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Mittwoch, den 15. August 1934
Ein Junge, der viel fragt
Annemarie Lob:
Der kleine Junge geht neben dem Vater die Straße entlang. Es ist ein gewöhnlicher Junge, mit kurzen Stachelhaaren und einem runden Gesicht. Er trägt das braune Hemd. Seine Beine sind noch kurz, aber die Schritte knallen schon über den Asphalt. Der Vater geht übrigens im Wintermantel. Es ist wahr, die Tage sind etwas kühl, der Sommer läßt auf sich warten.
Sie biegen in die Voßstraße ein. Der Junge sagte gerade: Ich brauche unbedingt die Jungenschaftsjacke. Sonst darf ich nicht mit zum Aufmarsch und werde ausgeschlossen." Der Vater bleibt still.
,, Auch die Schafter muß ich haben."
Der Vater hat den Kneifer vorgeholt, er stiert auf die Andere Seite.
,, Mit einem Hemd kommt man auch nicht lange hin." Der Vater sagt eifrig: ,, Siehst du, mein Sohn, da drüben ist das Braune Haus. Stämmige Burschen da, was, die Posten. So einer mußt du auch mal werden."
Sie gehen wieder stumm nebeneinander her. Der Junge hat es aufgegeben, von seinen Wünschen zu sprechen. Er blickt, wie der Vater, nach der anderen Straßenseite hin. Strenge Gebäude wachsen da eins neben dem anderen, schmal, hoch und grau. Der Junge sieht hin, auf die Reihen verschlossener Fenster, er ist ein gewöhnlicher Junge, ohne besonderen Verstand.
,, Was stehen die vielen Autos da, Vater?"
,, Die sind für die Regierung, mein Sohn. Da drüben, was du da siehst, ist die Vizekanzlei. Das Auto gehört wohl Herrn von Papen."
,, Sechssitzer, Mercedes , fein, was?"
,, Na ja, mein Junge."
,, Und der, Vater?"
Der Junge ist über den Damm geschlendert, er hat den Water angefaßt und schlendert die Wagenreihe entlang. Alle Autos sind beflaggt. Jetzt in der Windstille hängt das Hakenkreuz lasch und zerstückelt nach unten. Manchmal sind Tafeln mit einer Inschrift angebracht.
,, Das sind die Dienstautos, mein Sohn. Hier: Reichsjugendführung, Kreis III. Soweit kommst du auch noch mal, daß du solch Auto hast. Bloẞ stramm stehen, mein Junge!"
,, Und der, Vater?"
,, Und der, Vater?"
,, Siehst ja, der steigt gerade ein. Das ist ein Sturmführer, er trägt das Abzeichen der Reichsführerschule." ,, Und der..."
,, Und der...“
,, Reichssportführung."
,, Und der...“
Sie kommen jetzt an den Leipziger Platz. Der Vater geht um das Palast- Café herum. Wieder steht hier, parallel mit dem Rasenrondell, Wagen an Wagen. Sie sind schräg in den Damm gestellt und liegen in der ganzen Straße, bis zu Wert heim hin.
,, Diese Schweinhunde von Direktoren fahren immer noch in ihren Sechssitzern herum. Aber das wird jetzt anders. Die Warenhäuser haben bald aufgehört zu existieren, mein Junge, was ich dir sage."
,, Die gehören aber nicht zu Wertheimer. Die stehen ja alle hier vor der Deutschen Arbeitsfront , sieh mal, zwanzig, dreißig, fünfunddreißig Wagen."
,, Na ja, komm mal jetzt weiter."
,, Haben denn so viele Arbeiter Autos, Vater?" ,, Komm jetzt. Vielleicht können wir den Führer sehen." Der Junge bleibt noch hin und wieder stehen. Er interessiert sich so für Autos. Er will vielleicht mal welche bauen, jawohl, er hat Lust dazu. Aber jetzt fällt ihm wieder das andere ein.„, Kann ich die Großfahrt mitmachen, Vater? Kostet aber 30 Mark. Ich habe mir ja schon überlegt. Wo doch jetzt alle im Jungvolk sein müssen und jeder Junge eine Mark bezahlt, könnten die ruhig ein paar Bedürftige mal umsonst mitnehmen. Die kriegen bei der Reichsjugendführung Millionen ein."
,, Das verstehst du nicht, mein Junge. Das Geld wird für andere Zwecke gebraucht."
Sie sind jetzt am Wilhelmplatz. Der Vater rückt den Kneifer gerade. Er bleibt stehen und sagt feierlich: ,, Das ist die Reichskanzlei, mein Sohn. In zweiten Stock das zweite Fenster von rechts, das ist Adolf Hitlers Arbeitsraum. Gerade steht ein Fenster offen. Der Führer arbeitet wohl. Und nun dreh dich um, mein Sohn. Da drüben liegt der Kaiserhof. Ein weiter Weg, mein Sohn, vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Adolf Hitler hat ihn zurückgelegt. Eine heroische Zeit, mein Sohn."
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, Warum stehen da so viele Leute, Vater?"
,, Sie warten auf den Führer, mein Sohn. Jeden Nachmittag nimmt Adolf Hitler im Kaiserhof den Tee. Frank und frei sitzt er da in der Halle, für jeden sichtbar, für jeden zu sprechen. Ein echter Volkskanzler." ,, Jeder kann ihn sehen, Vater?"
Jeder kann ihn sehen."
,, Ich auch, Vater?"
,, Du auch, mein Sohn."
,, Dann wollen wir hingehen, Vater."
Aber der Junge spürt die Hand des Vaters an seiner Schulter und wird rasch beiseite gezogen. Der Vater rückt an seinem Kragen, als wäre der zu eng. Vielleicht ist auch nur der Wintermantel schon zu heiß. So gehen sie wieder nebeneinander, und der Vater sagt nach einer ganzen Weile: ,, Laß man sein, mein Junge. Ein Gedeck hostet ja im Kaiserhof zwei Mark fünfundachtzig..."
Heimaten und die Heimat
Ich bin durch Abstammung Bayer, durch Geburt Württemberger, durch Papiere Deutscher. Ich habe meinen Bürgerort, eine Stadt in der Rheinpfalz, niemals gesehen. Meine Heimat ist vielfach wie die Umstände, die sie bedingen. Ich wurde geboren an den Ufern des Neckars, in einem Städtchen, das ein Hölderlinhaus besitzt und eine Uhlandstraße, in dem der unglückliche Lyriker seine Jugend verbrachte, das dem demokratischen Schriftsteller zuweilen als Zufluchtsort diente, das in den schwarzrotgoldenen Zeiten der Republik verschrien war als marxistisch- kommunistische Hochburg. Ich liebe dieses Städtchen und ich hasse es. Denn es leben Menschen in ihm, die mich lieben und solche, die mich hassen. Seit Oktober des Jahres 1933 sah ich es nicht mehr, damals mußte ich es sehr plötzlich verlassen, man hatte mich denunziert. Meine Feinde freuten sich, meine Freunde drohten. Im geheimen natürlich. Das Braunbuch hat ihnen in zwei Zeilen ein Denkmal gesetzt:
,, Die... Genossen sind von einer wahnsinnigen Prügelei heute noch grün und blau."
Sehr früh kam ich ins Ausland. Die ersten Schuljahre war ich in Zürich . Ich liebe Zürich und ich hasse es. Aus denselben Gründen.
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Auch diese Metropole des internationalen Mammons ist meine Heimat. Ich liebe es, auf die umliegenden Höhen zu steigen, den Sonnenaufgang zu erleben oder stille Nächte in zärtlichem Mondschein, ich liebe es, Sommers im See zu liegen oder auf dem Quai zu sitzen und mich zu freuen, wenn junge Volksgenossen, die per Rad ferienhalber aus Deutschland kommen, mit gierigen Augen meine Zeitungen verschlingen.
( In dieser zweiten Heimat wird jedoch, da ich mittelloser
,, Du hast ja selber
Ein Leser schickt
damit angefangen"
aus
dem
uns folgendes Gedicht Kladderadatsch", Berlin , 17. August 1867. Wir finden mit ihm, daß es erstaunlich aktuell ist und drucker es ab:
Von Anbeginn war es dein einzig Streben, Die Freiheit von der Erde zu verdrängen, Den Geist in deiner Formeln Joch zu zwängen, Und ihn mit finstren Schleiern zu umweben.
Du wußtest schlau, je nach den Zeiten eben, Bald an das Kleid der Großen dich zu hängen, Bald unter Pöbelhaufen dich zu mengen,
Zu bücken dich und dann zu überheben.
Und als die Wahrheit doch begann zu schimmern, Fiel eine nach der andern deiner Stützen, Dich zu begraben unter ihren Trümmern. Auch deine Flüche sollten dich nicht schützen! Was kann's die Sonne hoch im Aether kümmern, Wenn dunkle Wolken in der Tiefe blitzen?
Allein wozu die alten Sünden nennen, Die du im Lauf der Zeiten hast begangen, Und die im Buche der Geschichte prangen, Wenn sie schon nicht auf deiner Seele brennen!
Magst du sie leugnen oder sie bekennen, Der Schuld Verzeihung wirst du nie erlangen; Du hast ja selber damit angefangen, Erbarmungslos den Sünder zu verbrennen.
Drum keinen Pakt mit dir und mit den Deinen! Vorbei ist deine Zeit; nun magst du sterben, Und keine Träne wird man nach dir weinen.
Denn ,, Heil" ist für die Menschen dein Verderben; Und eine bess're Zukunft wird erscheinen, Wenn dein Gebäude geht in Schutt und Scherben. ,, Kladderadatsch",
Zeit- Notizen
Wladimir Obuch
Unter großer Beteiligung der wissenschaftlichen Kreise, der Gewerkschaften und politischen Organisationen wurde Professor Wladimir Obuch, der Begründer der Sowjetsozialmedizin, zu Grabe getragen. Als Arzt wie als Politiker, den eine mehr als vierzigjährige Tätigkeit mit der Arbeiterbewegung Rußlands verband, war Professor Obuch gleich geachtet. Er organisierte den Gesundheitsdienst der Stadt Moskau , schuf die ersten Einrichtungen für die systematische Krankheitsbekämpfung durch periodische Untersuchung aller Arbeiter, die Gesundheitskarten der Dispensaires und schließlich das größte Institut der Welt für die Erforschung von Berufskrankheiten, das seinen Namen trägt. Seine Ardischen wissenschaftlichen Kreisen, in denen er außerordentliches Ansehen genoẞ.
Emigrant bin, nur noch bedingt Aufenthaltsbewilligung beiten brachten ihn wiederholt in Verbindung mit auslän
erteilt.)
Und dann weile ich in Straßburg . Auch dies ist meine Hohenfriedberger auf siamesisch
Heimat und ich liebe und hasse die Stadt. Aus denselben Gründen. Ich liebe es, planlos durch die uralten Gassen zu streifen, die Fassaden der Häuser zu bewundern, und ich bin ernstlich erbost, taucht plötzlich irgendein Palast aus der letzten Vorkriegszeit auf: ein schreiender Tribut an die Hysterie Wilhelms des Zweiten. Ich hasse es auch, wenn ein Spießer aus Karlsruhe oder Rastatt , der sich auf der Geschäftsreise befindet, neben mir am Kiosk demonstrativ sein gleichgeschaltetes Leibblatt verlangt. Ich weiß, daß dieser Haß kindisch ist, aber ich pflege ihn. Ich hasse jenes Deutschland , das sogar über der Grenze mit seiner Schande plagiert. Obwohl mir seine Landstraßen und viele seiner Menschen wert und vertraut sind.
Ich spaziere hinunter zum Rhein . Die letzten Strahlen der Sonne küssen den Schwarzwald . Auch dort ist meine Heimat: von Wildbad bis Freiburg , von Stuttgart bis Kehl . Menschen wohnen in diesen Orten, die ich liebe, und solche, die ich hasse. Die Freunde sind in der Mehrzahl, aber die Feinde haben die Macht. Vorläufig noch... Wir wissen, sie wankt. Wir wissen, auch daß wir überall heimatlich geborgen sind, wo ein Freund ist. Jenseits aller Pfähle und Grenzen.
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Wir hören sie, diese Stimme der wirklichen Heimat. Und wir folgen ihr. Nicht dem mysteriösen Ruf der Erde, von der ein teutonischer Propagandist schreit, nicht der Stimme des Bluts, von der man nicht weiß, spricht sie deutsch , französisch oder Esperanto, sondern der Stimme des Geistes und
des Herzens. Es ist die Stimme der nahenden Freiheit. Wir folgen ihr Willi Hofmann.
N
Die neudeutsche Journaille schreibt über den Besuch des Königs von Siam: ,, Zum erstenmal auch hat Berlin die Klänge der Nationalhymne Siams vernommen. Erstaunlich, welch hinreißender Rhythmus in dieser uns fremden Musik liegt. Kriegerischer Geist klingt in dem Tempo dieses Marsches wider...“
20 neue Radiostationen
In der Zeit von Juni bis September werden in der SU. 20 neue Radiosender ihre Tätigkeit aufnehmen, darunter 1 Sender in dem Polarhafen Igarka( am Fluß Jenissei ), de der Hauptstützpunkt für die karischen Expeditionen ist. Späte Erkenntnis
,, Die Reichsschrifttumskammer beim Propagandaministe rium hat sich gegen die angebliche Echtheit der Ura- LindaChronik erklärt."
Zum Schutz der arischen Großmütter
Um die Behörden, Pfarrämter usw. vor Mißbrauch der bei ihnen liegenden Akten zu schützen, ist ein amtlicher Ausweis für Sippenforschung eingeführt worden, der von Dr. A. Gerke, dem Leiter des Reichsvereins für Sippenforschung und Wappenkunde, ausgestellt wird. Bedingung zur Erteilung ist der Nachweis persönlicher und fachlicher Eignung. Gleichgeschaltet
hat sich der bekannte Historiker der Technik, Dr. Feldhaus. Er ist in die Dienste der DAF. getreten.
Hier ist Goethe
Goethe in ,, Dichtung und Wahrheit ", 14. Buch:
,, Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza . Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die ,, Ethik" dieses Mannes. Ich fand hier eine Beruhi gung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun."
Goethe in ,, Dichtung und Wahrheit ", 16. Buch:
,, Ich hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unserer Bibliothek fand ich ein Büchlein, dessen Autor gegen jenen eige
nen Denker heftig kämpfte und, um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenüber gesetzt hatte mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daß er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworfenheit im Angesicht trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen; denn der Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine vollkommene Frage, wobei mir denn jene Gegner einfallen mußten, die irgend jemand, den sie miẞwollen, zuvörderst entstellen und dann als Ungeheuer bekämpfen.... Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich soviel
schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.
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,, Zeitschrift für Deutschkunde", Verlag Teubner, LeipzigBerlin, Heft 3/1934. Artikelserie ,, Goethe in der neuen Schule", Artikel:„ Goethes Weltanschauung im deutschen Unterricht":
Da das Sein für Goethe nur als Leben zu fassen ist, so muß der Arbeitsunterricht darauf bedacht sein, das gegensägliche Verhältnis Goethes zu Spinoza herauszuarbeiten. Der Verlag Teubner ist einer der bedeutendsten Schulverlage des ,, dritten Reiches". Also scheint Goethe sich über seine eigene Weltanschauung gründlich getäuscht zu haben.