Deutsche   Stimmen. Bellage zur Deutschen Freiheit". Ereignisse und Geschichten

Mittwoch, den 1. August 1934

Degeneriertes Bürgertum

Im Jahre 1848 war es, daß aus einer Bürgerdeputation heraus dem regierenden Despoten Preußens das Wort nach­klang: Das eben ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen." Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß der Urheber des berühmten Ausspruches, der ostpreußische Arzt Johann Jacoby  , jüdischer Herkunft aber ebenso sicher war Männerstolz vor Königs­thronen auch im reinarischen Bürgertum jener Zeit kein ganz unbekannter Begriff. Es gab sogar damals Richter wie den aufrechten v. Grolmann, die es klingt heute wie sich weigerten, auf Befehl des Monarchen das Recht zu beugen und lieber ihren Abschied nahmen.

war;

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ein Traum

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Welcher Absturz von diesem Bürgertum zu dem heutigen, das ohne Wimpernzucken sich anhört wie sein Führer" 77 Morde gesteht, ohne daß auch nur eine mutige Stimme des Protestes laut wurde. Man sucht nach Maßstäben für diesen Abgrund feigen, zitternden Kadavergehorsams und findet sie endlich in entlegenen Jahrtausenden, bei den Römern der Verfallszeit. Fast fünfhundert Jahre lang hatte im republi­kanischen Rom   der oberste Grundsatz gegolten, daß ein römischer Bürger von niemandem körperlich angetastet, aus­gepeitscht werden dürfe. Dann aber kam jene Periode des

stand, den sie in den oberen Klassen der Bevölkerung gefunden hätten, wäre zu groß gewesen. Wir erinnern daran, daß Friedrich Wilhelm I.  , dieser cholerische Tyrann, seinen eigenen Sohn, den Kronprinzen Friedrich, nach dessen Flucht­versuch erschießen, ihn so füsilieren" wollte wie Hitler  seinen Röhm, aber durch den Einspruch seiner Generale daran gehindert wurde.

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Hitler wurde von niemand gehindert, seinen Blutrausch auszutoben. Das servile, angstschlotternde Bürgertum, die Falstaffgarde der Reichstagsabgeordneten", die Kirche, die Juristenwelt, die Generalität alles schweigt zu seinem Morden; wer sie nicht gerade verherrlicht, der kuscht sich. Bei dieser Bürgerschaft ist jede Hoffnung auf Rettung der Kultur verloren. Es beantwortet wie die Römer der Ver­fallszeit die Taten wilder Grausamkeit mit erbärmlicher Feigheit. Die Kultur kann und wird Hüter nur bei den Klassen der Bevölkerung finden, die noch nicht durch die Ge­nüsse der Zivilisation an die Erhaltung des Genußlebens ge­fesselt sind. Das System Hitler   sorgt obendrein durch seine Wirtschaftspolitik dafür, daß diese Kreise immer zahlreicher Julius Civilis.

werden.

Abstiegs, von der ihr lateinischer Geschichtsschreiber sagt: Dec Kampf gegen den Geist

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ruere in servitium- sie stürzten hinab in die Knechtschaft. Der heutige italienische Geschichtsforscher G. Ferrero   aber begründet in seinem Werk Größe und Niedergang Roms" das feige Verhalten, das die Enkel der stolzen Republikaner bei den Massenschlächtereien des entstehenden Kaiserreiches an den Tag legten, mit dem Satze:

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Es traten der Egoismus, die nervöse Angst und jener glühende Lebensdurst, den die Zivilisation dadurch her­vorruft, daß sie die geistigen wie die sinnlichen Genüsse zugleich vermehrt, auf einmal in Taten wilder Grau samkeit und erbärmlicher Feigheit in die Erscheinung, die in der Weltgeschichte ihresgleichen suchen. Sie haben inzwischen ihresgleichen gefunden im glor­reichen Jahre der Zivilisation 1934! Denn der Ausspruch Ferreros über die Metzelei des Jahres 43 v. Chr. paßt wie an­gegossen auf das, was in Deutschland   soeben vor sich ging. Das kleine und mittlere Bürgerturm des Jahres 1848 war sehr viel ärmer an materiellen Genußmöglichkeiten als der Bürger von 1934, entsprechend aber waren geistige Bil dung und Charakter damals noch geschätztere Dinge als heutigentags. Heute, wo der allerschäbigste Materialismus im Bürgertum Orgien feiert, um so schäbiger, je groß­artiger er sich mit idealistischem Phrasenschwulst von ,, Ge­meinnut" drapiert heute sorgen Angst um Stellung, Ver­dienst, Kundschaft, Karriere dafür, daß jedes Bürgerherz zur

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Mördergrube wird. Nicht das ist das Unsägliche, daß ein Tyrann 77 oder mehr Opfer aus dem Kreise seiner nächsten Anhänger, aus den höchsten aktiven und gewesenen Funk­tionären des Staates schlachtet. Das Entsegliche ist dieses angstbleiche und schlotternde Bürgertum, worin es Männer, die der Stimme ihres Gewissens gehorchen, einfach nicht mehr zu geben scheint.

Wir pflegten vor kurzem noch bei der geschichtlichen Be­trachtung der letzten Jahrhunderte die aufsteigende Linie der Rechtssicherheit, der Beseitigung obrigkeitlicher Willkür zu betonen. Wie weit müssen wir diese Linie zurückverfolgen, um bei einem Tiefstand anzulangen, der etwa dem heu­tigen entspricht? Bis zum Alten Fritzen? Zu dessen Zeiten hieß es noch: Ja, wenn das Kammergericht in Berlin   nicht wäre!" Bis zum Großen Kurfürsten? Der hat zwar einmal die Führer der frondierenden ostpreußischen Stände, Rhode und Kalkstein, widerrechtlich verhaften lassen, aber er­schossen hat er sie nicht. Ja, wie weit müssen wir zurück, in der brandenburgisch- preußischen Geschichte eine Analogie zum Willkürakt des 30. Juni 1934 zu finden? Wir finden keine- in dieser an Willkür und Gewalt wahrhaft nicht armen Geschichte. Möglich, daß es unter den Hohen­ zollern   keinen derart pathologisch- cäsarenwahnsinnigen Herrscher wie Adolf Hitler   gegeben hat, obwohl wir meinen, daß der Kurfürst Joachim I.  , die Könige Friedrich Wilhelm I.  und II., der Kaiser Wilhelm II.   und andere alles Zeug dazu gehabt haben. Aber sicher konnten sie nicht so handeln wie Adolf Hitler  , selbst wenn sie es wollten: der Wider­

um

Gelöbnis

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Denen, die Ossietky foltern, höhnen, Und die Mühsam in den Tod gehegt, Jenen tapfern deutschen   Heldensöhnen Wird ihr Tagwerk gutgeschrieben. Bis zulegt.

Mag es Wochen, mag es Jahre dauern: Aus Bedrückung wächst die große Kraft! Einmal. stehn wir in den Kerkermauern, Packen euch und fordern Rechenschaft.

Keinen Seufzer werden wir vergessen, Keinen Striemen, den ins Fleisch ihr hiebt; Jede Blutspur wird euch nachgemessen,- Die ihr jetzt noch schreit und sauft und liebt.

Einmal naht das Ende aller Qualen

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Eher, als ihr euch im Blutrausch denkt. Dann, ihr Mörder, müßt ihr voll bezahlen Und es wird euch nicht ein Gran geschenkt.

Einmal kommen wir das Unkraut jäten, Einmal tilgen wir die blut'ge Schmach. Aus dem Blute jedes Hingemähten Wachsen hundert wilde Rächer nach!

Schon rumorts in Millionen Sklaven, Aus dem Blutsumpf erste Hoffnung grünt. Doch wir wollen nicht in Ruhe schlafen, Bis der letzte feige Mord gesühnt!!

Wie man jetzt sieht, hat die Geheime Staatspolizei   die Wohnungseinrichtung, Bibliothek und die Restauflage zweier Bücher sowie die Kleider des Arbeiterdichters Otto Krille beschlagnahmt und aus dem Lagerhaus fortgeführt. Viel­leicht hängen die Kriegsauszeichnungen Krilles schon auf der Brust eines tapferen Heimkriegers der NSDAP  . Krille war nämlich Frontsoldat und Kriegsbeschädigter und zuletzt Gau­sekretär des Reichsbanners. Er empfand es jedenfalls Benito mit dem Büffelhorn

schmachvoll, sich in Dachau   zu ,, nationaler" Gesinnung von Burschen erziehen" zu lassen, die in den Kinderschuhen steckten, als er seine Gesundheit für das Vaterland opferte und besaß nicht die Charakterlosigkeit anderer Dichter" anzuspucken, was er früher angebetet hatte, nur um den Anschluß nicht zu versäumen.

Humoristisch und bezeichnend ist es, daß in dem Buch des nationalsozialistischen Literaturpapstes Adolf Bartels   über die jüngste deutsche   Dichtung, Auslieferungsstelle: Natio­ nalsozialistischer Studentenbund  " dieser Arbeiterdichter Otto Krille u. a. als, Verfasser wertvoller Ge­

dichtbände" bezeichnet wird. Das können die Nazi nicht dulden, daß ein Nichtgleichgeschalteter etwas Wertvolles ge­schrieben haben soll. Der Kerl muß vernichtet werden. Wozu hat man sonst die Gestapo  !

Fettbacke

Deutsches Recht

August Fettbacke hatte im April geäußert, daß der Stabs­chef und Reichsminister Röhm ein großer Schweinekerl sei. Er wurde von seiner Nachbarin Amalie Türspalt denunziert und prompt auf Grund der Verordnung zur Abwehr heim­tückischer Angriffe pp. zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Charlot.

Der berüchtigte Berliner   Rasseforscher Schäfer hat eine epochale Entdeckung gemacht. Er versucht durchaus ernsthaft den Nachweis, daß Mussolini   nicht, wie man bis­her allgemein annahm, romanischen oder sogar altrömischen Ursprungs, sondern rein deutscher, daß heißt germanischer Abstammung ist. Schon im dreizehnten Jahrhundert, so er­zählt uns Professor Schäfer, lebte ein Ritter Beginulf Muse­lin in Westfalen   und dieser Ritter also war Mussolinis Vor­fahr. Herr Schäfer war von seiner Entdeckung so hinge­rissen, daß er sie Mussolini   in einem Expreß- Schreiben mit. geteilt und um Stellungnahme gebeten hat. Der faschistische Neo- Germane war jedoch unhöflich genug, dem großen Ent. decker keine Antwort zu geben,

Toten- Ruhe!

Große, zweispaltige Ueberschrift in einem Artikel der ,, Fränkischen Landeszeitung":

,, Deutschland   das ruhigste Land der Welt! Deutschland   ist kein Polizeistaat!"

Das ruhigste Land der Welt, im Durchschnitt täglich nur 15 Kameradenmorde. Fast zum Einschlafen!

Im Gefängnis bekam es Fettbacke mit der Reue, verfaßte Alle 2000 Jahre...! ein Gnadengesuch an den Justizminister, worin er de- und wehmütig Abbitte und Widerruf leistete. Er schloß mit den Worten:... und will allenthalben nach meiner Frei­lassung verkünden, daß Herr Stabschef Röhm ein Ehrenmann von untadeliger Sauberkeit ist."

Am 29. Juni ging das Gesuch ab.

Am 10. Juli erhielt Fettbacke den Bescheid, daß gegen ihn ein neues Strafverfahren wegen Schmähung des Führers und Vorbereitung zum Hochverrat eingeleitet sei... Mucki.

Wicklich?

Nach der Reichstagssitzung

,, Jetzt ist es mir klar, daß Adolf Hitler   wirklich das ganze deutsche   Volk glücklich machen könnte." wie?"

,, Ja

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" Vor 2000 Jahren offenbarte der Schöpfer sich der Mensch­heit in der Gestalt Jesu. Heute offenbart Gott sich dem deutschen   Volk in der Gestalt Hitlers  ."( ,, Der deutsche  Büro- und Behörden angestellte".)

Immerhin ein Glück, daß Gott   sich in der Gestalt Adolf Hitlers   nur alle 2000 Jahre präsentiert!

Zeit- Notizen

Jüdischer Sanskrit- Forscher in Italien  ausgezeichnet

Die Königliche Akademie der Wissenschaften  ( Reale ' Accademia d'Italia  ) hat den jüdischen Sanskrit- Forscher Dr. Umberto Norsa in Anerkennung seiner Leistungen durch

,, Wenn er sich bestimmen ließe, die nächste Serie der Uebersetzung wertvoller Sanskritschriften und von Werken Nic- Carter- Hefte zu schreiben."

Das Väterchen hat es nicht gewollt

der klassischen ungarischen Literatur ins Italienische durch Verleihung eines hohen Geldpreises ausgezeichnet. Dr. Umberto Norsa, der Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Mantua   ist, hat bestimmt, daß diese Geldsumme an die Armen der Stadt Mantua   verteilt werde.

Es ist der gleiche Nebel, den alle Despoten und Poten- erklärte er einst großmäulig, In seiner Bewegung geschehe 80 000 Jahre alter Schädel

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taten zu allen Zeiten um sich verbreiten ließen: sie wollten das Beste, sie wußten das Schlimmste nicht., Väterchen Zar" wußte selbstverständlich nicht, wie sein Volk von der Ochrana geknutet und mißhandelt wurde;, unser Franzel" wollte das Beste für alle Völker Oesterreich  - Ungarns, aber die Parteien verhinderten es; Mussolini   wollte selbstver­ständlich die Exzesse seiner schwarzen Banden nicht, aber sein Arm reichte eben nicht überall hin- und Hitler  , natür­lich will er ,, das Beste", aber seine Unterführer

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Die politisch primitiven Schichten jedes Volkes bauen sich ihren jeweiligen Volksvater nach ihrem jeweiligen Bilde und das des deutschen   Spießers aller Gattungen war 1933 da­nach: Schicklgruber  . Nirgends wird die Vernebelung der Verantwortung so toll getrieben, wie in seinem totalen Staat". Alle politischen Diskussionen beginnen mit der Zauberformel, daß er das Beste will. Wer das nicht zugibt, läuft Gefahr, ins K- Z zu wandern, was Adolf   natürlich wieder nicht will. Weder die Verteidiger des braunen Irrtums noch die Kritiker kommen ohne die gleiche Schutzformel aus: Er will das nicht. Ob Schulze über die teure Butter schimpft, ob ein Litaraturkuli schüchtern etwas mehr Freiheit für Aesthetisches   fordert oder ob Goebbels   gegen Papen   zetert: immer beruft man sich auf den ,, Führer". Denn was irgend­wie nach eigener Meinung schmeckt, ist ja verboten. Und so hört der Deutsche   seit einem Jahre ununterbrochen die Zauberformel um seine Ohren knallen. Bei der ungeheuren Zahl der Einfältigen wirkts schließlich wie einst Odolreklame. Der Osaf läßt sich diese Vernebelung gern gefallen und dies Stück Feigheit ist schwer zu überbieten. Vorm Reichsgericht

nichts, was er nicht wisse, heute weiß er nichts davon, daß er seine Kreaturen korrumpiert hat bis auf die Knochen, daß und wie im K- Z geschunden wird, daß er seit fünfzehn Jahren Haß gesät hat, daß er für seine Banden von Hindenburg   die Nacht der langen Messer gefordert hat, daß er allen alles ver­sprach und doch den Ausbeutern längst vor dem 5. März verkaufte.

Während des Krieges war in patriotischen Bilderhand­lungen ein rührender Kitsch zu sehen: Wilhelm II.   vor dem Kreuz eines Soldatenfriedhofes kniend; darunter der Text: ,, Ich habe es nicht gewollt..." Er hatte nur seine ganze Regierungszeit hindurch die gepanzerte Faust geschüttelt. Das Bild war der verlogenste Kitsch, der während des großen Massenmordens geboren wurde. So möchte Hitler   ewig ins Volksbewußtsein eingehen: Tote, Greuel und Gräber ringsum, aber er, der Oberhetzer, Führer und Haßtrompeter er hat es nicht gewollt...

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Die freiheitlichen Volksmassen werden ihm die Komödie versalzen. Jetzt läßt der Bandenführer seine Kameraden ab­knallen, um sich ins Trockene zu retten, läßt Dreckpagen auf ihre Sargdeckel schmeißen, um seinen Namen aus der Schußlinie zu bringen. Jetzt rettet er die Söhne der deutschen   Mütter" vor denen, die er zu SA.- Führern machte, denn er hat ja von ihrer kriminellen Beschaffenheit trot klarer Personalakten und allem öffentlichen Lärm nicht ge­wußt. Aber jetzt stehen seine eigenen Leute auf, reißen ihm die Biedermannsmaske vom Gesicht und erzählen der Welt, wie sehr Väterchen sein Bestes wollte. Das verlogene, feige Spiel geht zu Ende.

Das Geologische Institut der Akademie der Wissenschaften in Rußland   hat die Restauration eines Schädels des Pro­gantheriums beendet, das der unmittelbare Vorfahre des Mammuts gewesen ist. Das Alter des Schädels, der an der un­teren Wolga   gefunden wurde, beträgt ungefähr 80 000 Jahre. Der Fund steht seinem Alter und seiner Vollständigkeit nach einzig in der Welt da.

Literarische Entdeckungen

In einer kleinen Stadt unweit der mittleren Wolga   hat man interessante literarische Entdeckungen gemacht. Man hat dort den Briefwechsel des russischen Romanciers Gontscharoff und bisher unbekannte Briefe von Ostronski gefunden, Dokumente, die für die russische Literatur­geschichte äußerst wertvoll sind.

Julius Guttmann   nach Jerusalem   berufen

Der Dozent der Philosophie an der Lehranstalt( früher Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums in Berlin  Professor Julius Guttmann   ist an die Universität Jerusalem berufen worden und wird Deutschland  , vorläufig für ein Jahr, in einigen Wochen verlassen,

Nazisorgen

Während Berlin   um Kartoffel rauft, hat die Stadt keine anderen Sorgen als die, einen Katalog der alten Häuser und Denkmäler anlegen zu lassen. Zu der geplanten Anlage dieses Kataloges hat die Stadt als erste Rate 18 000 RM. bewilligt,