Freiheit
Nr. 195 2. Jahrgang
Seite 2
Die Saarregierung gegen den
Schimpfminister Goebbels
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Chefredakteur: M. Braun
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1915102A
Das Haus brennt
Rette sich, wer kann
„ Greuelmeldungen"
Das deutsche Volf erfährt nichts davon, daß der„ Führer" Hitler seine Begründung des Mordes an Schleicher, dieser habe mit Frankreich konspiriert, durch den deut: schen Botschafter in Paris am Quai d'Orsay de- und wehmütig hat zurücknehmen und sich und seine Presse hat entschuldigen müssen.
Ebenso wird die neueste Note der britischen Regierung an die Reichsregierung unterschlagen, in der sehr energisch um Bezahlung der 1 Million Pfund Sterling betragenden Warenschulden an englische Geschäftslente ersucht wird. Falls die Reichsregierung fich nicht zu sofortigen Verhandlungen herbeilasse, werde die britische Regierung Kampfzölle gegen den deutschen Import in Aussicht nehmen.
Die größte Automobilfabrik Deutschlands , die Opelwerke in Rüsselsheim , sind durch den Rohstoffmangel in ihrer Produktion so bedroht, daß sie mit einer Schließung des Betriebes im Herbst rech: nen, wenn sie nicht rechtzeitig durch entsprechende De: visenzuteilung Rohstoffe hereinnehmen können.
Die Siemenswerte stellen ihre Elektro: tabeln nur noch aus Aluminium her.
Die deutschen Frauen- Zeitschriften veröffentlichen genau wie im Kriege Küchenrezepte, die den äußersten Mangel als hygienischen Vorteil predigen. Muster davon werden wir noch bringen.
Bei den meisten deutschen 3ahnärzten ist es un möglich, Gold für Zahnplomben zu erhalten... In der Textilindustrie ist der Rohstoffmangel alarmierend. Um uns nicht dem Vorwurf der Uebertreibung auszuseßen, veröffentlichen wir folgendes uns in
Original vorliegendes Rundschreiben: Table ,, An die Herren Teppich- und Möbelfabrikanten"
Ich komme eben zurück von der Vertretersizung des Ueberwachungsausschusses für Wolle, in der der katastrophale Ernst im ganzen Wollgewerbe immer deutlicher zutage tritt, In den letzten Wochen hatte ich Gelegenheit, eine größere Reihe unserer Abnehmer zu sehen und war entsetzt über den Optimismus, der wegen der Wollversorgung überall herrscht. Dieser Optimismus basierte auf Mitteilungen unserer Herren Kollegen, die teils noch große Lager besitzen, teils noch große Rohstoffmengen abgeschlossen hatten.
Wie falsch diese Auffassung ist, mag aus folgenden Ausführungen hervorgehen, die ich nur in großen Zügen infolge meiner Schweigepflicht geben kann.
1. Ich bitte jeden, die Reichsbantausweise gründlich zu studieren, denn in denen liegt der Schlüssel zur ganzen Rohstoffrage. Sie werden daraus ersehen, daß der Devisenstand der Reichsbant gegenüber den Anforderungen gleich null ist.
2. Einzelne Zahlen darf ich nicht angeben, nur die effektiv befannten Zahlen, daß im Monat März die Devisenanforde rung für Wolle allein 52 Millionen betrug gegenüber 20 Milltonen in Normalzeiten. Die Anforderungen für Baumwolle find noch größer. Diese Steigerungen der Einfuhr basieren auf dem großen Arbeitsbeschaffungsprogramm der verschiedenen Bekleidungsarten, deren Herstellung ja nur suf& essive abgebaut werden soll.
3. Wäschereien, Kämmereien und Spinnereien haben, veranlaßt durch die Reichsbank, schon im vorigen Jahr auf Ziel gekauft. Die Devisenzuteilung ist auf 5 v. SH. ermäßigt wor den und es ist fraglich, ob sie in dieser Höhe weiter bestehen fann. Die Ausländer, von denen gestern wieder verschiedene Kommissionen in Berlin waren, haben deutlich erklärt, daß fie nicht gewillt sind, Deutschland weiter zu beliefern, ehe die Warenschulden bezahlt wären, auch in Deutschland befind liche Lager zu sperren oder zurückzurufen.
4. Diese Erklärung des Auslandes ist von entscheidender Bedeutung für alle unsere Firmen, die aus dem Ausland fertiges Garn beziehen, da die abgeschlossenen Verträge( auch bei uns liegen eine Reihe Käufe vor) nicht geliefert werden. 5. Die Konsequenz aus dem Vorhergesagten ist die Stredung der Arbeit. Schon gestern abend begannen die Verhandlungen mit den verschiedenen Ministerien, in welcher Höhe die Arbeitsstreckung vorgenommen werden muß. Die Meinungen waren noch geteilt. Die Reglung wird wahrscheinlich mit dem Erlaß 47 als Ergänzung des Erlasses 42 in den nächsten Tagen bekannt gegeben werden. Da
66 Immer noch 30. Juni
bei wurde sehr ernst die Weiterbeschäftigung der Angestellten besprochen.
Die Herren des Ministeriums baten, diese Frage nicht in diesem Gremium zu behandeln, sondern jeder Firma vorerst zu überlassen, eventuell mit dem Treuhänder der Arbeit zu verhandeln.
6. Wenn ich vorstehende Ausführungen zusammenfasse, so ist damit zu rechnen, daß wir in absehbarer Zeit keine Roh stoffe mehr bekommen, also sämtliche Firmen der Textilindustrie, sofern sie auf Wolle oder Baumwolle angewiesen sind, auf Liquidation arbeiten müssen, denn die Reichsbank, die wie bekannt schon starte Zahlungseinstellungen dem Ausland gegenüber durchgeführt hat, hat eindeutig erklärt, feinen Pfennig weiter für Devisen genehmigen zu wollen.
7. Den Herren Möbelstofffabrikanten, die am Eisenbahnplüschgeschäft dritter Klasse beteiligt sind, möchte ich mitteilen, daß auf Anforderung an Stoffen oder Wolle im Einverständnis mit dem Ministerium die Bewilligung rundweg abgelehnt wurde. Die Eisenbahn ist an die Reichsbank verwiesen worden, wo sie nach Ansicht der Sachverständigen auch keinen Erfolg haben wird, so daß anzunehmen ist, daß die Polsterung der dritten Wagenklasse zurückgestellt wird. 8. Den Herren möchte ich unter den vorstehenden Verhältnissen anheimstellen zu erwägen, ob es noch weiter ratsamt ist, in den gegen meine Intentionen geführten Ausgleichsverhandlungen die Preise auf Qualität zu bestätigen und nach... und Verkaufsmöglichkeiten durchzudrücken.
In einer Zeit, wo das Haus brennt, streitet man sich nicht um die Kosten einzelner Zimmereinrichtungen, sondern man rettet, was zu retten ist. Ich stehe rein persönlich auf dem Standpunkt, daß einstweilen die Verhandlungen abgebrochen werden und nur jedes Mitglied verpflichtet werden soll, seine noch vorhandenen Vorräte so vorteilhaft wie möglich zu verkaufen, also keine Unterbietung der jetzigen Preise vorzunehmen.
Während die Liquidation der... in der Wollindustrie dürfte sich dann Gelegenheit geben, neue Gedanken für Preisreglungen durchzuarbeiten und objektiver zu werten Soweit mein Bericht.
Mit follegialem Gruß!
Unterschrift.
Hutlosigkeit staatsgefährlich Nur im Strohhut ist die Arbeitsschlacht zu gewinnen
Berlin , 23. Aug. Die sächsische Landesfachgruppe Her renhüte und müßen im Reichsbund des Tertileinzelhandels veranstaltet laut ,, Konfektionär" in Abwehr der hutlosen Mode vom 17. September bis 4. Oftober einen großen öffentlichen Propagandafeldzug, der den ganzet Freistaat Sachsen erfassen und dazu beitragen soll, daß die rückläufige Umsaßtendenz der Herrenhutgeschäfte zum Stillstand gebracht wird. Der sächsische Wirtschaftsminister ent hat für die Werbung in Sachsen die Parole ausgegeben, daß jeder Volksgenosse, der eine Kopfbedeckung trägt, damit beweist, daß er die Arbeits= schlacht gewinnen helfe. Es sei beabsichtigt, den Werbefeldzug im Frühjahr nächsten Jahres für das ganze Reich zu wiederholen und dabei hauptsächlich der Strohhut industrie die notwendige Hilfsstellung zu geben. Nicht auf der Flucht erschießen!
Der preußische Innenminister hat jetzt bestimmt, daß das Taubenschießen, wenn dabei lebende Tauben als Ziel benutzt werden, nach den geltenden Bestimmungen des Tierschutzgesetzes verboten ist.
Für Marristen und Juden steht leider ein solches Verbot noch aus.
„, Ahnenpaẞ"
Der braunschweigische Finanzminister empfiehlt in einem Erlaß die Anschaffung eines sogenannten Ahnenpasses. Er solle die verschiedenen Dokumente zusammenfassen, die für den Nachweis der arischen Abstammung notwendig seien, wie er für bestimmte Berufszweige vorgeschrieben werde. Colonia docet
Das Plakat im Strandbad Marienburg- Poll( Köln ), welches sich gegen den Besuch nichtarischer Badegäste richtete, ist entfernt worden. Wie mitgeteilt wird, sind Maßnahmen getroffen worden, die es jedem ermöglichen, das Bad zu besuchen.
Bei 100 000 Nein- Stimmen wirfte das Plakat nur noch lächerlich.
Bisher unbekannte Morde
Auz Schlesien wird uns berichtet: Im Zusammens hang mit der Aktion vom 30. Juni wurde in Reichenbach ( Eulengebirge) der Besitzer eines großen Mühlenunterneh mens, Kommerzienrat Hilbert inn. in seiner Wohnung erschossen. H. gehörte zu den demokratisch oriens tierten Großindustriellen Schlesiens. Er war verheiratet mit einer Tochter des Grafen Scherr Thoß, der wiederholt sein Gut den nationalen Verbänden, Stahlhelm, Tan= nenbergbund und ähnlichen monarchistischen Organisationen als Uebungsfeld zur Verfügung stellte. Auch der Graf ift erschossen worden.
Ferner gehört zu den Toten des 30. Juni Erich Wag= ner, bekannt durch sein Attentat auf den sozialdemokra= tischen Redakteur Paeschke.
Wagners Ermordung ist deshalb besonders interessant, weil hier zum erstenmal bekannt wird, daß auch Mitglieder der berüchtigten Zelle G., d. h. der Feme organisation der NSDAP. , beseitigt wurden. Wagner, der durch seine Haltung vor dem Schweidniger Sondergericht Herrn Hit: ler und Herrn Himmler davor schüßte, daß sie wegen Anstiftung zum Mordversuch verhaftet werden konnten, wurde während des Prozesses von Hitler öffentlich durch Beförderung zum Truppführer, durch Ueberreichung eines Hitlerbildes und der zwei Bände des Hitlerwerkes„ Mein Kampf ", beides mit eigenhändiger Widmung des„ Führers" versehen, ausgezeichnet. Jetzt wurde er beseitigt, weil dieser Mitwisser unbequem war. Es lebt von den Haupts beteiligten zur Zeit nur noch der Graf Obernih, Gruppen= führer der SA. Frankens. Die übrigen, Heines, Hayn und Graf Spreti sind bekanntlich ermordet.
Man schreibt uns aus der Schweiz : Staatsmänner Europas !
Eure Vorgänger haben den blutigsten Krieg der bisherigen Geschichte zu verantworten. Wollten sie ihn? O nein, sie hofften, den serbisch- österreichischen„ Zwischenfall" zu„ lokalisieren". Sie, die in einem System von Bünden und Gegenbünden und sich kreuzenden„ Interessensphären" lebten, an denen sich automatisch, wie an einem fortlaufenden Bande der europäische Konflikt entwickeln mußte. Armes Europa , das diesen fahrlässigen Spielern ausgeliefert war und ist.
Denn auch ihr habt nichts gelernt. Nichts gelernt aus der Geschichte und jüngsten Entwicklung insbesondere. Jhr arbeitet mit Methoden aus der Zeit Hammurabis, bestenfalls Friedrichs des Großen. Ihr verlaßt euch auf Sicherheiten, Bündnisse, Verträge, Versprechungen, die immer wieder gesichert und ergänzt werden müssen. Ihr treibt eine Politik der kurzen Sichten in einer weit gewordenen Welt. Die Erde ist er schlossen widereinander, die Völker sinds. Jhr aber tut 10, als fäßet ihr noch auf dem Isolierschemel vergangener Jahrtausende.
Gewiß, ihr seid keine Eroberernaturen. Ihr wollt den Frieden, in eurer Mehrzahl. Ihr könntet den Weltfrieden, das Ende der Kriegszeiten erzwingen, wenn ihr einen wahren und uneigennützigen Plan des Friedens hättet. Nun ihr aber ihn nicht habt, doktort ihr an den Symp tomen des Völkerelends herum, statt an seinen Ursachen. Träumt ihr von Rüstungsbeschränkungen, die kein Mensch halten kann und halten wird, inmitten eines Systems plan- und hirnloser Politik von vorgestern. Und seid sehr erschreckt, wenn nun einer wie Hitler auftritt, der notorisch den Krieg will, als Dauerzustand der Menschheit ihn seiner Nation predigen läßt, und sich den Teufel schert um Moral und Recht im Innern, noch um eure guten Absichten.
Ganz recht so, möchte man sagen, wenn es nicht Europa und die Menschheit wären, um die es sich schließlich handelt bei dieser Art organisierten Banditentums. Ganz recht so, denn was war eigentlich Politik bisher 3um guten Teil anders, in den Absichten wie in den Methoden, als getarnte Räuberei? Das Geschwür im Leibe Europas , die Hitlerei, ist nur der endlich sichtbar gewordene Urgrund dieses Zustandes, rücksichtslos zu Ende gedachter und praktizierter Egoismus der Macht. Daß dieses Geschwür gerade in Deutschland aufbrach, erklärt sich aus der Tatsache, daß in diesem Mittellande alle Richtungen europäischen Lebens und Denkens sich sammeln und ins Extrem steigern. So auch der Faschismus.„ Die anderen Völker hängen auch, die Deutschen aber haben das Handbuch des Henkers erfunden," so ähnlich äußerte sich Benedetto Croce während des Krieges. Und wir sind schon wieder im Kriege.
Ja, wir sind im Kriege. Zerstört das kaum wieder er