, viel für dieses Werk, schmerzlich worin sich der große Liebende dieser Zeit mit dem au. seiner sinnlich- besinnlichen Schau aufgestört Einsturz seiner glühend besonnten Welt auseinandersetzt. Neben der, wie immer, meisterhaften Darstellung und Analysierung moderner Frauen bietet der Dichter diesmal das Schauspiel vom heftigen inneren Kampfe eines ausgestoßenen deutsch - jüdischen Geistesmenschen.( Der Kampf wurde von Brod ausgefochten und dichterisch gestaltet, ehe er in aller Oeffentlichkeit begann.) Wie einfach ist das geschrieben: Einer erkrankt an einer Frau und seinem Judentume. Und wie sich im Buch die andersrassige, schöne geliebte Frau und das schöne geliebte Land( Lessings und Stifters Land) gleichnishaft verweben. Unauflöslich und unauslösch lich.
Fein sind die Nebenfiguren des Romans gezeichnet. Gnadenlos die berechnende Vorgängerin der zerstörenden Geliebten, ehrlich und fast selbstverleugnend der betriebsamgetriebene Zeit- und Glaubensgenosse Dr. Türk und mit herrlich saftigem hintergründigem Humor endlich der schwerfällig- pfiffige Verlagsvertreter. Leuchtend, fiebernd, zum Greifen nah aber die verderbliche Erau. Der Dichter im Buch wird von ihr gerettet, die ihn bald vernichtet hätte, vor der Diffamierung in seines Geistes Heimat hat ihn nichts retten können. Er lebt künftig ohne die zerstörende Frau und ohne das zerstörte Vaterland. Wie, das müssen wir aus diesem Buch erraten, das da endet, wo die Barbarei in Deutschland begann.
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Der Dichter Brod wird uns, hoffen wir, in seinem nächsten Buch die Antwort geben. Es wird heißen ,, Heinrich Heine , das Leben eines deutschen Dichters". Charlie Kaschno
Das Theater dee coten Acmee
In Moskau , auf dem Roten Platz , ist der Bau eines Riesengebäudes begonnen worden, das gewissermaßen ein Denkmal für die rote Armee sein soll. Der Entwurf sieht die Form eines fünfzackigen Sterns vor, das Gebäude wird von einem Säulengang umgeben und mit Bildern und Skulpturen ausgeschmückt sein, die an die wichtigsten Episoden der revolutionären Kämpfe erinnern werden. Das Gebäude wird einen großen Theatersaal haben, der dreitausend Personen fassen soll, die Bühne wird mit den modernsten technischen Einrichtungen versehen sein. Das ganze Gebäude wird von einer vierzehn Meter hohen Statue gekrönt, die einen Soldaten mit einem flammenden Stern in der Hand darstellen wird.
Pfui Teufel für alle Zeiten
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Ein deutscher Journalist schreibt in der Korrespondenz des Deutschen Presseverlages:„ Das Pfui Teufel', mit dem der Reichsminister Dr. Goebbels seine Rundfunkansprache schloß, wird für alle Zeiten in die Geschichte der internationalen Zeitungswissenschaft eingegraben sein als ein Dokument tiefsten Standes des Journalismus in weiten Teilen des Erdballs." Eine immerhin ein wenig zwei
deutige Aeußerung,
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