Völker in Sfurmzelfen Nr. 1

Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

Zum Beginn

Von heute ab wird die ,, Deutsche Freiheit" einem vielfach gehegten Wunsch ihrer Leser Rechnung tragen. Aus dem gewaltigen Schatze der bedeutendsten historischen Memoirenwerke und der Weltliteratur will sie in laufender Folge Kapitel auswählen und abdrucken, die durch Größe und Tragik des Stoffes Beziehung zum Geschehen unserer Zeit besitzen.

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Ganz von selbst stoßen wir dabei auf die Revolutionen der Menschheitsgeschichte. Es sind die Epochen des, Weitergehens", des Feuers in der Hingerissenheit; der Bewegung des Geistes, der nach Verwirklichung und Gestaltung sucht. ,, Politik" ist Schicksal: es atmet in Erlebnis, in der Erinnerung an die großen Ereignisse, in der Darstellung des Dichters.

Das ist der Ausgangspunkt. Wir beginnen mit dem Abdruck einer nahezu unbekannten Novelle von August Strindberg   aus seinen ,, Schwedischen Miniaturen": Gerichts­tage". Wir werden dann Bruchstücke aus den, Revolutionsnächten" von Rétif de la Bretonn e, und aus den Memoiren des Grafen von Barras über die Schreckenszeit sowie andere Dokumente ,, aus großen Tagen" veröffentlichen.

Dabei ist nicht etwa an eine lehrhafte historische Reihenfolge gedacht. Wir wollen daneben Beispiele bester deutscher   und auländischer Literatur abdrucken, vor allem Schöpfungen, die der Mehrzahl unserer Leser nicht leicht zugänglich sind.

Gerichtstage

Von August Strindberg  

In dem nördlichen Turm der Kirche Notre Dame de Paris  hatte der Turmwächter sein Zimmer. Es war aber zu einer Buchbinderwerfstätte eingerichtet, denn das Amt war am Tage nicht besonders drückend, und die Stunden der Nacht bergingen mit Schlaf oder ohne Schlaf, da sich niemand darum kümmerte, diesen jetzt überflüssigen Kirchendiener zu beaufsichtigen.

Niemand ging in die Kirche, die verschiedenslich beschädigt war, und niemand kam auf den nördlichen Turm hinauf, denn im südlichen hingen die Glocken, und dort wurde der Dienst etwas strenger genommen, denn bei allen außerordentlichen Gelegenheiten sollte die Sturmglode läuten.

Mit dem Glöckner auf dem südlichen Turm unterhielt der Wächter eine Art telegrafische Verbindung; bei ruhigem Wetter konnten sie auch miteinander plaudern; wenn es aber windig war, mußten sie Sprachrohre benutzen.

Die Werkstätte hatte sich im Laufe der Jahre zu einem sehr gemütlichen Raum entwickelt. Ihre südliche Seite nahm ein einziges großes Büchergestell ein. In rotem Maroquin mit Goldschnitt glänzte da die Enzyklopädie in der ersten Auflage 1751-80 mit ihren fünfundzwanzig Bänden. Dort standen Voltaire, Rousseau  , Montesquien, Locke  , Hume  , alle, die vorhanden sein mußten. Auch Zeitungen, Moniteur, Père Duchesne und Marats L'ami du Peuple. Diese letzte war in etwas fettiges Leder gebunden, das einer Schweineschwarte glich und sich geworfen hatte.

Eine andere Wand war mit Gravuren bekleidet, teils kolo­rierten, teils unfolorierten. Sie hingen in chronologischer Reihenfolge von links nach rechts, von oben nach unten, so daß man die ganze Revolution in Bildschrift sehen konnte. Schwur im Ballhaus am 20. Juni 1789 mit Mirabeaus Por­trät; Brand der Bastille und Kopf des Kommandanten; Ja­fobinerklub mit Marat  , Saint- Juste, Couthon  , Robespierre  ; Verbrüderungsfest auf dem Marsfeld; Flucht des Königs nach Varennes  ; Lafayette; Girondisten  ; Hinrichtung des Königs und der Königin; Wohlfahrtsausschuß   mit Danton  und dem ausgehedten Robespierre; Schreckensherrschaft; Charlotte Corday   tötet Marat   in der Badewanne; Robes­ pierre   noch einmal; Fest des höchsten Wesens; Voltaires   Be­gräbnis; Robespierre   wieder, jetzt am neunten Thermidor. Dann beginnt Bonaparte und das Direktorium, gemischt mit Pyramiden und Alpen.

Mitten im Zimmer stand ein sehr großer Tisch; auf der einen Seite befand sich das Werkzeug des Buchbinders und auf der andern Schreibzeug. Das Tintenfaß saß in einem Schädel, und das Lineal war ein Unterarm: der Briefbe­schwerer war eine Guillotine, der Federhalter eine Rippe. Der Buchbinder selbst, ein Hundertjähriger mit einem Apostelbart, saß und schrieb unter einer Paterne, die von der Decke hing. Niemand als er war im Zimmer zu sehen.

Draußen stürmte es und die Dachpfannen flapperben zu weilen; es war fühl im Zimmer, aber nicht kalt, denn ein Stamin brannte in einer Ecke, in der man die Gerätschaften des Turmwächters sah: ein großer Wolfspelz, ein Sprach­rohr, einige Flaggen und eine Laterne mit verschieden ge= färbtem Glas.

Der Alte schob die Brille auf den Scheitel, blickte auf und sprach, ohne daß man sehen konnte, mit wem:

"

Bist du hungrig?"

Eine Stimme hinter dem Büchergestell antwortete: Ziemlich!"

Frierst du?"

Nein, noch nicht!"

,, Warte noch eine Weile, ich muß gleich hinaus und eine Beobachtung machen."

,, Woran schreibst du?"

,, An meinen Erinnerungen!"

"

Ist es ruhig in der Stadt?"

Ja! Aber sie sind nach Saint- Cloud   hinausgezogen."

,, Dann kommt es bald zum Klappen!"

"

" Zum Klappen kommt es nicht, aber wir können eine Pro­klamation erwarten. Schweig jetzt, ich muß hinaus und tele= grafieren! Essen sollst du dann bekommen und auch etwas zu trinken, vielleicht auch eine Pfeife Tabak."

Es wurde still hinter dem Büchergestell, und der Alte zog den Pelz an, entzündete die vielfarbige Laterne, griff nach einem Sprachrohr und trat auf den Altan   hinaus.

Es war sehr dunkel, aber der Alte kannte seine Menagerie draußen auf der Balustrade; er liebte seine Steinungeheuer, die Eule, den Greifen, die Gorgo  , und er mußte sie jedesmal,

wenn er an ihnen vorbeiging, streicheln. Das Untier aber mit dem Körper eines Menschen, den Bocksfüßen und den Hör­nern auf dem Kopf flößte ihm etwas Respekt ein, wie es dort stand, auf die Hände sich stützend wie ein Priester, und, vorn= über geneigt, der gottlosen Stadt zu predigen oder Straf= gerichte auf sie herabzuschleudern schien. Neben ihm suchte er seinen Platz, als er mit der Laterne zu signalisieren an= fing. Aber der Wind war so heftig, daß der Alte schwankte und den dort" um den Leib sassen mußte, um sich fest= zuhalten.

Nachdem er eine Weile gestanden und mit der Baberne manövriert hatte, immer hinaus in den Raum spähend, rich­tete er sich plötzlich in die Höhe, ließ die Laterne fahren und setzte das Sprachrohr an den Mund. Sich an dem steinernen Geländer haltend, wandte er sich dem südlichen Turm zu und schrie:

Hallo, Francois! Hallo!"

Nach einer Weile antwortete die Stimme an de Dunkel: ..Qui vive!"

Mont- joie- Saint- Denis."

,, Sacre!" antwortete man von drüben.

Läute die große Glocke! Läute, der Tausend!"

Der Wächter blieb noch eine Weile stehen und betrachtete die gefärbten Lichter im Kirchturm von Saint- Clond, und um ganz sicher zu sein, wiederholte er das Signal, worauf er zur Antwort erhielt:

,, Richtig verstanden!"

Der Alte feufzte: Geschehe dein Wille, Herr des Himmels!" Darauf wollte er in die Turmfammer zurückkehren, aber im selben Augenblick faßte der Wind seine Kleider so heftig, daß er den Arm des Behörnten ergreifen mußte, um sich festzu­halten. Aber die Figur hatte sich gelockert, gab nach und machte eine kleine Bewegung.

Der auch!" sprach der Alte in seinen Bart. Nichts hält, alles gleitet fort, nichts bleibt, worauf man sich stüßen fönnte!"

Er hockte sich nieder, um nicht fortgeweht zu werden, und friechend erreichte er die Tür der Turmkammer, die er aufriß.

Die Revolution ist aus!" rief er dem Büchergestell zu. ,, Was sagst du?"

Die Revolution ist aus!

Treten Sie vor, Sire!"

Er faßte das Büchergestell an und drehte es wie eine Tür in ihren Angeln. Man sah einen kleinen hübschen Raum im Stil Ludwigs XV., und hervor trat ein dreißigjähriger Mann mit feinem, aber blaffem Gesicht und von traurigem Aus­sehen.

Sire," grüßte der Buchbinder demütig, ießt ist Ihre Zeit gekommen und meine geht zu Ende! Die Revolution ist aus! Was an diesem achtzehnten Brumaire in Saint- Cloud   ge= schehen ist, weiß ich nicht; eins aber weiß ich: Bonaparte ist ans Ruder gekommen!"

Jacques," antwortete der Edelmann, ich will deine Ge­fühle nicht verlegen, aber ich fann meine Freude nicht ver= bergen...."

Verbergen Sie sie nicht, Sire! Sie haben mich vom Schafott gerettet, und ich habe Sie gerettet: danken wir uns gegenseitig und lassen Sie uns quitt sein!"

Daß dieses blutige Spektakel zu Ende geht, daß diese Gemütskrankheit...."

Sire! Nicht so

Und seine Augen begannen zu funkeln. Darauf aber schlug er um:

Lassen Sie uns die letzte Mahlzeit zusammen essen, aber in Liebe wie Mitmenschen; lassen Sie uns von der Ver­gangenheit sprechen, um uns dann in Frieden zu trennen. Heute abend sind wir noch Brüder, aber morgen sind Sie der Herr und ich der Diener."

Du hast recht! Heute bin ich ein Emigrant, aber morgen bin ich Graf."

Der Alte setzte ein faltes Huhn vor, einen Käse und eine Flasche Wein, und die beiden nahmen Platz am Tisch.

Diese Flasche, Sire, ist Anno 89 abgezapft; sie hat eine Geschichte, und darum...."

Hast du keinen weißen? Ich kann den roten Wein nicht trinken."

,, Mögen Sie die Farbe nicht?" ,, Nein, ich sehe nur Blut! Söhne verloren..."

Du hast ein Weib und vier

Warum soll man darüber weinen! Sie fielen auf dem

Feld der Ehre...."

Tem Blutgerüй!"

Donnerstag, 23. August 1934

Ich nenne das Blutgerüst das Feld der Ehre!- Aber Sie wünschen weißen! Gut, Sie sollen ihn haben! Sie ziehen die Farbe der Tränen vor; ich die des Blutes!"

Er öffnete eine Flasche Weißwein.

" Suum cuique! Der Geschmack ist verschieden!- Wir fönnen also wieder atmen und nachts ruhig schlafen! Das war das Schwerste während dieses Jahrzehnts, das ver­gangen ist: der Verlust des Nachtschlafes. Die Furcht vorm Tod war schlimmer als der Tod!"

-

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war,

zu sehen, wie Staat und Gesellschaft auf den Kopf gestellt Das Schwerste für uns verzeih den Ausdruck wurden; wie die Roheit oben saß..."

Warten Sie! Ludwig XIV.   bezahlte zwei Kammerherrn zwanzigtausend Livres jährlich dafür, daß sie jeden Morgen

seinen hohen Nachtstuhl untersuchten und hinaustrugen; weiter in Roheit konnten die Sansculotten nicht gehen. Marie Antoinette   ging nachts mit Junggesellen aus und Vormittag erschöpft nach Hause kam; das war roh von so trank die Nacht durch, so daß sie um elf Uhr am folgenden

einer feinen Person!"

" Du darfst heute abend flunfern, Jacques, aber morgen nimm den Kopf in acht!"

Und wie ich im Gerichtssaal jaß, als die Königin eines unerlaubten Verhältnisses zu ihrem Sohn angeklagt wurde, glaubte ich nicht an die Anklage; später aber hörte ich... Ja, Sie wissen ja, wie die Mütter mit ihren Kindern spielen; es beginnt mit Spiel im Bett am Morgen, aber die Grenze ist unmerklich für den Lauf der Gefühle... und da der Dauphin selbst bekannt hat die Sache war wohl nicht ganz richtig!"

,, Nein, Ihr dürft nicht so sprechen von diesen hohen Per sonen, die den Märtyrertod gelitten haben...."

Salt, halt! Der König war, was man einen netten Sterl nennt, aber die Königin war ein Weibstück! Doch beide wur den gerechterweise zum Tode verurteilt, alle beide! Sehen Sie, wenn Turgot hätte bleiben können, wäre die Revolution nicht gekommen. Alle die Reformen in Staat, Kirche und dann Gesellschaft, die wir verzeihen Sie den Ausdruck durchgeführt haben, hatte Turgot auf seinem Programm. Die Königin, die es nicht leiden wollte, daß der Minister ihre Apanage beschränfte, intrigierte ihn fort; und der König half ihr dabei. Das war ein großes Verbrechen! Das zweite wat der Sturz Neckers. Dann regierte die Königin mit den Hof dirnen! Sowohl der König wie die Königin suchten den Aus länder gegen ihr eigenes Land zu erheben; der Briefwechsel in dieser Sache wurde gefunden, und damit waren die Ver­räter des Vaterlandes zum Tode verurteilt! Sprechen Sie nicht von Märtyrern, denn dann werde ich böse! Ich werde nämlich böse, wenn ich eine Lüge höre, und dann kann ich mich nicht mehr beherrschen."

Der Graf legte die Hand an den Degen.

Stecken Sie Ihr Schwert in die Scheide, junger Mana, sonst....

Sie saßen sich am Tisch gegenüber und sprühten Feuer übereinander.

Die Ursachen," fuhr der Alte fort, die fann man im Pa radies suchen, aber wir haben es hier nur mit den nächstent zu tun, und die kennen wir. Die Revolution war ein Jüngstes Gericht, das kommen mußte, ebenso wie es in Eng land kam, genau hundert Jahre vorher, auf den Punkt, 1689." Aber Cromwells Republik war nicht von Dauer!"

"

Das ist wohl diese auch nicht! Aber sie fommt wieder! Rassen Sie uns lieber von etwas Schönem sprechen, an die­sem letzten Abend. Ich habe alles mitgemacht, ich habe ein starkes Gedächtnis und kann nichts vergessen: was mir aber durch all die dunklen Tage hindurch scheint, das ist der Tag auf dem Marsfeld, das Verbrüderungsfest vom vierzehnten Juli Anno 90! Zwanzigtausend Arbeiter sollten das Mars feld roden; als sie aber bis zum festgesetzten Tag nicht fertig wurden, zog ganz Paris   hinaus. Da sah ich Bischöfe, Hof marschalle, Generale, Mönche, Nonnen, Damen der Gesell schaft, Arbeiter, Matrosen, Abfuhrleute und Dirnen, alle nebeneinander mit Hacke und Spaten den Boden ebnen. Und schließlich fand sich der König selbst ein, um an der Arbeit teilzunehmen! Das war die größte Nivellierungsarbeit, die die Menschheit ausgeführt hat; die Höhen wurden abge tragen und die Senkungen ausgefüllt. Schließlich war das große Freiheitstheater fertig. Auf dem Altar des Vaterlands wurden Feuer von wohlriechenden Holzarten angezündet. Talleyrand  , Bischof von Autun  , mit einem Gefolge von vier hundert weißgekleideten Priestern, weihte die Fahnen ein. Der König, in Zivilanzug, und die Königin saßen auf der Estrade, und die ersten Bürger des Staates" legten den Eid auf die Verfassung ab. Alles war vergessen, alles war ver ziehen. Eine halbe Million Menschen, auf einer Stelle ver sammelt, von einem Geist beseelt, fühlten sich an diesem Tag als Brüder und Schwestern. Wir weinten, wir fielen uns in die Arme, wir füßten uns. Wir weinten bei dem Gedanken, wie erbärmlich wir gewesen und wie gut und wohlwollend wir in diesem Augenblick waren. Wir weinten vielfach auch, weil wir ahnten, wie gebrechlich alles war. Und nachher am Abend, als Paris   auf Straße und Markt hinauszog! Die Familien aßen Mittag auf dem Trottoir; Alte und Kranke wurden unter freiem Himmel hinausgetragen; Speise und Wein auf Staatskosten verteilt. Das war das Laubhütten fest, die Erinnerung an die Auswanderung aus der ägyp tischen Knechtschaft; das war Saturns Fest, die Wiederkehr des goldenen Zeitaltera!... Und dann..." Ramen Marat, Danton   und Robespierre  . Ja! Robespierre  , der verhaßteste, war nich Ludwig XI.   und Heinrich VIII.  "

Ein Mörder...."

" Der Dichter ist nicht Mörder; und der Henfer auch nicht..."

Aber das goldene Zeitalter verging, wie es fam!" " Doch es kommt wieder." ,, Nicht mit Bonaparte!" ,, Nein, nicht mit ihm, abe Wer ist er?"

Fortean tolat